Demokratie
Das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Institutionen ist gering. Von einer Bedrohung kann aber keine Rede sein.
Hugo Chávez hält sich für einen mustergültigen Demokraten. In den Augen seiner politischen Widersacher verkörpert der venezolanische Präsident hingegen den Inbegriff eines exzentrischen Autokraten. Der ehemalige Fallschirmspringeroffizier und Anführer eines gescheiterten Staatsstreichs im Februar 1992 ist vor neun Jahren durch den Willen des Volkes an die Macht gekommen und danach zweimal mit deutlicher Mehrheit im Amt bestätigt worden. Chávez verfügt damit über eine demokratische Legitimation, von der andere lateinamerikanische Staatschefs nur träumen können. Demokratie erschöpft sich jedoch nicht in der Auswahl der Regierenden. Ihre Qualität hängt auch davon ab, wie stark ihr rechtsstaatliches Fundament ist, ob die Gewaltenteilung funktioniert und in welchem Maß sie in der Lage ist, die drängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen.
Geht man von einem solchen umfassenden Demokratieverständnis aus, bestehen nicht nur in Venezuela Defizite, sondern in praktisch allen lateinamerikanischen Ländern. Rund ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch der Militärdiktaturen hat sich die Demokratie zwar weitgehend konsolidiert und auch in schweren wirtschaftlichen und politischen Krisen eine erstaunliche Belastbarkeit an den Tag gelegt. Als demokratisch hoch entwickelt gelten bisher allerdings nur Chile, Costa Rica und Uruguay. In den übrigen Staaten lassen sich in unterschiedlichem Ausmaß Tendenzen zu einer Abwertung der Institutionen erkennen: das rechtsstaatliche Fundament ist schwach, Gewaltentrennung und -kontrolle sind beeinträchtigt, Präsidenten spielen sich als Caudillos auf, die Unabhängigkeit der Justiz ist eingeschränkt. So hat beispielsweise das venezolanische Parlament, das sich fast nur aus Chávez-Gefolgsleuten zusammensetzt, dem Drängen des charismatischen Staatsoberhaupts nachgegeben und ihm die Möglichkeit eingeräumt, anderthalb Jahre per Dekret zu regieren.
Aber auch in anderen Ländern machen Staatschefs oft und gern von der Möglichkeit Gebrauch, auf Kosten Gewalt teilender Prinzipien die politische Macht zu personalisieren und zu konzentrieren. Kolumbiens konservativer Präsident Álvaro Uribe etwa beanspruchte Sondervollmachten, um die illegalen Kampfverbände, die das Land seit Jahrzehnten terrorisieren, wirksamer bekämpfen zu können. Der argentinische Linksperonist Néstor Kirchner schwächte das Parlament mit der Rechtfertigung, dass er auf diese Weise besser in der Lage sei, sein Land aus der wirtschaftlichen und politischen Misere herauszuführen.
Für die Krise der Institutionen sind in einem hohen Maß die etablierten politischen und wirtschaftlichen Kräfte verantwortlich. Die traditionellen Parteien haben dem Volk über Jahrzehnte hinweg das Blaue vom Himmel versprochen, in Tat und Wahrheit jedoch stets nur auf das Wohl der eigenen Klientel geachtet und damit wesentlich dazu beigetragen, dass heute die Kluft zwischen Begüterten und Bedürftigen in Lateinamerika größer denn je ist. Die ungelöste soziale Frage - man könnte auch sagen: das Fehlen der sozialen Demokratie - ist eine der Hauptursachen dafür, dass die Mehrheit der Bevölkerung auf dem Subkontinent ein zwiespältiges Verhältnis zur Demokratie hat, ihre Funktionsweise insgesamt kritisch bewertet.
Untersuchungen belegen, dass weniger als die Hälfte der Menschen diese Herrschaftsform vorbehaltlos unterstützt. Viele Lateinamerikaner trauen demokratisch gewählten Regierungen nicht zu, Armut, soziale Ungerechtigkeit und Kriminalität tatkräftig zu bekämpfen. Sie nähmen deshalb - zumindest theoretisch - einen Abbau der Demokratie in Kauf, wenn ihnen als Gegenleistung bessere materielle Lebensbedingungen garantiert würden.
Die Unzufriedenheit großer Bevölkerungskreise mit den politischen Institutionen entlädt sich immer häufiger in Massenprotesten. Seit 1993 musste mehr als ein Dutzend demokratisch gewählter Präsidenten unter dem Druck der Straße vorzeitig zurücktreten. Das überkommene Parteiensystem geriet mehr und mehr in Misskredit, weil viele seiner Repräsentanten die Institutionen verachteten und missbrauchten. Die Mehrheit der Parteien ist ständig in neue Korruptionsskandale verwickelt, lässt es an innerparteilicher Demokratie missen und ist nicht in der Lage, auf die komplexeren Fragen einer modernen Gesellschaft passende Antworten zu geben.
