medellín
Vor einigen Jahren eine Hochburg des Terrorismus - heute Modell für soziale Transformation durch mutige Reformen
Schüsse fallen in einer schmalen Straße von Santo Domingo Savio, einem der Armenviertel, die an den Berghängen von Medellín, Kolumbiens zweitgröß-ter Stadt, emporwuchern. Vor einigen Jahren hätten sie höchste Gefahr signalisiert, doch diesmal sind sie Ausdruck der Freude, des Gedenkens an die Schutzheilige der Stadt. Viel hat sich hier verändert, wo 140.000 Menschen auf engstem Raum zusammenleben. Früher mussten sie stundenlang mit einem der Minibusse hinunter ins Tal zur Arbeit fahren. Heute bringt das Metrocable, eine vollautomatische Kabinenseilbahn, täglich 40.000 von ihnen hinunter zur Metrostation, zur einzigen U-Bahn des Landes, die das langgezogene Tal von Medellín schnell durchquert.
"Das Metrocable ist phantastisch" - meint eine junge Frau. "Es ist eine exzellente Ingenieur-Leistung, die zwei Welten verbindet." Die Seilbahn mit den kleinen Kabinen für jeweils acht Fahrgäste schwebt an drei riesigen schwarzen Blöcken vorbei. Sie stehen auf einer Plattform am Hang und ragen wie Fremdkörper aus dem Gewirr von steilen Gassen und ineinander verschachtelten Behausungen hervor: Symbole der Veränderung, die in Medellín stattfindet, seit Sergio Fajardo hier Bürgermeister ist.
Bibliotheken-Park heißt das Projekt, das der unkonventionelle Mittvierziger, der nur bei Staatsbesuchen eine Krawatte trägt, seit 2004 verwirklicht hat. Es umfasst insgesamt fünf solcher Bibliotheken in parkähnlichen Anlagen. Sie liegen in jenen armen Stadtvierteln, in denen sich Hunderttausende von Kolumbianern in den vergangenen Jahrzehnten angesiedelt haben. Terrorbanden von Großgrundbesitzern und Drogenbossen, Paramilitärs, aber auch die Guerilla und nicht selten das Militär hatten sie aus ihren Dörfern vertrieben. Insgesamt flohen vor dieser Gewalt 3,8 Millionen Bewohner, nach dem Sudan die zweitgrößte Zahl von Binnenflüchtlingen weltweit. Jährlich kommen noch immer etwa 200.000 hinzu. Viele von ihnen suchen in Medellín eine Zuflucht. So wachsen die Armenviertel an den Hängen der Stadt immer weiter empor.
Lange Zeit wurden sie von der politischen Elite missachtet und vom Staat vernachlässigt. Die Banden nutzten den staatsfreien Raum und sickerten in die Flüchtlingsviertel ein, um arbeitslose Jugendliche für ihre kriminellen Zwecke zu rekrutieren. Dabei lieferten sie sich untereinander blutige Gefechte und verwandelten beispielsweise Santo Domingo Savio in einen der gefährlichsten Stadtteile von Medellín.
"Vor sechs, sieben Jahren", erzählt eine ältere Frau, "war hier niemand seines Lebens sicher. Da beherrschten die Guerillas die eine Straße und die Paramilitärs die andere, wenn es dunkel wurde. Die Polizei traute sich nicht mehr hierher." Durch das Metrocable und die Bibliothek habe Santo Domingo einen großen Sprung vorwärts gemacht. "Wir können unsere Kinder wieder problemlos in die Schule schicken und abends sogar das Haus verlassen."
Bürgermeister Fajardo hat die Infrastruktur verbessert und zahlreiche Polizeiposten in den Armenvierteln errichtet. Der Staat zeigt wieder Präsenz. Selbst beim Fest für die Schutzheilige patrouillieren die Ordnungshüter, manchmal sogar schwer bewaffnet, denn die Banden sind nicht verschwunden. Einige haben das Angebot der Regierung, die Waffen niederzulegen, angenommen und sich einem Resozialisierungsprogramm angeschlossen. Andere sind untergetaucht, weil ihnen die städtische Reformpolitik den Boden entzogen hat. Und weil nun eine der Straßen, in der sie sich früher beschossen haben, von der Endstation des Metrocable zu einem Bibliotheken-Park führt, vorbei an einer Terrasse, die einen großartigen Blick auf Medellín und die gegenüberliegenden Armenviertel gewährt. "Mit jedem Schritt, mit dem wir die Gewalt eindämmen, müssen wir den Leuten soziale Angebote machen." So lautet das Motto des studierten Mathematikers Fajardo. "Unser Ziel war es, die Sicherheit wieder herzustellen und die Lebensqualität zu verbessern, damit die Leute den Fortschritt sehen und Medellín von der Angst zur Hoffnung übergeht."
