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Immer noch kommen 40 Prozent der 1,1 Milliarden Katholiken aus Lateinamerika. Evangelikale Bewegungen machen aber der etablierten Kirche seit Jahren Konkurrenz. Mit Erfolg.
"Manchmal fühlen wir uns hier recht einsam", sagt Pater Hugo Scheer. Mit wenigen Worten umschreibt der Steyler Missionar die Situation in seinem Ordensdistrikt Espírito Santo im Nordosten Brasiliens. Scheer ist im Jeep unterwegs in das Dorf Içana. Die Fahrt wird gut zwei Tage dauern, da der Weg durch unwegsames Gelände führt und das Auto in zehn Stunden nicht mehr als hundert Kilometer schafft.
Içana, mitten im Dschungel gelegen, ist ein Anziehungspunkt für Ureinwohner und Mestizen, die Nachfahren der portugiesischen Kolonialherren, gleichermaßen. Goldsucher, Tagelöhner und einige Indiofamilien leben dort in heruntergekommenen Hütten ohne Strom und fließend Wasser. Energie kommt aus einem Dieselaggregat, es liefert Strom für den einzigen Laden im Ort. Es gibt auch eine Kneipe mit einer leuchtend roten Coca-Cola-Reklame. In der Ecke steht ein überdimensionales TV-Gerät. Immer wenn ein wichtiges Fußballspiel stattfindet, versammeln sich die Dorfbewohner im Thekenraum und feuern "ihre" Mannschaft an. Den Steyler Pater kennen die Menschen seit vielen Jahren. Mit einem freundlichen "Olá padre" begrüßen sie den Geistlichen aus dem fernen Deutschland.
Neben den infrastrukturellen Defiziten der Region quält den Pater indes noch ein ganz anderes Problem. In den letzten Jahren haben, wie überall in Lateinamerika, immer mehr religiöse Gruppen mit aggressiven Werbemethoden Menschen um sich geschart. Im Volksmund heißen sie Evangélicos, von Kritikern werden sie despektierlich Sectas genannt. Auch in Içana sind sie schon aufgekreuzt, erzählen Dorfbewohner.
Auffällig ist, dass diese Gruppen von offizieller protestantischer Seite nur selten anerkannt werden. Häufig stehen hinter ihren Strukturen Unternehmer aus den USA, die die religiöse Schiene benutzen, um auf dem Subkontinent Einfluss zu gewinnen. Das gesellschaftspolitische Vakuum, das in einigen Ländern Lateinamerikas die Militärdiktaturen der 70er- und 80er-Jahre hinterlassen haben, hilft ihnen dabei. Zweifelhafte Angebote, leere Versprechungen und die Verheißung auf Wohlstand gehören zum rhetorischen Grundrepertoire der selbsternannten Religionsführer, mit dem sie vor allem in den Unterschichten Anhänger rekrutieren. Während des Kalten Krieges standen einige dieser religiösen Gruppierungen in enger Verbindung zur US-Regierung, die sie mit Geld und Logistik ausstattete, um in Südamerika ein Gegengewicht zu den Linksbewegungen wie etwa den Sandinisten in Nicaragua und dem Leuchtenden Pfad in Peru zu etablieren.
Vor allem in Mittelamerika haben die neuen religiösen Gruppen starken Zulauf. Sie sehen sich als Konkurrenz zur etablierten Kirche, verfügen aber nur selten über ein ausgefeiltes "Gegenprogramm". "Aus Bibelzitaten leiten sie Prophezeiungen als nicht gedeckte Wechsel auf die Zukunft ab", sagt Scheer. Bunte Bilder in Hochglanzbroschüren der Evangelikalen zeigen zumeist europäische Menschen in devoter und glücklich-naiver Pose, was bei vielen Indios einen tiefen Eindruck hinterlässt. Die Bilder erzeugen eine starke suggestive Wirkung, da viele Menschen, etwa in Bolivien und Honduras, nicht lesen können. In Guatemala, wo 90 Prozent der Bevölkerung indigener Abstammung sind, sind nach Schätzungen der lateinamerikanischen Bischofskonferenz bereits 40 Prozent der Bürger nicht mehr katholisch. Noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts galt der mittelamerikanische Staat als feste Bastion des Katholizismus.
