Online-durchsuchung
Karlsruhe steht vor einer Grundsatzentscheidung
Das Bundesverfassungsgericht, diese Prognose wird man nach der Anhörung zur Online-Durchsuchung am 10. Oktober wagen dürfen, steht vor einem grundlegenden Urteil zum Schutz der Privatsphäre im digitalen Zeitalter. Dabei ist fast schon nebensächlich geworden, dass dabei der eigentliche Verfahrensgegenstand - das nordrhein-westfälische Verfassungsschutzgesetz - wohl auf der Strecke bleiben wird. Zu vage gefasst, zu schlampig formuliert, handwerklich ungenügend: Diese Diagnose klang in vielen Richterfragen durch.
Das wahre Thema der Verhandlung war vielmehr die Frage: Wie tief darf der Staat in die digitale Privatsphäre des Bürgers eindringen, um die dunkle Seite des Internets zu durchleuchten - Terrorismus, organisierte Kriminalität, Kinderpornografie? Ein kategorisches Nein des Ersten Senats zu jeglicher Form des heimlichen Ausforschens von Computern ist nicht sehr wahrscheinlich. Auch wenn das Gericht in den letzten Jahren immer wieder Ermittlungs- und Überwachungsbefugnisse empfindlich zurückgeschnitten hat, ließen die Richter nie einen Zweifel daran, dass Gefahrenabwehr und Strafverfolgung auch im Grundgesetz einen hohen Rang genießen.
So kam in Karlsruhe auch der oberste Polizist Deutschlands zu Wort, dessen Behörde nach dem Willen des Bundesinnenminis-ters mit der Lizenz zum staatlichen Zugriff auf private Computer ausgestattet werden soll. Jörg Ziercke, Chef des Bundeskriminalamts (BKA), musste nicht auf abstrakte Gefahren und theoretische Szenarien zurückgreifen. Nach den Festnahmen dreier mutmaßlicher islamistischer Terroristen im Sauerland, deren Anschlagspläne die Ermittler mit einer gigantischen Überwachungsaktion verhinderten, konnte er am authentischen Beispiel schildern, auf welch hohem technischen Niveau der Terrorist des 21. Jahrhunderts seine konspirativen Pläne vorantreibt.
Die drei hatten über Mails kommuniziert, die nicht abgeschickt, sondern als Entwurf bei einem Online-Diensteanbieter abgespeichert waren, wo sie von den Komplizen abgerufen werden konnten. So glaubten sie, die Überwachung des Mailverkehrs zu umgehen. Im konkreten Fall blieb die Polizei trotzdem dran. Doch normalerweise, so Ziercke, liefert nur eine heimliche Durchsuchung von Computern die notwendigen Passwörter und Schlüssel, um hier mitlesen zu können. Verschlüsselte Kommunikation wie beispielsweise Internet-Telefonie, das ist es, was den Ermittlern wirklich Sorgen macht. "Das wird uns in naher Zukunft vor nahezu unlösbare Aufgaben stellen", warnte Ziercke.
Die wirklich schwierige, weil neue Frage in dem Grundsatzverfahren ist: Was bedeutet der Begriff Privatsphäre in einer digitalisierten Welt? Dass das eigene Heim einen hohen verfassungsrechtlichen Schutz genießt, hatte ebenjener Senat im März 2004 mit seiner Entscheidung zum großen Lauschangriff deutlich gemacht. Danach wird der "Kernbereich privater Lebensgestaltung" sogar durch das höchste aller Grundrechte geschützt: durch die Menschenwürdegarantie, die von keinem noch so dringlichen polizeilichen Interesse verdrängt werden kann.
Doch was ist mit all den Bytes, aus denen sich womöglich mehr über einen Menschen erfahren lässt als mit einer Wanze im Wohnzimmer? Private Urlaubsbilder und eBay-Bestellungen, Online-Banking und E-Mail-Verkehr, Surfspuren und Tagebuch - auf der Festplatte kann das halbe Leben gespeichert sein.
Weder das Grundgesetz noch das Bundesverfassungsgericht halten dafür eine Formel bereit. Der Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Grundgesetz) passt nicht wirklich, weil ein Computer überall sein kann, auch im Miniformat in der Ja-ckentasche. Der Schutz des Fernmeldegeheimnisses passt, wenn es um die von Ermittlern gefürchtete Internet-Telefonie geht, nicht aber, wenn die Fahnder an gespeicherte Bombenbaupläne und Terrorhandbücher ranwollen. "Insofern kann Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz besonders wichtig werden", sagte Richter Wolfgang Hoffmann-Riem bei seiner Einführung. Artikel 2 Absatz 1: Das ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht, aus dem das Gericht vor 24 Jahren den Datenschutz herausdestilliert hat. Eine ähnliche Grundrechts-Neuerfindung wird wohl auch diesmal nötig sein - etwa der "grundrechtliche Schutz der Vertraulichkeit und Integrität des eigenen informationstechnischen Systems", wie Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier gleich zu Anfang formuliert hatte.
In der Anhörung wurde zudem deutlich, dass mit dem gebräuchlichen Schlagwort Online-Durchsuchung mehr verschleiert als erklärt wird. Ulrich Sieber, Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, riet zur terminologischen Unterscheidung zwischen der einmaligen Online-Durchsuchung und der fortdauernden Online-Überwachung. Die Festplattenkopie ist nämlich keineswegs das einzige denkbare Szenario. Mit der entsprechenden Software können sämtliche Tastatureingaben, Zugriffe auf Webseiten sowie Telefongespräche übers Internet protokolliert werden.
Eine weitere Schwierigkeit: Wenn, wovon auszugehen ist, die Karlsruher Richter den "Kernbereich privater Lebensgestaltung" schützen wollen, müssen sie dafür einen besonderen Modus finden. Die Einschätzung der Sachverständigen während der Karlsruher Anhörung lautete jedenfalls: Eine technische Begrenzung der Durchsuchung auf bestimmte Bereiche ist kaum zu machen: "Wenn Sie sinnvoll durchsuchen wollen, dann müssen Sie das ganze System durchsuchen", sagte Dirk Fox, ein Experte für Sicherheitstechnik.
Letztlich stellt sich die Frage: Welches staatliche Interesse ist so hochrangig, dass es einen so gravierenden Eingriff rechtfertigt? Damit könnte das Urteil auch interessante Antworten zum Unterschied zwischen Verfassungsschutz und Polizei enthalten. Zwar arbeiten beide zunehmend Hand in Hand, etwa im Berliner Antiterrorzentrum. Dennoch haben sie grundlegend verschiedene Aufgaben. Der Verfassungsschutz analysiert extremistische Bestrebungen im Vorfeld, die Polizei versucht, konkrete Gefahren zu verhindern und Straftäter hinter Gitter zu bringen. Heinz Fromm, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, könnte die Befugnis zum staatlichen Hacking zwar gut gebrauchen - dass sie für seinen Job, die Vorfeldanalyse, zwingend notwendig wäre, konnte er den Richtern nicht recht deutlich machen.
Der FDP-Politiker und Rechtsanwalt Gerhart Baum, einer der fünf Kläger, mahnte: "Der Verfassungsschutz darf nicht zu einer unkontrollierten Vorfeldpolizei werden." Möglicherweise werden die Karlsruher Richter dem Verfassungsschutz dieses Instrument verwehren. Im Umkehrschluss könnte das aber auch heißen: Das BKA, das sich konkret um die Verhinderung bevorstehender Anschläge kümmert, darf dafür auf Festplatten zugreifen.