Überdüngung
Zu viele Nährstoffe belasten die Ostsee - Hauptverursacher ist die Landwirtschaft
Unter dem schleimigen Algenteppich schwappt das Meer träge auf und ab, tote Fische treiben an der Wasseroberfläche und es stinkt erbärmlich nach faulen Eiern. Was nach einem Horrorszenario klingt, ist leider in einigen Bereichen der Ostsee schon Realität geworden. So kippte beispielsweise im Sommer 1997 im dänischen Nordjütland ein ganzer Fjord um - mit genau diesen Folgen.
Der faulig riechende Schwefelwasserstoff treibt nicht nur der Tourismusbranche Tränen in die Augen, auch Anwohner, Wissenschaftler und Politiker sind fassungslos. Eine Umweltexpertengruppe der schwedischen Regierung schlug bereits vor zwei Jahren in der überregionalen Tageszeitung "Göteborgs-Posten" Alarm: "Trotz jahrzehntelanger politischer Initiativen und Umweltinvestitionen ist die Ostsee offenbar nicht mehr in der Lage, die Überdüngung und den Sauerstoffmangel zu bewältigen. Diesen Zustand zu beheben dürfte schwerer sein, als wir bisher geglaubt haben."
Meeresforscher verstehen unter Nährstoffen dasselbe wie Gärtner oder Landwirte: Es sind wasserlösliche Stickstoff- und Phosphatverbindungen, die das Pflanzenwachstum ankurbeln. Im Meer steigern hohe Nährstoffkonzentrationen die Produktion von Algen und Plankton. Wenn im Frühjahr das Licht intensiver wird und die Temperaturen steigen, beginnt das pflanzliche Plankton zu wachsen. Die einzelligen Algen vermehren sich so lange, bis keine Nährstoffe mehr vorhanden sind und dienen dem tierischen Plankton als Nahrung.
Diese Entwicklung muss nicht unbedingt schlecht sein, da viel Nahrung auch zu Fischreichtum führen kann. Bei einem Überangebot an Nährstoffen stirbt jedoch ein Teil dieser Planktonblüte ungenutzt ab, sinkt zu Boden und wird dort von Bakterien abgebaut. Zu Beginn dieser Zersetzungsprozesse sind Mikroorganismen aktiv, die Sauerstoff benötigen. Haben diese allen Sauerstoff verbraucht, übernehmen andere Bakterien den Abbau, die unter anderem den giftigen Schwefelwasserstoff produzieren. Sauerstoffmangel und Schwefelwasserstoff führen schließlich zum Tod aller höheren Lebewesen; Muscheln, Würmer und Fische sterben ab. Das Gewässer ist "umgekippt".
In der Ostsee nehmen Anzahl und Größe der Bereiche, die von akuter Sauerstoffarmut betroffen sind, seit den 70er-Jahren beständig zu. "Dieses Jahr ist die Ausdehnung dieser anoxischen Zonen ganz bedrohlich, da es sehr warm ist. Im Golf von Finnland wird das bereits massiv sichtbar", sagt Maren Voss. Die Meeresbiologin leitet am Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde die Arbeitsgruppe zum Marinen Stickstoffkreislauf. Ob die Prozesse, die durch die Überdüngung in Gang gesetzt werden, reversibel sind, wissen die Wissenschaftler noch nicht. "Wenn die betroffenen Flächen nicht zu groß sind und nicht zu häufig anoxische Bedingungen auftreten, dann vielleicht", vermutet Voss.
Aber die Meeresforscher konnten in dem komplexen Ökosystem der Ostsee in den vergangenen Jahrzehnten einige Entwicklungen verfolgen, die sie so nicht erwartet hätten - zum Beispiel, was die Fischbestände angeht. Während die Zahl der kleinen Schwarmfische wie Sprotte und Hering mit den steigenden Nährstoffgehalten erwartungsgemäß zunimmt, leidet der Dorsch, obwohl potenzieller Räuber dieser Schwarmfische, unter der Entwicklung. "In der Ostsee kann man die sinkenden Dorschbestände nicht der Fischerei anlasten, sondern der steigenden Überdüngung", sagt Christopher Zimmermann, der an der Bundesforschungsanstalt für Fischerei im Institut für Ostseefischerei tätig ist.
Der Dorsch laicht in Bodennähe und braucht Wasser mit einem bestimmten Salz- und Sauerstoffgehalt. In der Ostsee ist der Salzgehalt abhängig vom Einstrom des Nordseewassers. Da Salzwasser schwerer ist als Süßwasser, füllt es zunächst die tiefen Becken der Ostsee. Das sind die Laichplätze der Dorsche, aber gleichzeitig auch gerade die Bereiche, die schnell anoxisch werden. "Und wenn die sauerstoffarmen Bereiche immer größer werden, weiß der Dorsch nicht mehr wohin mit seinen Eiern", erläutert Christopher Zimmermann. Hinzu kommt, dass die großen Sprotten beginnen, den Dorschlaich zu fressen und so die Nahrungskette auf den Kopf stellen. "Die Sprotte, eigentlich Beute des Dorsch, schädigt ihren Räuber. Das ist eine ganz unerwartete und erstaunliche Entwicklung", betont der Fischereiexperte.
