ERNÄHRUNGSGRAFIKEN
Weltweit gibt es rund 100 Schaubilder, die gesundes Essen darstellen sollen. Nicht alle sind zu empfehlen.
Gesundes Essen ist ganz schön kompliziert. 240 Seiten umfasst die aktuelle Broschüre, in der die D-A-C-H-Referenzwerte für Nährstoffzufuhr aufgeführt sind. Diese Empfehlungen für Deutschland, Österreich und die Schweiz geben vor, welche Nährstoffe in welchen Mengen der Gesundheit eines Mitteleuropäers zuträglich sind. Für Otto Normalverbraucher ist das Heft ein Buch mit sieben Siegeln. Das wissen auch die professionellen Ernährungswissenschaftler. Daher zerbrechen sich die Experten in Sachen Ernährung seit Jahrzehnten den Kopf darüber, wie sie dem Durchschnittsbürger die optimale Mischung aus Kohlenhydraten, Protein und Fett mit der richtigen Prise Vitaminen, Mineral- und Ballaststoffen auf verständliche Weise nahe bringen können - in der Hoffnung, dass er sich irgendwann auch daran hält.
Manchmal gelingt den Fachleuten dann ein so griffiger Slogan wie "Fünf am Tag" für die täglich empfohlenen Portionen Obst und Gemüse. Oder sie basteln bunt bebilderte Scheiben, Dreiecke und Pyramiden, deren Segmente darstellen sollen, wie groß der Anteil von Getreide- und Milchprodukten, Fleisch, Fisch und Eiern, Fett und Süßigkeiten, Obst, Gemüse und Getränken auf dem täglichen Speiseplan sein soll. Die plakativen Führer durch den Lebensmitteldschungel kann man sich bei Ernährungsorganisationen bestellen und an den Kühlschrank pinnen. In erster Linie kommen die optischen Hilfen aber in Ernährungsberatung und -unterricht zum Einsatz.
Noch völlig frei von Sorgen um ernährungsbedingte Krankheiten stellte die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) ihre Essempfehlungen schon 1956 als Kreis dar, der aus den "guten Sieben" bestand: Milch- und Milchprodukte, Fleisch und Fisch, Brot und Zucker, Kartoffel und Nährmittel, Fett, Gemüse, Obst. Der Ursprungskreis hatte mit kleinen Variationen über 30 Jahre lang Bestand. Erst in den 90er-Jahren änderte sich die Größe der Segmente und damit die Gewichtung der Lebensmittelgruppen. Im Lauf der Jahre nahmen volumenreiche Lebensmitteln mit geringer Energiedichte - sprich: Gemüse - immer mehr Raum ein, die Spalten für kompakte energiereiche Kost - sprich: Fleisch, Süßes - schrumpften. Heute bildet der Kreis mit seinen Empfehlungen den Boden einer dreidimensionalen Ernährungspyramide, auf deren vier Seitenflächen die Lebensmittelgruppen Obst/Gemüse/Getreideprodukte, Fleisch/Fisch /Milchprodukte, Getränke und Fette mit Beispielen dargestellt sind. Nahrungsmittel, bei denen man besonders oft zugreifen sollte, finden sich an der breiten Basis. Essen, das nicht so oft auf dem Speiseplan erscheinen soll, steht an der schmalen Spitze. Im Gegensatz zu früher haben auf der Pyramide auch Getränke Platz gefunden. Ein Wasserglas im Zentrum des Kreises symbolisiert die Bedeutsamkeit der Flüssigkeitszufuhr.
Auf diese Pyramide, die es in der aktuellen dreidimensionalen Form seit 2005 gibt, ist die DGE ziemlich stolz. Ihre ureigene Erfindung sind die dreieckigen Ernährungstipps allerdings nicht, bei denen die Lebensmittel nach gut (unten) und schlecht (oben) eingeteilt werden. Auf die Idee mit der Pyramide kamen als erstes 1980 die Schweden. Richtig bekannt wurde der Kegel allerdings erst, als das US-Agrarministerium 1992 seine "Food Pyramid" zusammenstellte und propagierte. Als Abbild auf den Kartons von Kellogg's-Flocken kam sie dann auch ins Bewusstsein vieler Deutscher. Von den Packungen ist die Pyramide inzwischen wieder verschwunden, verdrängt von noch plakativeren Infos zu Nährstoffen.
Ein Jahrzehnt lang galt die Pyramide, die quasi sämtliche Kohlenhydrate gut hieß und alles Fett verdammte, als Nonplusultra der gesunden Ernährung. Heute sind sowohl die US-Ernährungspyramide, die jetzt "MyPyramid" heißt, als auch ihre europäischen Nachahmer differenzierter. Hinzu kam der Gedanke an Prävention. Fett wird nicht mehr nur als Dickmacher gesehen, sondern nach seinen Fettsäuren und deren Bedeutung für die Gesundheit gewichtet. Und Kohlenhydrate sind nicht mehr per se gut, sondern werden in Energielieferanten mit Langzeiteffekt und solche, die nur den Blutzucker hochtreiben, unterteilt. Daher stellen zum Beispiel immer mehr Länder ihre Ernährungspyramiden auf den Sockel von Gemüse und Obst (gute Kohlenhydrate), und schieben Brot, Reis und Nudeln (weniger gute Kohlenhydrate) eine Etage höher. Das klingt nicht gerade nach einer revolutionären Neuerung, aber die nationalen Institute übernehmen neue Erkenntnisse stets mit Vorsicht.
