USA/Mexiko
Die Staatsgrenze markiert zugleich eine Bruchstelle zwischen Arm und Reich. Eine Reportage.
Das Stadtparlament von Tijuana ist ein quadratischer brauner Klotz, mächtig und abweisend. Im Innenhof singt ein Kinderchor Weihnachtslieder, neben dem Eingang kann die Bevölkerung Schusswaffen und Sprengstoff gegen Essenspakete eintauschen - eine offizielle Maßnahme gegen die überbordende Gewalt. Die Mitglieder des sechsköpfigen Kommunalparlaments sind soeben neu gewählt worden und haben Anfang Dezember ihr Amt angetreten. In drei Jahren werden sie ihre Sessel räumen müssen, denn eine Wiederwahl ist gesetzlich ausgeschlossen. Einer der neuen Abgeordneten ist der 39-jährige Luis Bustamante von der liberalkonservativen Partei Partido Acción Nacional (PAN), der auch der mexikanische Präsident Felipe Calderón angehört. Er wird in der kommenden Legislaturperiode jene Kommission leiten, die sich in der größten mexikanischen Grenzstadt mit den administrativen und wirtschaftlichen Beziehungen zur benachbarten südkalifornischen Metropole San Diego befasst.
Bustamante trägt Anzug, Krawatte und eine schmale Brille, seine Glatze lässt ihn älter wirken, als er tatsächlich ist. Er sitzt in einem karg eingerichteten Büro, schnell und geschliffen spricht er über das gegenwärtig größte politische Problem zwischen Mexiko und den USA - ein Problem, das in der Grenzstadt Tijuana besonders drängend ist: Die illegale Migration. "Ich bin stolz auf meine Landsleute, die jenseits der Grenze harte Arbeit leisten", sagt Bustamante. Die gegenwärtigen Bemühungen der amerikanischen Regierung, den Fluss illegaler Migranten aus dem Süden zu stoppen, hält er für nutzlos und schädlich. Wenn die Präsidentschaftswahlen im Nachbarland erst einmal vorüber seien, werde sich die ganze Aufregung von selbst legen. "Ohne die mexikanischen Arbeitskräfte wäre die US-Wirtschaft doch völlig aufgeschmissen. Die Amerikaner sind genauso auf uns angewiesen wie wir auf sie."
Auf den Gängen vor Bustamantes Arbeitszimmer herrscht Betrieb wie auf einem Markt: Menschen kommen und gehen, in einer Ecke bietet ein Schuhputzer seine Dienste an, Sekretärinnen eilen vorbei, Berater und Journalisten stehen in Gruppen zusammen, lachend, diskutierend, sich gegenseitig auf die Schulter klopfend. Der Park vor dem Gebäude ist mit Imbissbuden übersät, auf den Fußgängerwegen rund ums Parlament haben zahlreiche Händler Stände und Verkaufstische aufgestellt.
Das schachbrettartig angelegte Tijuana ist ein Hort des Kommerzes, der käuflichen Erotik und des billigen Alkohols. Die Straßen der 1,5 Millionen Einwohner zählenden Stadt sind gesäumt mit Striptease-Clubs und Massagesalons, mit Restaurants und Souvenirläden, die Türsteher fordern die Passanten auf Englisch zum Betreten der Lokale auf. In den unzähligen Apotheken der Stadt ist das Potenzmittel Viagra der große Verkaufsschlager.
Während amerikanische Teenager in ihrem Heimatland einem strikten Alkoholverbot unterstehen, kriegen sie hier das Bier für 3 und die hochprozentigen Drinks für 5 Dollar, nach einem Ausweis fragt niemand. An den Wochenenden ziehen sie durch die Stadt, in betrunkener Ausgelassenheit, fasziniert von diesem neonlichtbeschienenen Sündenpfuhl, wo man für Geld fast alles bekommt. "Tijuana ist irgendwie viel intensiver als unsere Städte", sagt ein amerikanischer Collegeschüler, der übers Wochenende mit vier Freunden hergekommen ist.
Doch Taxifahrer und Ladenbesitzer beklagen sich, dass der Tourismus immer flauer werde. Denn Tijuana ist mehr als ein urbaner Supermarkt für alles, was im Norden teuer oder verboten ist. Es ist auch ein Brennpunkt der Kriminalität, des Drogenhandels und der illegalen Migration, eine schmerzhafte Bruchstelle zwischen dem Reichtum der weltweit größten Volkswirtschaft und der Armut eines lateinamerikanischen Schwellenlandes. Laut offiziellen Statistiken lebt fast die Hälfte der mexikanischen Bevölkerung im Elend. Jenseits der Grenze wartet der Traum von einem besseren Leben, aber dieses bessere Leben liegt für die illegalen Auswanderer hinter einem Wall aus immer ausgefeilteren Grenzwachtanlagen. Die Zugänge zum erhofften Wohlstand werden rund um die Uhr von Kameras, Bewegungsmeldern und Grenzpatrouillen bewacht - Instrumente einer Einwanderungspolitik, die die amerikanische Regierung in den vergangenen Jahren ständig verschärft hat.
