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Die indigenen Völker sind selbstbewusster geworden und haben an politischem Einfluss gewonnen
Neues aus Argentinien: "Ceferino ist selig", sagte der Gesandte des Papstes vor Tausenden Pilgern am 11. November in Patagonien. Erstmals in der Geschichte des Landes wurde ein indigener Argentinier von der katholischen Kirche selig gesprochen - der Mapuche-Indianer Ceferino Namuncurá, der vor mehr als 100 Jahren als Märtyrer verstarb. Kaum zwei Monate später wird in Buenos Aires die Tehuelche-Indianerin Rosa Chiquichano vereidigt: Sie ist die erste Indigena, die in den Kongress gewählt wurde.
Rebellisches aus Mexiko: Subcomandante Marcos, der sich auch Delegierter Null (Delegado Zero) nennt, reiste Anfang 2006 mit dem Motorrad durchs aztekische Land, mobilisierte einmal mehr die indigene Bevölkerung und machte international auf sich aufmerksam. Es ist die Fortsetzung eines Kampfes unter seiner Führung, der vor rund 14 Jahren mit dem bewaffneten Widerstand der Zapatisten in Chiapas begonnen hat.
Sieg in Bolivien: Ein strahlender Evo Morales mit Chamarra - einer mit indigenen geometrischen Mustern verzierten Lederjacke - bewegt sich auf internationalem Parkett. Der Aymara-Indigena ist seit 2006 Präsident seines Landes.
Erfolgsgeschichten. Es scheint, als ob die indigenen Völker von Lateinamerika ein neues Gewicht in der Gesellschaft und im Staatsgebilde bekommen. Als ob sie im Vormarsch sind und aus der Bestimmungslosigkeit aufsteigen. Ist dem so? Spiegeln diese Beispiele die Realität dieser Völker im Alltagsleben? Kurzum: Ist die Zeit der Indigenas gekommen - oder wiedergekommen?
In Lateinamerika leben zwischen 30 und 40 Millionen indigene Menschen. Die Bevölkerungszahlen variieren je nach Statistik erheblich. Das hat damit zu tun, dass keine einheitlichen Standards der Erhebung existieren. Die Indigenas machen zwischen acht und zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die Weltbank spricht von zehn Prozent (2005). Einig sind sich die Demografen darin, dass der Anteil der indigenen Bevölkerung zunimmt und dass rund 90 Prozent von ihnen in Bolivien, Guatemala, Ecuador, Mexiko und Peru beheimatet sind.
Die Urvölker leben in der kalten Welt der Anden, in den feuchtheißen Regenwäldern, in Steppen, an den Küsten, immer häufiger auch in Städten. Insgesamt gibt es über 400 ethnische Gruppen und Völker in Lateinamerika. Welche Bedeutung die Indigenas und ihre Kulturen haben, muss von Land zu Land betrachtet werden, gar von Region zu Region. Das hängt mit ihrem Bevölkerungsanteil in einem Land zusammen, aber auch mit der Bedeutung, die ihnen die Gesellschaft und der Staat einräumen. Allein die Vielfalt der Völker in einem Land kann maßgebend sein, wie sehr oder wenig einheitlich sie auftreten. So leben in Brasilien rund 210 verschiedene indigene Völker, die aber nur 0,43 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
In Bolivien, Guatemala, Ecuador, Mexiko und Peru ist eine starke Präsenz der Indigenas und ihrer Kultur sowohl auf dem Land als auch in den Städten sichtbar. Ihre Kleidung, Musik, ihr Tanz, die Sprache, die Kunsthandwerke, Speisen und religiösen Rituale sind Bestandteil des Alltagslebens und prägen die Identität des Landes mit. "Auch die Medizin stützt sich oft auf das indigene Wissen über Naturheilpflanzen", sagt Adolfo Pérez Esquivel. Der Friedensnobelpreisträger (1980), dessen Großmutter eine Guaraní war, kämpft seit rund vierzig Jahren mit der Organisation Servicio Paz y Justicia in und außerhalb Argentiniens für die Rechte der Indigenas.
"Ja", sagt Pérez Esquivel, "die Erfolgsgeschichten spiegeln eine Realität." Die Indigenas "geben sich selber einen Wert und nehmen Verantwortungen wahr". Dies werde seit einigen Jahren sichtbar. In vielen Ländern hätten sich bedeutende indigene Bewegungen gebildet wie die ONIC in Kolumbien oder die CONAIE in Ecuador. "Seit den 90er-Jahren werden in verschiedenen Ländern Posten wie Bürgermeister, Parlamentarier und Minister indigen besetzt", bestätigt auch Angela Meentzen, Soziologin und Gutachterin für deutsche und internationale Organisationen in Lateinamerika. Durch Proteste, Fußmärsche, Streiks wurden Politiker abgesetzt und Verfassungsänderungen erreicht, etwa in Bolivien.
