Ökonomische modelle
Sozialismus oder Marktwirtschaft? Beides überzeugt nicht. Gesucht wird ein soziales Mischsystem.
Die kürzlich veröffentlichte Umfrage zu Politik und Wirtschaft in Lateinamerika überrascht: Rund die Hälfte der Lateinamerikaner hält die Marktwirtschaft für die beste Wirtschaftsform, ermittelte das renommierte chilenische Meinungsforschungsinstitut Latinobarometro. Auch die Privatisierungen werden seit einigen Jahren wieder positiver beurteilt: Statt vorher 22 Prozent der Befragten finden jetzt 35 Prozent der Lateinamerikaner, dass sie von den Entstaatlichungen der 90er-Jahre profitieren. Kommt es in Lateinamerika nach einer halben Dekade linker Regierungen schon wieder zu einer Renaissance der Marktwirtschaft? Sind gar die in der Region verhassten neoliberalen Ansätze des "Washington consensus" dabei, politisch rehabilitiert zu werden?
Noch ist es zu früh, von einem Trend zu sprechen. Doch die Umfrage von Latinobarometro zeigt deutlich, dass die Wähler auf der Suche nach einem neuen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell sind: Irgendwo zwischen den beiden Extremen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" und "Washington consensus" könnte es angesiedelt sein. Mehrheitsfähig könnte ein Modell werden, das Elemente aus beiden Lagern kombiniert - eine Variante der Sozialen Marktwirtschaft. Die Umfrage zeigt, dass sich die meisten Menschen in der Region nach einem stärkeren Staat sehnen, der für Chancengleichheit und gerechtere Einkommensverteilung sorgt. Damit ist aber weder der sozialistische Staat noch eine rechte Diktatur gemeint. Beide Staatsformen finden nur wenig Anhänger in der Region insgesamt - trotz der weiterhin populären Linksregierungen in Venezuela, Bolivien und Ecuador. In Argentinien, Brasilien und Chile wächst die Wirtschaft seit fünf Jahren kräftig. Die Regierungen haben in ihr Wirtschaftsmodell massive soziale Korrekturen eingebaut.
Bei näherer Betrachtung eignet sich jedoch Argentinien nur wenig als Muster für die Region - trotz seines Erfolgs: Dort hat Präsident Néstor Kirchner (bis Dezember 2007 im Amt) zwar das Land aus der tiefsten Wirtschaftskrise der jüngeren Geschichte geholt. Argentiniens moderne Agrarindustrie finanziert jetzt eine wenig wettbewerbsfähige Industrie. Im Prinzip imitiert Kirchner das, was sein Vorbild Peron vor einem halben Jahrhundert getan hat. Auch seine flächendeckenden sozialen Hilfsprogramme orientieren sich daran, weil sie vor allem seinen politischen Anhängern zugute kommen. Problematisch ist, dass Kirchner zunehmend dirigistisch regiert und die Marktmechanismen außer Kraft gesetzt hat. Wenn seine Gattin und Nachfolgerin Cristina Kirchner nun für Investitionen aus der Privatwirtschaft und dem Ausland wirbt, dann muss sie glaubhaft machen, dass sie rechtsstaatliche und demokratische Regeln einhalten will. Nach vier Jahren Konfrontationspolitik gegenüber ausländischen Unternehmen und Gläubigern wird es dauern, bis sie Vertrauen herstellen kann.
Dieses Vertrauen der Privatwirtschaft haben hingegen schon Michelle Bachelet, die ehemalige linke Regimegegnerin der Militärs in Chile, und auch der ehemalige Gewerkschafter und Sozialist Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien. Die Länder sind ziemlich unterschiedlich: Hier das kontinentale Amazonasland, die zehntgrößte Wirtschaftsnation weltweit mit einer diversifizierten Ökonomie und 185 Millionen Einwohnern. Dort das Andenland mit 16 Millionen Einwohnern, stark abhängig von Rohstoffexporten, aber mit einem seit mehr als einer Dekade anhaltenden hohen Wachstum. Betrachtet man die Politiken in beiden Ländern, dann fällt aber auf, dass sich die Regierungen überraschend diszipliniert an markwirtschaftliche Grundregeln halten. Ein Vergleich mit den Prinzipien des "Washington consensus" zeigt das deutlich: Brasilien und Chile erfüllen heute viele der Vorgaben weitgehend; zumindest haben sie erhebliche Anstrengungen unternommen, um den Zielen näher zu kommen. Besonders gut schneiden beide Staaten ab bei der Haushaltsdisziplin, der Steuerung der Geldpolitik, der Inflationsbekämpfung und der Wechselkurspolitik. Auch bei der Marktöffnung und den Privatisierungen sind sie weit vorangekommen. Noch entfernt von den Vorgaben sind sie bei der Effizienz der öffentlichen Ausgaben, die in beiden Ländern weiterhin niedrig ist. Die Eigentumsrechte werden nicht flächendeckend garantiert. Auch die Steuersysteme sind ineffizient.
