Seehandel
Der Transport von Menschen und Waren über die Ostsee boomt. Doch der wirtschaftliche Aufschwung hat auch seine Schattenseiten.
Für Ilija Batljan ist die Sache klar. "Hier muss ein neuer Hafen hin", sagt der Kommunalpolitiker aus dem schwedischen Nynäshamn und sein Blick schweift in die Ferne. Dort drüben, so meint man in seinen Augen lesen zu können, dort drüben liegt die Zukunft. Und man glaubt, er sieht am Horizont bereits die Wiedergeburt der im Mittelalter so erfolgreichen Hanse. Damals hatten sich Kaufleute aus den nordeuropäischen Hafenstädten mit dem Ziel zusammengeschlossen, den grenzüberschreiten- den Handel auszubauen.
Nynäshamn südlich von Stockholm direkt an der schwedischen Ostseeküste macht sich Hoffnungen auf den Bau eines der größten schwedischen Umschlaghäfen. Mit dem 1,7 Milliarden Kronen-Projekt (rund 185 Millionen Euro), so hofft Batljan, kann seine Stadt ein ordentliches Stück vom Kuchen des ständig wachsenden Ostseehandels abbekommen. Noch ist das ehrgeizige Projekt nicht in trockenen Tüchern, da sich auch andere Städte an der schwedischen Ostküste um den Hafen bemühen.
Das wachsende Interesse an maritimer Infrastruktur trägt einen Namen: die Osterweiterung der Europäischen Union. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem EU-Beitritt der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauens sowie Polens haben sich die Warenströme auf dem Mare Balticum deutlich erhöht. Und nicht nur sie: Auch der Passagiertransport schreibt seitdem Jahr für Jahr neue Rekorde. Waren es zunächst hauptsächlich trinkfeste Nordeuropäer, die die Schnapsidee vom billigen "Sprit" im Osten in die Tat umsetzten, entdecken auch immer mehr West- und Südeuropäer die kulturellen Schätze, die im Baltikum und Polen verborgen sind.
Der absolute Marktführer auf der Ostsee ist die estnische Reederei Tallink. Vor einem Jahr übernahm die bis dahin von der Konkurrenz nicht richtig ernst genommene estnische Reederei den großen finnischen Rivalen Silja Line. Nunmehr heißt der neue Konzern Tallink Silja und betreibt mit insgesamt 21 Schiffen sieben Routen zwischen Finnland, Schweden, Estland, Lettland und Deutschland. Zum Vergleich: Die erst kürzlich von ihren dänischen und deutschen staatlichen Besitzern verkaufte Scandlines läuft mit nur 13 Fähren und Frachtern gerade einmal zwei Häfen im Baltikum und einige in Skandinavien an.
Vielen kleinen Fährredereien aus Finnland, Schweden und den baltischen Ländern fällt es zunehmend schwerer, sich gegen die Großen der Branche durchzusetzen. Reedereien wie Birka Line oder Baltic Scandinavian Line kämpfen um ihr Überleben: Diese Gesellschaften operieren mit nur einem Schiff auf einer Strecke. Tallink Silja hat nach eigenen Angaben einen Marktanteil von 49 Prozent bei den Gütertransporten über die Ostsee, bei Passagieren dürfte die Position ähnlich stark sein. Insgesamt werden allein in der nördlichen Ostsee rund 17 Millionen Passagiere und etwa 750.000 Lkw dieses Jahr befördert.
Und immer wieder entdecken die Reedereien neue Routen: Mittlerweile gibt es keinen Ostsee-Anrainer, der nicht von Passagier- und Autofähren angelaufen wird. Allein auf den Strecken von Finnland ins Baltikum und von Schweden nach Polen können sich die Reedereien über jährliche Wachstumsraten von rund 20 Prozent freuen. Auch neue Strecken von Deutschland nach Polen und in die baltischen Länder erfreuen sich zunehmender Beliebtheit, zumal die Fähren immer luxuriöser werden und eher an Einkaufsparadiese und Schlemmertempel als an Fortbewegungsmittel erinnern.
