Anett Ullrich beschreibt ihre Aufgabe mit einem einzigen Satz. "Meine Arbeit ist wie gelebte Mathematik: abstrakt, vorausschauend, logisch und am Ende konkret", sagt sie und schaut einen Moment sinnend in den Raum. Ihr Denken lässt sich nicht auf formale Begriffe reduzieren, die in der Fachwelt Katalogpflege, Erschließung oder Datenbanken heißen. In Wahrheit entwickelt sie Modelle. Anett Ullrich ist Bibliothekarin im Deutschen Bundestag, genauer: Leiterin des Sachgebietes "Elektronischer Formalkatalog und Normdateien". Sie pflegt zusammen mit ihren zehn direkten Mitarbeitern den elektronischen Katalog so, dass Bibliotheksbenutzer auch tatsächlich die benötigten Bände finden - und auch bei kniffeligen Fällen nicht "ohne Treffer" und ohne Bücher unter dem Arm wieder in ihre Abgeordneten-, Verbands- oder Redaktionsbüros zurück kehren - und das im Allgemeinen schon eine halbe Stunde nach der Bestellung.
Die Bundestagsbibliothek, die in der lichtdurchfluteten Rotunde des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses untergebracht ist, hat als Einzige in Deutschland ein anderes, eigenständiges Regelsystem für die Katalogisierung entwickelt. Im Fachjargon heißt es RAK-PB und ist unter Experten für seine Benutzerfreundlichkeit bekannt. Lediglich nach Eingabe eines Stichworts erscheint auf den Bildschirmen der Bibliothek, welche der 1,3 Millionen Bände juristischer Fachliteratur, politischer Untersuchungen, Wirtschafsliteratur oder Amtsblätter der Bundesrepublik in Frage kommen. Doch neben der umfangreichen politischen und Zeitgenössischen Literatur hält die Bibliothek fast zu allen Wissensgebieten auch Grundlagenliteratur bereit.
"Natürlich haben wir für fast jedes Thema Grundlagenliteratur. Wenn man etwas zu Atomforschung sucht, kein Problem", erzählt die Bibliothekarin. "Für mich ist es eine stets neue Herausforderung, die Katalogisierung so zu gestalten, dass möglichst viel Passendes gefunden wird", erzählt die 30-Jährige, die ihr Handwerk in München an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege gelernt hat. "Es war gut, mich nach dem Abitur in einer fremden Umgebung bewähren zu müssen", sagt die Sächsin, die bei ihrer Arbeit auch immer den Blick nach vorne richtet. Eine Bibliothek ist nur dann gut, wenn sie thematisch auch die Zukunft in den Regalen stehen hat und über die Technik verfügt, diese zu verwalten, erklärt sie. Aktuell haben einige Bibliothekare - insgesamt arbeiten 90 Mitarbeiter in der Bibliothek - durch Scannen mehrerer 100.000 Katalogkarten auch alte Bestände über den früheren Bundeskanzler Konrad Adenauer in eine maschinenlesbare Form überführt und so in den Online-Katalog eingespielt. In diesem Jahr jähert sich Adenauers Todestag zum 40. Mal und deshalb erwarten die Bibliothekare eine größere Nachfrage nach zeitgenössischen Quellen der 50er- und 60er-Jahre.
Ob auch Romane und Krimis in der Bibliothek des Deutschen Bundestages ausgeliehen werden? "Manchmal", verrät die Bibliothekarin. Einer der Autoren ist vielen Abgeordneten noch persönlich bekannt. Der ehemalige Chef des Bundeskanzleramtes unter Willy Brandt, Horst Ehmke, hat eine ganze Reihe Bücher veröffentlicht. Darunter finden sich so schöne Titel wie "Himmelsfackeln". Und ein Kanzler der Bundesrepublik ist darin Protagonist. Welcher, bleibt Ehmkes Geheimnis.
Die Kanzler- und Promidichte in der Bibliothek hat seit Verbreitung des Internets etwas abgenommen. Zu Bonner Zeiten - Anett Ullrich war damals mit 22 Jahren die jüngs- te Diplom-Bibliothekarin - kam der Kanzler öfter mal vorbei. Dort gab es einen Katalogschrank, der sehr hoch war. "Viele von uns konnten gar nicht mehr in das oberste Fach blicken", erinnert sich die zierliche Bibliothekarin. Helmut Kohl benutzte den Katalogschrank jedoch regelmäßig als Schreibunterlage. "Damals", so erinnert sich Anett Ulrich, "war Recherche sehr zeitaufwendig und mühselig." Egal ob für den Kanzler oder den Normalbürger. Heute genügt für eine Recherche in der nach Washington und Tokio drittgrößten Parlamentsbibliothek der Welt meist ein einziger Knopfdruck.