Sozialismus
Der Schein trügt - einen echten Linksruck gibt es in der Region nicht
Veneceremos! Patria, socialismo o muerte! - Wir werden siegen! Vaterland, Sozialismus oder Tod!" Wer zu solchen Parolen auch noch Lobsprüche auf die Revolutionshelden Fidel Castro und "Che" Guevara vernimmt, glaubt sich in die Zeiten der kubanischen Revolution zurückversetzt. Der Ausruf gehört zu den gängigen Redefloskeln des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez. Er will erklärtermaßen Venezuela in einen sozialistischen Staat verwandeln. Als selbsternannter Erbe des Freiheitshelden Simón Bolívar versucht er überdies, seine "bolivarische Revolution" und seinen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in andere Staaten zu exportieren. Daran hat sich auch nach seiner ersten großen Niederlage nichts geändert - der bei dem Referendum vom 2. Dezember gescheiterten Verfassungsreform, mit der Chávez sich die Präsidentschaft auf Lebenszeit und Vorrechte sichern wollte, wie sie nur absolutistisch regierende Monarchen oder die römischen Kaiser besaßen.
In einer Reihe von Ländern der Region sind seit einigen Jahren Regierungen am Ruder, die enge Beziehungen mit Chávez pflegen und eine Politik betreiben, die gleichfalls sozialistischen Idealen verpflichtet scheint. Figuren wie Chávez verdanken es dem Phänomen des lateinamerikanischen Caudillo-Kultes, dass sie mit Hilfe einer übergroßen Machtfülle ihre persönlichen politischen Anschauungen wie eine Staatsdoktrin durchsetzen können. Eine neue, im Grunde aber sehr alte Form des Populismus feiert fröhliche Wiederauferstehung.
Dass in den vergangenen Jahren allenthalben Präsidenten ins Amt kamen, die versprochen hatten, soziale Ungerechtigkeiten zu beseitigen, mit all ihren Begleiterscheinungen wie Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit und Armut, ist allerdings noch kein Anzeichen für einen "Linkstrend" in Lateinamerika oder gar für die Bildung eines "sozialistischen Blockes" wie in den Zeiten des Kalten Krieges, sondern nur die Folge eines natürlichen Pendelschlags in der Politik. Die so genannte neoliberale Politik der 90er-Jahre war in vielen Ländern der Region fast ausschließlich auf wirtschaftliche Prosperität und Stabilität bedacht. Davon profitierten vor allem die ohnehin schon wohlhabenden Schichten. Die sozialen Konflikte, die unter der Oberfläche einer florierenden Wirtschaft gärten, wurden weitgehend ignoriert. Gesellschaftliche Randgruppen blieben vom politischen Geschehen ausgegrenzt oder wurden bestenfalls mit Almosen abgespeist.
Die Wahlprogramme der "linken" Kandidaten enthielten die pauschale Ablehnung all dessen, was unter "Neoliberalismus" verstanden werden dann. Der Begriff wurde inzwischen zu einer Art Schimpfwort. Und es wurde regelrecht Mode, die bislang herrschende politische Klasse als "Oligarchie" zu desavouieren, die traditionelle Parteienwirtschaft als korrupt anzuprangern und internationale Finanz- und Wirtschaftsinstitutionen wie den Internationalen Währungsfonds zu schmähen. Hinter der so genannten neuen Linkspolitik in Lateinamerika steht letztlich nicht viel anderes als eine stärkere Berücksichtigung sozialer Belange und die Korrektur politischer Versäumnisse der Vorgängerregierungen.
Das "bolivarische" Venezuela des Präsidenten Hugo Chávez ist, von Kuba abgesehen, bislang das einzige Land geblieben, in dem der "Sozialismus" als eine Art Staatsdoktrin gilt und altrevolutionäre Rituale zur Staatsliturgie gehören. Beim jüngsten Ibero-Amerikagipfel in Santiago de Chile hat sich gezeigt, dass dem harten Kern von "Linksregierungen" außer Venezuela und das Vorbild Kuba lediglich Bolivien, Nicaragua und Ecuador zugerechnet werden können. Als einzige dezidiert konservative, dazu auch noch eindeutig amerikafreundliche Regierung gilt andererseits jene des Präsidenten Álvaro Uribe in Kolumbien.
Der Aufstieg des Oberstleutnants Hugo Chávez Frías vom gescheiterten Putschisten zur derzeit einflussreichsten, auf jeden Fall schillerndsten politischen Figur in ganz Lateinamerika ist beispiellos. Er tritt gern als Feldherr auf, der mit seiner Politik nichts Geringeres als eine neuerliche Befreiung Lateinamerikas erreichen will. Dabei geht es um die vorgebliche Befreiung von einem "Imperium", diesmal jenem der Vereinigten Staaten. Chávez' aggressiver Antiamerikanismus erklärt viele seiner bizarr anmutenden Aktionen. Dazu zählt auch die geradezu glühende Verehrung für den kubanischen Revolutionsführer Fidel Castro, als dessen Erben er sich auch fühlt.
Viele "Errungenschaften" der kubanischen Revolution hat Chávez inzwischen übernommen. Dazu zählen die Bündelung der politischen Kräfte in einer sozialistischen Einheitspartei (PSUV, noch im Aufbau), inszenierte Massenaufmärsche der Anhängerschaft, aufpeitschende Reden, der Kult um altrevolutionäre Ikonen wie Ernesto "Che" Guevara und Fidel Castro, die aggressive Diffamierung politischer Gegner, straff organisierte Kommando- und Kontrollstrukturen, schließlich auch eine bewusste Verwischung der Grenzen zwischen Zivilgesellschaft und Militär.