Laut dem mexikanischen Migrationsexperten Victor Clark, der in Tijuana lebt und an der Universität von San Diego einen Lehrstuhl für lateinamerikanische Studien besitzt, war es bis 1994 denkbar einfach, die "Linea" genannte Grenze heimlich zu überqueren, und dies selbst auf Stadtgebiet. "Seit die amerikanischen Behörden eine Mauer errichtet haben, müssen die Illegalen das Land ihrer Träume über die in der Umgebung von Tijuana gelegenen Berge und durch die Wüste erreichen", sagt Clark. Nehmen sie dabei die Hilfe eines Schleppers in Anspruch, kostet dies rund 1.800 Dollar. Meistens erhalten die Auswanderer das Geld von Familienangehörigen, die den Sprung in die USA bereits geschafft haben. Die Wirkung der verschärften Einwanderungspolitik bezeichnet der Experte als sozialdarwinistisch: Wer gesund und sportlich sei, der schaffe es. Die anderen würden in der Wüste verdursten oder von der amerikanischen Grenzpolizei aufgegriffen und zurückgeschickt. "Viele bleiben in Tijuana hängen, womit das Heer der Armen immer größer wird." Dennoch gelingt es jährlich rund 400.000 Mexikanerinnen und Mexikanern, illegal in die USA auszuwandern.
Gegen sechs Uhr nachmittags treffen im weißen, quadratischen Zementgebäude der Heilsarmee die Migranten ein. Im Dezember und Januar wird es kalt in Tijuana, die Auswanderungswilligen sitzen in Wollpullovern und Windjacken im Speisesaal, essen Reis mit Bohnen und erzählen Geschichten wie jene des 25-jährigen Omar García aus dem südlichen mexikanischen Bundesstaat Chiapas. Vor neun Jahren wanderte García illegal in die USA aus, wobei er einen fünftägigen Fußmarsch durch die Wüste auf sich nahm. In Südkalifornien baute er sich eine bescheidene Existenz auf. Er arbeitete als Orangenpflücker, in Auto-Waschanlagen und bei einem Lebensmittel-Grossisten, lernte eine in den Vereinigten Staaten geborene Frau mexikanischer Herkunft kennen, setzte drei Kinder in die Welt. Für den jungen Mann mit den pechschwarzen, zurückgekämmten Harren und dem breiten Gesicht schien sich der Mythos vom besseren Leben zu verwirklichen. Die Familie besaß ein kleines Haus und einen eigenen Wagen, im Wohnzimmer stand ein Fernseher mit Videogerät.
Dann wurde García zweimal betrunken am Steuer erwischt, zu acht Monaten Gefängnis verurteilt und ausgewiesen. Weil er nicht geheiratet hatte, besaß er keine Aufenthaltsbewilligung. Dass seine Kinder amerikanische Staatsbürger sind, nützte ihm nichts. Nach fast einem Jahrzehnt in den USA setzte ihn die Migrationspolizei am Grenzübergang von Tijuana ab, García war mittellos und kannte niemanden. Während er im Gefängnis saß, war seine Frau mit einem anderen Mann zusammengezogen. Würde sie gegenüber den amerikanischen Behörden geltend machen, dass die Familie ihren Vater brauche, könnte García legal in den Norden zurückkehren. Stattdessen versucht er nun, durch Gelegenheitsarbeiten Geld zu verdienen, um zum zweiten Mal in seinem Leben heimlich die Grenze zu überqueren und seine Kinder wiedersehen zu können.
Die Heilsarmee stellt ihm eine Schlafpritsche zur Verfügung, zwischen sechs Uhr morgens und dem frühen Abend müssen die Insassen des Heims jedoch auf die Straße. Für die Übernachtung bezahlen sie 15 Pesos pro Tag, umgerechnet knapp einen Euro. "Am Morgen ist es hier schweinekalt. Ich treibe mich den ganzen Tag in der Stadt herum, auf der Suche nach Arbeit. Bisher vergeblich", erzählt García.
50.000 Fahrzeuge und 25.000 Fußgänger überqueren täglich legal den Grenzübergang zwischen Tijuana und San Diego, mehr als irgendwo sonst auf der Welt. Die Auto- und Fußgängerschlangen sind lang, im Vergleich zu amerikanischen Flughäfen verläuft die Abfertigung jedoch zügig.