Woher die zunehmende Beteiligung der Indigenas? Hier denn auch die Kehrseite. Die andere Realität nämlich ist, dass trotz aller Errungenschaften sich an den Lebensbedingungen wenig verbessert hat. "Die Invasionen in ihre Lebensräume nehmen ständig zu", sagt Meentzen. Die Lebensgrundlagen der Indigenas wie Zugang zu Land- und Naturressourcen sowie die kulturelle Vielfalt seien heute mehr bedroht als je zuvor.
An der kolumbianischen Pazifikküste vertreiben Paramilitärs indigene Gemeinschaften, Palmölfirmen rücken nach. Im brasilianischen Amazonas roden Farmer den Regenwald und bauen Soja an. Im Süden Argentiniens grasen auf einer umzäunten Fläche von rund 900.000 Hektar Schafe des italienischen Modekonzerns Benetton - für seine Pulloverproduktion. "Die dort lebenden Mapuche mussten das Land räumen", sagt Pérez Esquivel. Holz-, Minen-, Erdgas- und Erdölfirmen zerstörten die Natur, "das macht der Indigena nicht".
Wieso interveniert der Staat nicht? Meentzen stellt die Frage anders: Kann ein lateinamerikanischer Staat ohne den Export von Bodenschätzen heute überhaupt funktionieren? Wie Regierungen und Indigenas aneinander vorbeileben, zeigt das Beispiel Argentinien besonders gut: Das Land verzeichnet seit 2003 ein jährliches Wirtschaftswachstum von rund neun Prozent. In der nördlichen Provinz Chaco, wo Wälder abgeholzt werden, starben aber im vergangenen Jahr 22 Tobas an Hunger.
Die Indigenas gehören zu den Ärmsten der Armen. So leben in Guatemala zwei Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, davon sind 90 Prozent Indigenas. Zwar ist die Armut in Lateinamerika laut jüngsten UN-Berichten zurückgegangen; die Indigenas betrifft diese Entwicklung kaum.
Hoffnung hat die im Setember von der UN-Vollversammlung verabschiedete "Deklaration über die Rechte der indigenen Völker" geweckt. Erstmals wird den Indigenen das Recht zur Selbstbestimmung zugestanden. Sowohl Pérez Esquivel als auch Angela Meentzen begrüßen die Deklaration. Allerdings sei sie rechtlich nicht verbindlich, "solange sie nicht in die nationale Gesetzgebung umgesetzt worden ist", sagt Meentzen. Die Zukunft zeige erst, was die Deklaration bringe, meint Pérez Esquivel lakonisch. Denn wenn sich die Lage der Indigenas an einem Ort verbessert, verschlechtert sie sich anderswo. "Es ist ein ewiger Kampf", sagt der Friedensnobelpreisträger. Ein hoffnungsloser Kampf? "Nein, die indigenen Völker haben ein neues Identitätsgefühl entwickelt." Meentzen: "Der Zugang zu Bildung und Gesundheitsdiensten sowie ihre Rechtslage haben sich in vielen Ländern verbessert." Und Medien berichten immer häufiger, dass Indigenas Gerichtsfälle gegen staatliche Stellen und private Unternehmen gewinnen.
Dennoch bleibt die Frage: Der Fortschritt rollt an, was will man dagegen tun? "Es braucht staatliche Indigena-Politik mit Sonderrechten für die indigenen Völker", sagt Meentzen.
Nach einem "Indigenen Kongress" in Süden Mexikos fragte Pérez Esquivel zwei Mayas, wie sie sich den Fortschritt vorstellten. "Fortschritt? Dieses Wort existiert in unserer Sprache nicht", sollen sie geantwortet haben. "Wir brauchen das Wort Gleichgewicht - Gleichgewicht mit uns selber, der Erde, dem Kosmos und Gott." Wenn man dieses störe, entstehe Gewalt, "das, was ihr erlebt", so die Mayas. Pérez Esquivel schließt: "Unsere Aufgabe ist es also, das Gleichgewicht wiederherzustellen."
Die Autorin ist freie Journalistin und Redakteurin in Buenos Aires.