Landschaftswandel
Klimatische Veränderungen lassen sich an der Ostsee und ihren Küsten hervorragend ablesen - manchmal innerhalb eines Jahres
Seit Millionen von Jahren drücken Kräfte aus dem Erdinneren Teile Europas in die Höhe, beispielsweise die Alpen. Andere Teile sinken ab: das Land zwischen den Mittelgebirgen und Skandinavien. In die sich auftuende Senke drangen immer wieder Meeresarme vor.
In den vergangenen zwei Millionen Jahren wandelte sich das Klima mehrmals erheblich: Warme Phasen wechselten mit kälteren, in denen die Temperaturen gut zehn Grad niedriger lagen als heute. In den kalten Phasen, den Eiszeiten, bildeten sich vor allem im Norden große Eismassen. Der Spiegel der Weltmeere sank, große Mengen Wasser waren im Eis gebunden.
Eis hat ein enormes Gewicht: Die Gletscher drückten das Land unter sich in die Tiefe. Und Eis hat eine enorme Kraft: Die Gletscher setzten sich in Bewegung und hobelten die Landmassen unter sich ab. Messerscharfes Eis schnitt ganze Felsbrocken aus den skandinavischen Gebirgen. Die Gletscher fraßen sich in den Untergrund und schufen östlich von Schweden tiefe Becken der heutigen Ostsee. Mehrfach bildeten sich Gletscher neu, immer wieder dehnten sie sich aus, verschoben Gestein und lagerten es in der Senke zwischen Nord- und Mitteleuropa ab. Allmählich sammelten sich nördlich der Mittelgebirge gewaltige Massen lockerer Ablagerungen an, die weltweit ihresgleichen suchen. Die Gletscher bildeten auch die jütische oder dänische Halbinsel. Dieser "Schuttwall" trennt heute die Ostsee von der Nordsee.
In jeder warmen Phase taute das Eis, und Wasser füllte die Meeresbecken. Es drang bis an die Ränder der eiszeitlichen Schuttberge vor. Viel Schmelzwasser sammelte sich in den tiefen Becken der Ostsee. Sie liefen schließlich über; es entstanden Abflüsse von den Schmelzwasserseen zur Nordsee, und sie gruben mit ihrer Strömung tiefe Rinnen in den sandigen Untergrund. Durch diese Rinnen drang später das salzhaltige Wasser aus der Nordsee in die Ostsee ein und mischte sich mit dem dortigen Süßwasser. So bildete sich die weltweit größte Menge an Brackwasser. Etwas mehr Salz ist im Wasser der südwestlichen Ostsee enthalten, weil sie an die Nordsee grenzt; die Salzkonzentration im Norden des Meeres ist erheblich geringer.
Doch während der Warmzeit ändert sich im Ostseeraum nicht nur der Wasserstand. Allmählich erhebt sich auch das vom Eis entlastete Land aus dem Untergrund. Es gibt Gegenden in Skandinavien, die seit dem Ende der letzten Eiszeit vor etwas mehr als 10.000 Jahren um mehr als 300 Meter in die Höhe stiegen. Das Eis ist zwar schon längst abgeschmolzen, aber der Hebungsvorgang des Landes dauert noch an: Neue Inseln entstehen, dann tauchen auch die Senken zwischen ihnen aus dem Meer auf, und aus früheren Inseln werden Hügel und Berge.
Wie hoch die Ostsee das Land um sich überflutet, hängt vom Klima ab. Und die Ostsee kann auch Witterung und Klima weiträumig beeinflussen. Wenn viel Salzwasser aus der Nordsee eindringt, bildet sich seltener eine winterliche Eisdecke im Bottnischen und Finnischen Meerbusen. Wenn dagegen der Salzgehalt gering ist, friert das Meer eher zu. Schnee bleibt auf dem Eis liegen. Vom Schnee strahlt die Wärme genauso stark ab wie von einem Stück schneebedeckten Festlandes. Dann dringen die winterlichen Hochdruckgebiete mit ihrer kalten Luft aus Sibirien weit nach Westen vor. Im Ostseeraum weiß man: Wenn große Teile des Meeres im Winter zufrieren, kommt das Frühjahr später als sonst. Die Mengen an einströmendem Salzwasser und die Ausdehnungen der Eisdecken schwanken von Jahr zu Jahr -und auch in größeren Zeiträumen.
Während das Land im Norden des Ostseeraumes noch immer aufsteigt, sinkt es im Süden leicht ab, denn die zähflüssige Masse im Erdinneren strömt allmählich aus dem Süden in den Norden. Dänemark, Deutschland, Polen und die Länder im Baltikum werden Jahr für Jahr kleiner, weil die Steilküsten der Ostsee abbrechen. Dafür ist aber weniger das Absinken der Erdoberfläche verantwortlich als vielmehr die Tatsache, dass die eiszeitlichen Ablagerungen so locker sind. Wenn das Wasser - vom Ost- oder Nordwind angetrieben - an den Fuß einer Steilküste vorstößt, kann ein Stück Land abrutschen.