Selbst auf die Gefahr hin, ein Klischee zu bedienen: Wer das Zollgebäude verlässt und US-amerikanischen Boden betritt, wähnt sich in einer anderen Welt. Keine Spur von Straßenhändlern und improvisierten Verkaufsständen, keine wuselnden Menschenmassen, keine aus Geschäften plärrenden Musikboxen. Eine Trambahn bringt den Besucher ins Zentrum der 1,2-Millionenstadt San Diego. Breite Straßen, gläserne Wolkenkratzer, protzige Geschäftsgebäude zeugen von urbanem Reichtum, der Kontrast zu Tijuana mit seinen niedrigen, eng aneinander gebauten Häusern ist himmelweit. Das Stadtparlament befindet sich in einem Hochhaus; weil im Moment keine Sitzungen abgehalten werden, ist es so gut wie menschenleer. Eine junge Angestellte mit dem erstaunlichen Namen Music Melody McCall bemüht sich um einen Interviewtermin mit einem der acht Abgeordneten - vergeblich, sie sind allesamt abwesend oder während der nächsten Tage pausenlos ausgebucht.
"Die Stadtregierung von San Diego ist mexikanischen Einwanderern gegenüber äußerst aufgeschlossen", sagt Victor Clark. "Bei einem Latino-Bevölkerungsanteil von annähernd 30 Prozent können sich die Lokalpolitiker auch nichts anderes leisten."
Ein Gespräch mit Katharine Nakamura, der mit einem Japaner verheirateten Präsidentin der Schulbehörde, bestätigt die Einschätzung des Migrationsexperten. "Die städtischen Schulen unterrichten auch Kinder ohne Aufenthaltsbewilligung. Wir fragen gar nicht erst nach Dokumenten", erklärt Nakamura. Das Recht auf Bildung gelte selbst für Illegale, verschärfte Einwanderungspolitik hin oder her. Natürlich sei es schwierig, Kinder zu unterrichten, die zunächst einmal kein Wort Englisch können. Aber eine Einwanderernation wie die USA müsse sich dieser Herausforderung stellen. Daneben gibt es in San Diego auch andere Stimmen, bloß ertönen die nicht in Amtsräumen, sondern auf der Straße. "Ich habe eigentlich nichts gegen Mexikaner, aber es kommen einfach zu viele. Irgendwann sind wir Englischsprachigen in der Minderheit. Und davor habe ich Angst", sagt eine junge Frau vor einem Supermarkt.
Die wichtigsten Industriezweige San Diegos sind die Telekommunikation und die Biotechnologie, das ökonomische Rückgrat Tijuanas bilden der Tourismus und die Maquiladoras - Montagebetriebe, in denen miserabel bezahlte Arbeiterinnen und Arbeiter importierte Einzelteile zu Exportgütern zusammensetzen. Daneben hat sich in der Stadt eines der großen mexikanischen Drogensyndikate festgekrallt, genannt "Kartell von Tijuana". Der Abgeordnete Bustamante stellt das Aufnahmegerät ab, ehe er sagt: "Diese Leute sind unglaublich brutal und gefährlich. Eigentlich sollte ich gar nicht über sie sprechen. Aber es stimmt - die Kriminalität ist völlig außer Kontrolle."
Die amerikanische Drogenbehörde DEA geht davon aus, dass die mexikanischen Kartelle gegenwärtig rund 90 Prozent des in den Vereinigten Staaten abgesetzten Kokains importieren und verteilen. Seit Jahren tobt in Mexiko zwischen den großen Drogensyndikaten ein Krieg um die Kontrolle von ganzen Regionen und von Transportwegen. Allein 2007 sind dem Gemetzel rund 2.400 Personen zum Opfer gefallen, neben Drogenhändlern auch Polizisten, Staatsanwälte und Richter. In Tijuana wurden während der letzten zwölf Monate mehr als 400 Menschen erschossen.
Drogen und illegale Migration als ständige Gefährdung des Lebens: Die Grenzmauer zu den USA ist mit Hunderten weißen Kreuzen bemalt, im Gedenken an jene, die den amerikanischen Traum mit dem Leben bezahlten Tijuana ist eine Stadt ruheloser Geschäftigkeit und überbordender Vitalität, hässlich und faszinierend. Es ist aber auch eine Stadt der Gewalt und des Todes. Von San Diego trennt es eine Distanz von 45 Kilometern - und eine ganze Welt.
Der Autor ist Mittelamerika-Korrespondent des Züricher "Tages-Anzeigers" und arbeitet unter anderem für die Publikation "Finanz&Wirtschaft".