In ihrer Enttäuschung über die Gleichgültigkeit der Mächtigen wandten sich immer mehr Lateinamerikaner Sammelbewegungen zu, die durch ethnische Identitäten, eine charismatische Führungspersönlichkeit oder neopopulistische Vorstellungen zusammengehalten werden. Auch diese neuen, politisch teilweise wenig erfahrenen Kräfte werden bei weitem nicht alle ihre Versprechen halten können. Viele Lateinamerikaner sehen es aber als einen großen Fortschritt an, dass es nun Regierungen gibt, die sich zumindest ernsthaft Gedanken darüber machen, wie die soziale Ungerechtigkeit beseitigt werden könnte.
Die in den vergangenen Jahren entstandenen sozialen Bewegungen sind aber nicht bloß eine Antwort auf das Versagen der alten Politikerklasse, sondern auch Ausdruck eines erstarkten Selbstbewusstseins der marginalisierten Gesellschaftsschichten.
Diesem Gefühl, genauso so viel wert zu sein wie die anderen, ist es etwa zuzuschreiben, dass in Bolivien die indianische Bevölkerungsmehrheit mit Evo Morales, der einer Aymara-Familie entstammt, im Dezember 2005 erstmals einen der ihren zum Staatschef erkor. Dem Glauben an die eigenen Fähigkeiten hat es auch Brasiliens erster Arbeiterpräsident, Luiz Inácio Lula da Silva, großenteils zu verdanken, dass die Armen seines Landes ihm gleich zweimal nacheinander das Vertrauen schenkten.
So Besorgnis erregend das geringe Vertrauen vieler Lateinamerikaner in die demokratischen Institutionen ist: Von einer akuten Bedrohung der Demokratie auf dem Subkontinent kann nicht die Rede sein. Es gibt zurzeit keine mehrheitsfähige Systemalternative zur Demokratie, ein Regimewechsel zu autoritären Herrschaftsformen ist wenig wahrscheinlich. Die Streitkräfte sind zwar in den meisten Ländern ein Machtfaktor geblieben, aber sie haben überall an Bedeutung verloren. Das Risiko, dass sie in einem Konflikt intervenieren, ist deutlich zurückgegangen. Die Gründe für den Ende der 70er-Jahre einsetzenden Niedergang der Diktaturen und die (Re-)Demokratisierung der Region waren keineswegs einheitlich. In allen Fällen galt jedoch, dass die autoritären Regime schließlich nur noch auf eine schwache gesellschaftliche Unterstützung zählen konnten. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert: Auch wenn die Leistungen der demokratisch gewählten Regierungen zu wünschen übrig lassen, dürften die wenigsten Lateinamerikaner an einer Rückkehr der Generäle interessiert sein.
Größer ist das Risiko, dass populistische Politiker mit einem ambivalenten Demokratieverständnis an die Macht gewählt werden. Politiker, die komplexe Themen auf unzulässige Weise vereinfachen, an negative Gefühle appellieren und einen selbstherrlichen Umgang mit den Institutionen der repräsentativen Demokratie pflegen. Die Populisten, ganz egal ob linker oder rechter Prägung, vermögen im Volk kurzfristig Hoffnungen zu wecken, nachhaltige Entwicklungen sind von ihnen jedoch kaum zu erwarten. Als Baumeister einer gefestigten Demokratie in Lateinamerika empfehlen sich Akteure, die willens und fähig sind, nicht nur bürgerlich-politische Rechte zu stärken, sondern auch zielstrebig und verantwortungsbewusst soziale Reformen voranzutreiben. Im Augenblick entsprechen diesem Profil wohl am ehesten die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet, ihr uruguayischer Kollege Tabaré Vázquez und Brasiliens Staatschef Lula. Auch sie haben zwar bisher bei weitem nicht alle Erwartungen ihrer Wähler erfüllt - auch deshalb nicht, weil viele Probleme sich nur mit Geduld und einer gehörigen Portion Kompromissbereitschaft lösen lassen. Aber sie bemühen sich redlich, in ihren Ländern eine nicht nur ökonomisch leistungsfähige, sondern auch sozialverträgliche Wirtschaftsordnung zu fördern. Und damit auch die Demokratie zu stärken.
Der Autor ist Korrespondent des "Zürcher Tages-Anzeigers". Er lebt seit 2001 in Buenos Aires.