Wie die Abwerbungskampagnen der Sekten ablaufen, zeigt das Beispiel der brasilianischen 30.000-Einwohner-Stadt Correntes. "Vorwärts, Soldaten Gottes": Unüberhörbar donnert es aus dem Lautsprecher vor einem zum Gotteshaus umfunktionierten Bürogebäude. Bunte Werbeplakate zeigen die Konterfeis von McDonald's, Chanel und Marlboro. Gleich nebenan gibt es ein Internetcafé, das seine Schaufenster mit kitschigen Heiligenbildern und Zitaten aus dem Alten Testament dekoriert hat. Das Ziel der Betreiber: Religiös Interessierte und Neugierige zum Gottesdienst zu locken. "Christus kommt, seid bereit", "Das jüngste Gericht steht bevor", schallt es auf Portugiesisch schrill und gebetsmühlenartig von dem Tonband herunter. Die Bilder gleichen sich. Von Häuserwänden in den Armenvierteln, von Reklametafeln in den Innenstädten und Felsblöcken am Rand der Überlandstraßen, überall in der Provinz fallen dem Vorbeifahrenden Bibelzitate ins Auge.
Nach Schätzungen der Ethnologin Juliane Ströbele-Gregor von der FU Berlin gehören inzwischen zehn Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung einer dieser Gruppen an. "Alle Angaben hierzu sind jedoch Schätzungen", sagt Ströbele-Gregor. Denn jede Gruppe, ob Pfingstkirchler, Evangelikale, Mormonen oder Fundamentalisten, ist daran interessiert, ihre vermeintlichen Missionserfolge mit hohen Zahlen zu untermauern. Zu den Strategien der Sekten gehört ein intensives Gemeindeleben, Missionierung in der Familie sowie im Freundes- und Bekanntenkreis, zu der jedes Mitglied verpflichtet ist. Die Sekten scheuen weder Geld noch Mühe, um neue Mitglieder zu werben. Eigene Verlagshäuser produzieren Plakate, religiöse Bilder, Flugblätter für die Kampagnen und ein breites Sortiment von erbaulichen Schriften und Missionierungsmaterialien. Hinzu kommen Zeitschriften für die Familie und pseudowissenschaftliche Bücher, die sich sowohl an die Gläubigen wie an potenzielle Interessenten wenden und auch bei der Evangelisierung an der Haustür zum Einsatz kommen. Einige Religionsgemeinschaften wie etwa die Mun-Sekte verfügen über Flugzeuge und Hubschrauber, um ihre Missionare zu Großauftritten in Urwaldsiedlungen zu bringen. "Auch eigene Radio- und Fernsehstationen mit erheblichen Sendekapazitäten und Sendezeiten mobilisieren die Menschen", sagt Scheer. Die Steyler in Brasilien haben darauf reagiert und zusammen mit anderen Partnern eine Fernsehproduktionsgesellschaft gegründet.
Um das Problem in den Griff zu bekommen, setzen die Diözesen verstärkt auf die Arbeit von Ordensgemeinschaften wie den Steyler Missionaren. "Wir verfügen über Netzwerke im In- und Ausland und haben daher bessere Möglichkeiten, uns um die Belange der Menschen zu kümmern, als der einheimische Klerus", sagt Scheer. Hinzu komme die gute Reputation, die katholische Missionare auch aufgrund ihrer Bildungs- und Sozialarbeit in ganz Lateinamerika genießen. Was die Orden von den Sekten unterscheidet? "Wir nehmen jeden Menschen so an wie er ist, ohne konkrete Erwartungen an jemanden zu richten oder überzogene Hoffnungen zu schüren", sagt Scheer. Was ihn optimistisch stimmt, ist die wachsende Zahl von Katholiken in den USA, von wo aus, historisch gesehen, die stärksten Impulse für Lateinamerika ausgehen. "Wir sehen die wachsende Konkurrenz, sind aber zuversichtlich, dass wir die Herausforderungen meistern können", sagt der Steyler Pater.
Der Autor ist Sprecher der Missionsprokur der Steyler Missionare in Sankt Augustin.