Dennoch ist der "Washington consensus" heute trotz häufig anders lautender Rhetorik Alltag in der Politik dieser Staaten. Mehr noch: Die Sozialistin Bachelet und der Gewerkschafter Lula wurden erst wählbar, nachdem sie ausdrücklich versprachen, dass sie marktwirtschaftlich regieren wollten, also die Wirtschaftspolitik ihrer Vorgänger beibehalten würden.
Dennoch haben Lula und Bachelet die von ihren Vorgängern geerbten Modelle um einen entscheidenden Punkt erweitert: Sie erhöhten massiv die Sozialausgaben. Bachelet investiert in Chile vor allem in Bildung, weil sie bereits auf gut funktionierende Sozialprogramme aufbauen kann. Lula stockte in Brasilien das Förderprogramm für arme Familien seiner Vorgänger massiv auf. Bei seinem "Bolsa Familia" erhalten arme Familien je Kind umgerechnet 11 Euro im Monat bar auf die Hand. Bislang konnte keine brasilianische Regierung so schnell die Armut und inzwischen sogar die Einkommensgegensätze reduzieren.
Für Chile und Brasilien, die Länder mit dem größten sozialen Gefälle des Kontinents, ist das wichtig: Erstmals seit Jahrzehnten wächst die Mittelschicht wieder. Weil die Unternehmen investieren und die Konjunktur brummt, sinkt zudem die Arbeitslosigkeit und die Einkommen steigen. Die solide Geldpolitik hat in beiden Staaten die Zinsen sinken lassen, wodurch die Kreditvolumen steigen. Inzwischen scheint es, dass die beiden südamerikanischen Ökonomien auch von einer US-Rezession weit weniger betroffen wären als zuvor.
Den Rückenwind aus der Weltwirtschaft spüren alle Staaten der Region. Denn Südamerika ist inzwischen der Rohstofflieferant des asiatischen Wirtschaftsbooms und profitiert zudem als Energieproduzent von den hohen Preisen für Öl und Gas. Doch nicht alle Staaten ziehen Nutzen daraus. Vor allem die linksregierten Länder machen trotz der auch für sie günstigen Weltkonjunktur wirtschaftlich schwere Zeiten durch.
Beispiel Venezuela: Trotz des Rekordölpreises leidet der seit neun Jahren von Hugo Chávez regierte Staat unter dessen staatlichem Dirigismus: Der Wechselkurs ist genauso festgelegt wie die Preise für die meisten Grundnahrungsmittel. Weil die Unternehmen oftmals unter den Produktionskosten verkaufen sollen, blüht die Schattenwirtschaft. Immer mehr Branchen werden verstaatlicht oder streng reglementiert. Die privaten Unternehmen investieren kaum noch. In der Ölindustrie wurden die Beteiligungen der ausländischen Konzerne auf Minderheitspositionen reduziert. Die Regierung muss zunehmend mehr Devisen für Konsumgüter- und Lebensmittelimporte verwenden. Der alles dominierende staatliche Ölkonzern PdVSA vernachlässigt sein Kerngeschäft - die Energieproduktion - und soll nach dem Willen des Präsidenten Schuhe fabrizieren, Schiffe bauen, Soja pflanzen und Rinder züchten.
Die Folge dieses staatlichen Dirigismus in der Wirtschaft ist ein Chaos, das vor allem die Armen trifft: Die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln verschlechtert sich zunehmend. Die Inflation steigt von Monat zu Monat. Arbeitslosigkeit und Kriminalität nehmen ebenfalls zu. Da gleichzeitig die Korruption weiterhin stark verbreitet ist, erlebt das Land neben der Mangelwirtschaft einen rauschenden Konsumboom von Luxusprodukten. Während die Armen Venezuelas zu Beginn von Chávez' Sozialprogrammen profitierten, neutralisiert die chaotische Wirtschaftsführung derzeit diese Verbesserungen. Die Arm-Reich-Gegensätze Venezuelas kann der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" immer weniger mildern.
In Bolivien ist die Lage ähnlich: Präsident Evo Morales hat die Öl- und Gasindustrie verstaatlicht und weiß jetzt weder, wie er die Konzerne führen soll noch woher die notwendigen Investitionen in Erkundung von Bodenschätzen und Förderung kommen sollen. Zudem steht er vor einer gespaltenen Gesellschaft, die jede politische Steuerung ungemein erschwert. In Ecuador ist Rafael Correa noch zu kurz im Amt, um erkennen zu lassen, wie er die Wirtschaft führen will. Bisher hat der Ökonom sich vor allem rhetorisch als Linker gezeigt - in der Praxis jedoch als überraschend pragmatisch. In Südamerika hat er nun ausreichend Anschauungsmaterial, um zu entscheiden, welchen Kurs er verfolgen will. Ob er sich mehr an Lula und Bachelet orientieren wird oder an Chávez und Morales, wird sich zeigen.
Der Autor berichtet seit 15 Jahren aus Sao Paulo für das "Handelsblatt" und die "Wirtschaftswoche".