Und daher gilt es schon als eklatante Veränderung, dass die neue amerikanische "MyPyramid" mit symbolischen Farbflächen arbeitet und eine Treppe an die Pyramide gebaut hat, auf der ein Männchen läuft - Symbol für den Trend, sich bei den Empfehlungen nicht auf das Essen zu beschränken.
Weltweit kursieren rund 100 verschiedene Empfehlungsmodelle für die Ernährung. Neben den offiziellen Tellern wie in Frankreich, Pagoden wie in Japan und anderen asiatischen Staaten oder Pyramiden wurden sie teils von unabhängigen Ernährungsforschern kreiert, teils von Nahrungsmittelherstellern den eigenen Produkten angepasst. Pyramiden beziehen sich auf die Bedürfnisse von Vegetariern oder Diabetikern. Oder sie symbolisieren ein anderes Ernährungsmodell als das der vollwertigen Kost.
In Deutschland hat zum Beispiel der Allgemeine Informationsdienst Verbraucherschutz, Ernährung, Landwirtschaft (aid) eine stark vereinfachte Pyramide in Umlauf gebracht, die schon kleine Kinder verstehen können und die den Ernährungsunterricht übergewichtiger Kinder begleitet. Während über den Sinn dieser Pyramide bei den institutionalisierten Ernährungswächtern durchaus Konsens herrscht, begegnen sie anderen Empfehlungsmodellen zurückhaltend bis skeptisch. Der Zweifel an der Tragfähigkeit oder auch der Seriosität alternativer Pyramiden überwiegt.
Walter Willett von der Harvard-Universität entwickelte 2001 seine "Healthy Eating Pyramid" als Alternative zur offiziellen "Food Pyramid", deren Empfehlungen seiner Ansicht nach den gegenwärtigen Erfordernissen geradezu widersprachen. In seinem Modell spielen Bewegung und der Erhalt von gesundem Gewicht eine zentrale Rolle. Vollkornprodukte und pflanzliche Öle bilden die Ernährungsbasis, so gut wie tabu sind rotes Fleisch und weißes Mehl. Zur optimalen Willett-Ernährung gehören auch Nahrungsergänzungsmittel. Kennzeichnend für diese Pyramide ist, dass sie Lebensmittel nach ihrem gesundheitlichen Effekt beurteilt, also etwa, wie sie sich auf das Diabetes- oder Herz-Kreislauf-Risiko auswirken.
Der Präventionsaspekt spielt auch in der Pyramide von David Ludwig eine zentrale Rolle. Der Wissenschaftler, der ebenfalls an der Harvard-Universität lehrt, bewertet Lebensmittel streng nach ihrem Wert im glykämischen Index, das heißt, wie sehr sie den Zuckerstoffwechsel beeinflussen. Die "low glycemic index pyramid" ähnelt damit sehr derjenigen von Ernährungswissenschaftler Nicolai Worm, der das Gerüst adaptiert und als LOGI-Pyramide in Deutschland bekannt gemacht hat.
In eine andere Richtung zielt die Lebensmittelpyramide von Robert Atkins. Er stellte mit seiner Protein-Diät nicht nur die gängigen Ernährungsempfehlungen auf den Kopf, sondern auch die Schichtung der Pyramiden. Bei ihm stellen eiweißreiche Lebensmittel die breite Basis dar, Gemüse findet sich in seiner Pyramide darüber und Obst rückt der wenig empfohlenen Spitze näher, wo die Getreideprodukte thronen. So umstritten wie die Atkins-Diät selbst ist auch die dazugehörige Lebensmittelpyramide.
Als Pyramidenbauer haben sich auch einige Lebensmittelkonzerne hervorgetan, die sich und ihren Produkten zunehmend ein ernährungsbewusstes Image geben. Auf den Verpackungen finden sich heute neben den gesetzlich vorgeschriebenen Informationen oft noch zusätzliche Tabellen, die das Nährstoffprofil des Produkts transparenter machen sollen. Energie, Fett, Zucker und Salz sind dabei die kritischen Größen. So steht auf der Packung eines Schokoriegels aus dem Nestlé-Reich nicht nur, wie viel Kalorien man damit verspeist, sondern auch, wie viel Prozent vom Tagesbedarf an Fett oder Zucker drinstecken. Auch auf den Internetseiten haben zum Beispiel die Konzerne Nestlé, Kraft oder Kellogg's ausführliche Ernährungsinformationen, die sich meist auf offizielle Ernährungsgesellschaften berufen. Dass Nestlé in seine ansonsten völlig korrekte Lebensmittelpyramide auf jeder Ebene eigene Produkt "versteckt" hat, lässt Puristen vielleicht die Nase rümpfen. Kellogg's hat seine Ernährungspyramide - bei der eine Müslischale mit der Aufschrift "Cerealien" in Kellogg's-Schrift eine prominente Rolle spielen - inzwischen erweitert. Die dreiseitige "Gesundheitspyramide" umfasst auch die Punkte Bewegung und Entspannung.
Damit gibt die Firma den Trend der Zukunft wieder. Aus den reinen Ernährungspyramiden werden sich zunehmend Pyramiden für ein gesundes Leben entwickeln. Denn mit vernünftigem Essen allein lassen sich Übergewicht und seine Folgen nicht bewältigen. Die Pyramidenbauer werden sich etwas einfallen lassen müssen, um Platz für eine weitere Ebene schaffen: körperliche Aktivität.
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