Mit Hilfsleistungen, Kooperationsprojekten und vor allem der umfangreichen und regelmäßigen Lieferung fossiler Brennstoffe zu einem Spottpreis hat Venezuela Kubas Wirtschaft nach dem Zerfall des Sowjetreichs vor dem Zusammenbruch bewahrt. Die Gegenleistungen Kubas sind vergleichsweise bescheiden. Havanna schickt Ärzte, Lehrer, Sportler und Sicherheitspersonal nach Venezuela und in andere Länder der Region. Die enge Freundschaft zu Kuba hindert Chávez allerdings keineswegs daran, mit den USA weiterhin gute Geschäfte zu machen. Nordamerika ist nach wie vor der größte Abnehmer venezolanischen Erdöls und der größte Lieferant von Waren.
Selbst wenn bei den so genannten Linksregierungen Lateinamerikas generell eine größere Bereitschaft als früher vorhanden ist, sich den sozialen Problemen und Konflikten zu widmen, ist nirgends auch nur eines der Grundübel tatsächlich beseitigt worden, seien es Korruption, Klientelismus, Vetternwirtschaft, soziales Ungleichgewicht, Arbeitslosigkeit oder Armut. Gerade in Ländern mit früheren Ikonen einer "sozialistischen" Politik wie in Brasilien mit Luiz Inácio Lula da Silva - der das Kunststück fertigbringt, trotz seiner wirtschaftlich orthodoxen Politik noch immer als "Linkspräsident" zu erscheinen - oder der Sozialistin Michelle Bachelet in Chile klafft die Schere zwischen Arm und Reich sogar immer weiter auseinander.
Mit seinem Vorhaben, den von ihm propagierten "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in der Region zu verbreiten, hat Chávez bislang nur wenig Erfolg gehabt. Das liegt vor allem daran, dass es sich dabei um einen ganz auf seine Person zugeschnittenen und von ihm selbst sorgsam inszenierten Kult handelt. Der Chávismus besteht aus einem Konglomerat postkolonialer, antiimperialer Ideen und Theorien, das Chávez unbekümmert mit allem anreichert, was ihm gerade ins Konzept passt. Eine Umverteilungspolitik in sozialistischem Geist ist es am allerwenigsten. Längst ist in Venezuela eine neue Schicht entstanden, die sich ungehemmt der gleichen Korruptionspraktiken bedient wie die früheren Regierungen. Die Angehörigen der so genannten "Boliburguesía", der neureichen "bolivarischen Bourgeoisie" aus Nutznießern von Chávez' vorgeblicher Revolution, kaufen die teuersten Wohnungen und fahren die teuersten Autos.
Am wenigsten kann sich Chávez, so paradox es scheint, in seinem bolivarisch-sozialistischen Musterstaat auf die traditionelle Linke berufen. Die sozialpolitischen Bewegungen der 30er- und 40er-Jahre sind zu sektenähnlichen Grüppchen verkümmert. Manche ihrer früheren Anführer, die zunächst Chávez sogar unterstützten, haben sich längst wieder aus der Regierung zurückgezogen. Ausgerechnet der Kommunist Luis Miquilena etwa, der unter Chávez Innenminister und Präsident der verfassunggebenden Versammlung war, ist vom einflussreichen Lehrmeister zum erbittertsten Widersacher Chávez' geworden. Widersprüchlich ist vor allem die Art, wie Chávez die Gestalt des Freiheitshelden Simón Bolívar für sich als Vorbild einsetzt. Sie taugt zwar als antikoloniale Ikone und Identifikationsfigur für die Integration mit den Nachbarländern, doch versagt sie, wenn sie als Inbegriff eines wie immer gearteten Sozialismus herhalten soll, den Bolívar noch gar nicht kennen konnte.
Die große Resonanz, die Chávez mit seiner populistischen Politik erzielt, hat ihn inzwischen in einen Allmachtswahn getrieben, der den früheren Oberstleutnant blind gemacht hat für viele Fehlentwicklungen seiner Politik: die ausufernde Korruption, die Zunahme krimineller Gewalt, wachsende wirtschaftliche Schwierigkeiten. Selbst viele seiner Gefolgsleute verstehen nicht, warum sie Schlange stehen müssen, um Milch zu kaufen, während die Petrodollars ins Land sprudeln.
Nach dem an ihn gerichteten Zwischenruf des spanischen Königs auf dem Gipfel in Santiago, "por qué no te callas?", "warum hältst du nicht den Mund?", ist Chávez endgültig angreifbar geworden. Seit dem Scheitern der Verfassungsreform und seinem großspurigen, einstweilig jedoch erfolglosen Auftreten als Vermittler in der kolumbianischen Geiselaffäre ist es für ihn auch um einiges schwieriger, seine Missionierungsversuche in Lateinamerika unverhohlen fortzusetzen. Allerdings darf man seine Beharrlichkeit nicht unterschätzen, mit der er einmal ins Auge gefasste Ziele verfolgt. Für ihn als selbsternannten Bolívar-Erben sind Niederlagen nur ein Ansporn, nun erst recht den Sieg zu suchen. Kampflos wird er sich nicht ergeben. Aber es zeichnet sich ab, dass auch seine Herrschaft endlich ist.
Der Autor ist Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in Buenos Aires.