"Es sind immer weniger, aber dafür größere Akteure auf der Ostsee unterwegs", sagt Niklas Bengtsson, Schifffahrt-Analyst bei Lloyd Register Fairplay Research. Zudem bauen viele Reedereien ihre Kapazitäten für Warentransporte aus. Kein Wunder, boomt doch gerade dieser Bereich. Deshalb, so Lennart Nilsson vom schwedischen Analyse-Institut der Schifffahrt, benötigen die Reedereien ständig neue Schiffe, die besser für den Waren- und Lkw-Transport geeignet sind. Besonderer Bedarf besteht an einem Ausbau der Tankerflotte in der Ostsee.
2001 weihte der russische Präsident Wladimir Putin persönlich den Ölhafen Primorsk ein. Von hier, tief im finnischen Meerbusen nahe der Metropole St. Petersburg, will Russland einen Großteil seiner Ölexporte in Zukunft abwickeln. Im Einweihungsjahr wurden über den Ölhafen gerade einmal zwölf Millionen Tonnen Rohöl verschifft; im vergangenen Jahr waren es bereits 75 Millionen Tonnen. Und Ende 2008, so hofft man in Primorsk, sollen es 120 Millionen Tonnen sein. Umweltschützer sehen das rasante Wachstum der russischen Ölexporte über die Ostsee allerdings mit großer Skepsis. "Es ist nicht mehr die Frage, ob ein Unglück geschieht, sondern wann", heißt es im finnischen Umweltschutzministerium.
Einen Vorgeschmack auf die lauernden Gefahren bekam Finnland bereits in den vergangenen Wintern zu spüren. Mehrere, in die Jahre gekommene russische Öltanker blieben im Eis stecken, eine drohende Öl-katastrophe durch die den Schiffsrumpf bedrohende Eismassen konnte nur durch das schnelle Einschreiten finnischer Eisbrecher verhindert werden. Zwar hat Russland zugesagt, künftig Doppelrumpftanker auf dieser gefährlichen Route einzusetzen, doch Umweltschutzorganisationen zweifeln an der rechtzeitigen Umsetzung.
In Finnland mahnt das Forschungsinstitut der Wirtschaft, Etla, seit längerem vor dem unbändigen Wachstum der Öltransporte über die Ostsee. Forschungschef Hannu Hernesniemi forderte kürzlich die finnischen Reedereien auf, endlich ihre Blicke Richtung Osten zu lenken. "Die Ostsee ist eine der weltweit am schnellsten wachsenden Transportregionen", so der Experte. Er vergleicht die Region mit ihren rund 85 Millionen Einwohnern mit den Wachstumsmotoren in Südostasien. Bislang, so seine Kritik, hätten viele westliche Reedereien den Trend verschlafen.
Während sich in der nördlichen Ostsee das meiste um das schwarze Gold aus dem Osten und den Kreuzfahrt-Tourismus dreht, haben die südlicheren Häfen andere Prioritäten. Gerade haben sich Ostseehäfen in Deutschland, Litauen, Polen und Schweden zusammengeschlossen, um gemeinsam ihre Investitionen in den Ausbau der Anlagen zu koordinieren. Hintergedanke der neuen grenzüberschreitenden Kooperation sind auch EU-Mittel. Rund 300 Millionen Euro will Brüssel für neue Transportwege auf der Ostsee, im westlichen und östlichen Mittelmeer sowie im Atlantik als Investitionshilfen bereitstellen. Geld, auf das auch Ilija Batljan, der Kommunalpolitiker aus Nynäshamn hofft. Eine Entscheidung wird nicht vor kommendem Jahr fallen. Solange darf Batljan auf jeden Fall noch von der neuen Hanse träumen.
Der Autor ist Nordeuropa-Korrespondent für das "Handelsblatt" in Stockholm.