Verantwortlich für die steigenden Nährstoffgehalte in der Ostsee ist in erster Linie die Landwirtschaft. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird in den Industrieländern Kunstdünger in so großen Mengen eingesetzt, dass die Böden viel zu viel Stickstoff enthalten. Dieser wird zum großen Teil ausgewaschen und gelangt über die Flüsse in die Meere. Während die Oder im Jahr 1950 noch etwa 10.000 Tonnen Stickstoff pro Jahr mit sich führte, sind es heute über 70.000 Tonnen. Und nicht nur die Oder hat sich so verändert. In allen Zuflüssen ist der Nähr-stoffgehalt gestiegen, so dass heute bis zu eine Million Tonnen Stickstoff pro Jahr in die Ostsee transportiert werden.
An zweiter Stelle sind die Blaualgen zu nennen, die über einen besonderen Stoffwechsel verfügen und Luftstickstoff aufnehmen können. Bei ihrem Abbau düngen sie die Ostsee auf natürliche Art; das macht im Jahr 300.000 bis 400.000 Tonnen Stickstoff aus. Limitierender Wachstumsfaktor für die Blaualgen ist unter anderem Phosphat, dessen Konzentration ebenfalls angestiegen ist. "Aber ob die Blaualgen aufgrund der Überdüngung in ihrer Häufigkeit in den letzten hundert Jahren zugenommen haben, ist noch umstritten", sagt Maren Voss.
Drittgrößte Quelle sind die Niederschläge. Die Abgase von Autos, Haushalten, Industrie und Gülletanks enthalten stickstoffhaltige Verbindungen, die mit dem Regen ausgewaschen werden. Rund 200.000 Tonnen Stickstoff gelangen so pro Jahr in die Ostsee. An vierter Stelle werden so genannte Punktquellen wie beispielsweise Klärwerke genannt, die mit etwa 100.000 Tonnen Stickstoff pro Jahr zu Buche schlagen.
Ein Bewusstsein für die Probleme, die durch hohe Schadstoff- und Nährstoffeinträge verursacht werden, wuchs erst in den 70er-Jahren heran und führte 1974 zur Gründung der Helsinki Kommission (Helcom). Diese zwischenstaatliche Organisation basiert auf einer engen Kooperation aller Anrainerstaaten und erstellte 1992 eine Konvention zum Schutz der Ostsee. Darin wurde unter anderem verbindlich vereinbart, die Stickstoff- und Phosphateinträge zu halbieren. Die 132 größten Quellen besonderer Belastung durch Industrie oder städtische Abwässer sollten durch den Bau von Klärwerken gezielt eliminiert werden.
Anfang der 90er-Jahre gingen die Nährstoff-einträge langsam zurück. Das war aber kein Grund zur Entwarnung. "Dieser Einbruch fällt in die Wendezeit und ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass die Landwirtschaft in den neuen Bundesländern zum Erliegen kam", so Maren Voss. Jetzt steigen die Nährstoffeinträge in den Flüssen wieder an, ein Rückgang ist nicht zu erwarten. "Ich bin da relativ pessimistisch", sagt die Stickstoffexpertin. "Man muss vor allem in der Landwirtschaft umsteuern, also die Bauern mit ins Boot holen. Das heißt weg von der intensiven Bewirtschaftungsweise."
Das würde aber bedeuten, weniger zu düngen und auf eine extensive Viehhaltung umzustellen. "Manche Landwirte bringen ihre Gülle auch schon mal bei gefrorenem Boden aus, das Zeug muss ja weg", sagt Voss. In solchen Fällen wird die Gülle fast vollständig in die Flüsse geschwemmt und gelangt direkt ins Meer. Langfrist rechnet die Meeresbiologin sogar mit steigenden Nährstoffeinträgen. Mit ihrem EU-Beitritt 2004 werde der Lebensstandard in Polen und den baltischen Staaten weiter steigen. "Und das geht in den neuen EU-Ländern einher mit einer Intensivierung der Landwirtschaft. Das bedeutet: mehr Dünger, mehr Fleisch, mehr Gülle", schätzt Maren Voss die Lage ein.
Neben der Extensivierung der Landwirtschaft könnten auch wasserbauliche Maßnahmen helfen, die Nährstofffrachten der Zuflüsse zu verringern. In mäandernden Flüssen, die langsam fließen und von Überschwemmungsgebieten gesäumt sind, werden durch biologische Prozesse Stickstoffverbindungen und organisches Material abgebaut und es gelangen weniger Nährstoffe ins Meer. Positiver Nebeneffekt: So ließe sich auch die Hochwasserproblematik in den Griff bekommen.
"Vor allem brauchen wir bei allen Lösungsansätzen viel Geduld", mahnt Maren Voss. "Man darf nicht darauf schielen, sich bereits im nächsten Jahr mit positiven Zahlen schmücken zu können." Die Böden sind so voll gepumpt, dass es Jahre dauern wird, bis der positive Effekt einer Maßnahme messbar wird. Wissenschaftler der EU-Kommission präsentierten kürzlich einen Atlas über die Nährstoffgehalte der Böden in den Mitgliedstaaten. Die intensiv genutzten Gebiete Norddeutschlands zählen zu den Bereichen mit der höchsten Nährstoffbelastung in Europa. Eine Amtsperiode reicht da sicher nicht, um die fortschreitende Überdünung aufzuhalten.
Die Autorin ist Biologin und arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin in Braunschweig.