Das Meer allein lässt die Küsten aber nicht zurückweichen. Tiere graben Löcher und Gänge in das lockere Sediment, und Pflanzen treiben ihre Wurzeln tief in den Untergrund. Wenn Regenwasser nachläuft, ist der Landabbruch nicht mehr aufzuhalten. Das sich im Winter bildende Eis dehnt sich aus und sprengt ein Stück Küste ab. Steine und Sand fallen auf den Strand, werden vom Meerwasser aufgenommen. Wenn im Winter besonders viele milde und kalte Phasen abwechseln, brechen besonders viele Küstenstücke ab.
Die Kreidefelsen von Rügen und Møn sind nicht wesentlich stabiler. Kreide ist wasserlöslich. Wenn in ihren Klüften Wasser gefriert und wieder auftaut, werden Felsen gesprengt: So verschwanden vor wenigen Jahren die berühmten Wissower Klinken auf Rügen.
Immer wieder versank Land an der Ostsee. Überall an der südlichen Ostseeküste erzählt man sich Sagen von untergegangen Siedlungen: Am bekanntesten ist wohl die Geschichte von Vineta, der in der Ostsee versunkenen Stadt.
Wenn Küsten abbrechen, bildet sich an anderer Stelle neues Land. Dies ist ein weiterer komplizierter Vorgang, der sich an der Ostsee jederzeit vor unseren Augen abspielt. Nach einem Küstenabbruch bleiben Felsbrocken und schwere Steine am Strand liegen. Das Wasser kann sie nicht bewegen. Die steinigen Strände unter den Steilküsten sind bei Badegästen nicht beliebt. Und tatsächlich sollte man diese Strandstücke meiden. Jederzeit kann neues Gesteinsmaterial nachbrechen.
Das Meerwasser nimmt den leichten Sand aus dem abgebrochenen oder abgerutschten Material mit sich. Die Wellen treiben den Sand von der Küste weg und wieder zurück. Die ins Meer zurücklaufenden Wellen treffen sich mit anderen, die auf die Küste zurollen. Wo sich die Wellen brechen, erlahmt die Wasserkraft. Der Sand sinkt zu Boden und bildet ein Sandriff. Riffe verlagern sich von Zeit zu Zeit. Für die Schifffahrt ist dies eine große Gefahr; immer wieder stranden Boote darauf. Sie setzen sich im Sand fest und werden von den Wellen nach allen Seiten geschleudert. Bei Sturm werden die Wracks rasch in Stücke geschlagen.
Der Sand der Riffe wird weiter an der Küste entlang bewegt. Dafür sorgen die Wellen, die nie genau gerade auf die Küste zulaufen, sondern schräg; und sie laufen auch schräg wieder ab. Ein Teil des Wassers mit dem darin transportierten Sand bewegt sich im Zickzack zwischen Spülsaum und Riff hin und her. Das Riff wird länger, es kann Meeresbuchten hinter sich abschneiden. Auf diese Weise entsteht ein Haff, das noch mit dem Meer verbunden ist, oder sogar ein völlig vom Sand umschlossener Strandsee.
Die Sandablagerung kann über den Meeresspiegel hinauswachsen und abtrocknen. Dann wird der Sand zum Spielball des Windes. Dünen können viele Meter hoch werden; Dünengras hält sie fest. Dünen sind ebenso instabile Gebilde wie die Riffe. Sie werden abgetragen und neu geformt. Aber eine Nehrung mit ihren Dünen kann ein Stück Küste hinter sich vor der Brandung schützen, fast wie ein natürlicher Deich.
Wenn der Meeresspiegel wegen der prognostizierten Klimaänderungen in den nächsten Jahrzehnten weiter ansteigt, werden die Ostseewellen häufiger an den Fuß der Steilküsten vorstoßen. Der Küstenabbruch wird sich beschleunigen, aber auch die Neubildung von Riffen und Nehrungen. Langfristig könnten sich bestehende Nehrungen allmählich weiter in Richtung Binnenland verlagern und dann dort die Küstenlinie schützen.
Steigt der Meeresspiegel, dringt auch mehr Salzwasser in die Ostsee ein. Es bildet sich seltener eine Eisdecke, winterliche Kältehochdruckgebiete werden ferngehalten, der Klimawandel könnte sich dadurch beschleunigen. Aber welchen Einfluss wird das auf die Regenmengen haben, die im Ostseeraum fallen werden? Das zu wissen wäre wichtig, denn das meiste Wasser in der Ostsee stammt nicht aus den Weltmeeren, sondern fällt als Regen auf das Meer und seine Umgebung.
Die dynamische Veränderung von Ökosystemen spielt sich im Ostseeraum seit Jahrtausenden ab. Das lässt sich wunderbar beobachten: Wer die Ostsee häufig besucht, kommt mal an einen breiteren, mal an einen schmaleren Strand. Dieser Wandel ist natürlich. Er spielt sich mit und ohne Klimawandel ab. Allerdings kann sich der Landschaftswandel beschleunigen - wenn es wärmer wird.
Der Autor ist Professor für Pflanzenökologie am Institut für Geobotanik der Leibniz Universität Hannover.