Seenot
Seit 1865 im Dienst: die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger
Es ist ein traumhafter Vormittag Anfang Mai: Die Sonne lacht, es ist angenehm warm, das Meer ist spiegelglatt; die Ostsee zeigt eine ihrer Schokoladenseiten. Träge dümpelt der zweimastige Rahseglers "Roald Amundsen" auf dem Wasser. Auf den ersten Blick wirkt die Szenarie wie ein friedliches Postkartenidyll.
Doch auf dem Oberdeck des Segelschiffs geht es reichlich turbulent zu. Die Besatzungsmitglieder übergeben einen Verletzen, der regungslos auf einer Trage liegt, an das Rettungsboot "Karl van Well", das längsseits des Seglers liegt. Herz-Kreislaufstillstand lautete die Diagnose des Rettungssanitäters. Ben Lodemann, Kapitän der "Roald Amundsen", beobachtet die Übergabe mit wachen Augen. Immer wieder blickt er auf seine Uhr. Im Maschinenraum seines Schiffes liegen zwei weitere Verletzte, die geborgen und abtransportiert werden müssen. Die Zeit drängt. Regelmäßig lässt er sich von einem Melder über den Zustand der beiden informieren.
Vor gut 50 Minuten hat sich der Unfall im Maschinenraum ereignet. Lodemann fordert über den für Notfälle reservierten UKW-Kanal 16 Hilfe bei der Seenotleitung in Bremen an. Von dort aus, dem Maritime Rescue Coordination Centre, kurz MRCC genannt, werden sämtliche Seenotrettungseinsätze in Nord- und Ostsee koordiniert. Bremen verständigt umgehend die nahe des Unfallortes gelegene Station der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) in Damp. Nicht einmal 30 Minuten später hat das Rettungsbot der "Karl van Well" die "Roald Amundsen" erreicht. Zwei weitere der kleinen, aber schnellen und wendigen Rettungsboote aus den Stationen in Laboe und Schilksee sind auf dem Weg.
Seit rund 140 Jahren sind Männer und später auch Frauen der DGzRS im Einsatz. 1865 gründete sie sich aus mehreren kleineren Rettungsvereinen in Kiel. Heute hat sie ihren Hauptsitz in Bremen. Mehr als 73.000 Menschen haben sie in den vergangenen eieinhalb Jahrhunderten aus Seenot oder anderen lebensbedrohenden Situationen auf der Nord- und der Ostee gerettet.
Im vergangenen Jahr rückten sie 2.000 Mal mit ihren Booten und den ungleich größeren Seenotrettungskreuzern von ihren 54 Stationen aus. Nicht immer sind es sinkende oder brennende Schiffe, denen sie zu Hilfe eilen müssen. Die Seenotretter übernehmen auch Krankentransporte von Inseln und Halligen aufs Festland, schleppen hier eine Yacht mit Motorschaden in den nächsten Hafen und helfen an anderer Stelle bei der Suche eines auf See Vermissten. Auf rund 1.000 Seenotretter kann die Gesellschaft zurückgreifen. Fest angestellt sind jedoch gerade mal 185 von ihnen - die große Mehrheit verrichtet ihren Dienst an Bord der 61 Kreuzer und Boote zwischen Borkum im Westen und Ueckermünde im Osten ehrenamtlich.
Und ein weiterer Umstand ist bemerkenswert: Die DGzRS übernimmt zwar ganz offiziell die internationale Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Suche und Rettung auf See, staatliche Unterstützung kassiert sie dafür aber nicht. Die Gesellschaft finanziert sich auschließlich aus Spenden, Mitgliedsbeiträgen und Sammelaktionen. Immerhin, der jeweils amtierende Bundespräsident ist Schirmherr der Lebensretter. Auch als Anerkennung für Menschen, die ihr Leben für andere rsikieren. 45 von ihnen kamen seit 1865 nicht mehr von See zurück.
Auf der "Roald Amundsen" blickt Ben Lodemann entpannt auf seine Uhr. Das Rettungsboot "Bottsand" hat gerade mit dem dritten Verletzten abgelegt. Alle drei sind medizinisch versorgt und werden überleben. Kein Wunder, schließlich waren es - diesmal - nur "Simulanten" in einer Übung, die den Seenotrettern ihr Leben zu verdanken haben.