Der Bürgermeister begnügte sich nicht damit, den öffentlichen Raum zu sichern. Er wollte ihn durch gezielte Intervention für eine friedliche Gesellschaft zurückgewinnen, beispielsweise durch die Bibliotheken-Parks, die er von den besten Architekten des Landes bauen ließ. "Das Schönste, das die Stadt zu bieten hat, haben wir in die ärmsten Viertel gebracht, wo die Zerstörung und die Verzweiflung am größten waren." Die drei schwarzen Blöcke von Santo Domingo Savio erscheinen wie eine trotzige Manifestation der Kultur in einem Umfeld von Hoffnung und Ungewissheit. Sie sind auf organische Weise miteinander verbunden. Das fünfstöckige Innere bildet ein lichtes Areal, ist sozusagen vom Licht der hier versammelten Erkenntnis durchflutet. Vom Eingang aus trifft der Besucher zunächst auf den Lesesaal mit mehr als 12.000 Bänden in Abteilungen für Erwachsene, Jugendliche und Kinder sowie eine Galerie nur für die Kids. Dort stehen drei Dutzend Computer mit Internet-Anschluss. Im Block rechts daneben befinden sich auf mehreren Ebenen Räume für Sport und künstlerische Entfaltung. Im Untergeschoss hat sich die Verwaltung eingerichtet. Im ganzen Gebäude ist es ziemlich laut, denn geschlossene Bereiche gibt es kaum: Licht und Luft sollen überall Zugang haben. Doch den meist jungen Leute, die für die Bibliothek tätig sind, macht der hohe Geräuschpegel nichts aus.
Nur das großzügig ausgestattete Auditorium mit etwa 200 Plätzen links vom Eingang stellt eine Oase der Ruhe dar. Hier werden Filme vorgeführt, finden Lesungen statt, treten Puppentheater-Gruppen und Popbands auf. Auch hat das philharmonische Orchester Kolumbiens hier bereits gespielt, und regelmäßig diskutiert in diesem Raum die Gemeinde über ihre Probleme.
Auf dieser Dreiteilung - Lesesaal-Rekreationsbereich-Auditorium - basieren alle fünf Bibliotheken-Parks. Sie unterscheiden sich hauptsächlich durch ihre Architektur, die andernorts terrassenförmig angelegte Pavillons bevorzugt. In der Comuna 13, dem von der Gewalt am schlimmsten heimgesuchten Stadtbezirk, ist der Bibliothek eine vierte Einheit angegliedert: das "Zentrum für die Entwicklung gewerblicher Aktivitäten" (CEDEZO). Es bietet praktische Anleitungen zu ökonomischer Selbsthilfe, wo also jeder lernen kann, wie er ein Gewerbe vernünftig aufzieht. Dafür erhält er Minikredite von der so genannten Bank der Armen. Dieses Programm ist besonders wichtig, denn rund 60 Prozent der Wirtschaftskraft von Medellín erbringen Kleinunternehmer.
Neben dem neuen Kultur- und Gemeindezentrum der Comuna 13 wird gerade eine Schule fertiggestellt: ein großzügiges Gebäude für 3.000 Schüler. Ihr Sportplatz und die Werkstätten für Informatik werden künftig außerhalb des Unterrichts auch der Gemeinde zur Verfügung stehen. Diese Schule ist Teil des großen Bildungsprojekts, das Bürgermeister Fajardo in seiner Amtszeit realisiert hat. "Medellín - am besten gebildet" - mit diesem Versprechen hat er geworben und in Kultur und Bildung insgesamt 40 Prozent des Stadtbudgets investiert. Das ist einmalig in Lateinamerika, aber auch dringend nötig, denn das öffentliche Schulwesen befindet sich in einem prekären Zustand - wie ein Blick auf die benachbarte, alte Lehranstalt zeigt. Sie liegt am Ende einer Sackgasse: neben einem Nonnenkloster und gegenüber von Medellíns Frauengefängnis.
In dieser Welt mit wenig Aussicht hat vor Jahrzehnten eine deutsche Nonne eine Schule gegründet, die längst öffentlich verwaltet und wie viele lange vernachlässigt wurde. Da neue Gebäude in der Vergangenheit nur selten gebaut wurden, ist hier Schichtunterricht angesagt: am Vormittag für die jüngeren, am Nachmittag für die älteren Schüler. "Es gibt hier für nichts einen würdigen, adäquaten Platz" - erklärt die Rektorin. "Wir brauchen eigentlich eine Küche, haben aber nur ein paar Kühlschränke. Im Mehrzweckraum, wo wir ab und zu ein paar Videos zeigen oder Musik machen, müssen die Kinder auf dem Fußboden hocken, weil wir für sie weder Bänke noch Stühle haben. Die Toiletten sind uralt und unhygienisch und reichen schon lange nicht mehr aus." Denn in den Klassen herrscht - trotz Schichtunterricht - ein beängstigendes Gedränge von bis zu 50 Schülern.
Der Grund für das Debakel ist in der rasant gestiegenen Bevölkerungszahl zu finden, die sich durch den Zustrom der Flüchtlinge in den vergangenen 30 Jahren auf mehr als zwei Millionen verdoppelt hat. Und in der Ignoranz der Stadtverwaltung, die den Schulbau nicht angemessen förderte. Wer es sich leisten kann, schickt sein Kind deshalb auf eine der zahlreichen Privatschulen.
Wie finanziert die Stadt Medellín das alles? "Wir gehen sehr sparsam mit unseren Mitteln um, haben die Privilegien in der Verwaltung abgeschafft und die Kanäle der Korruption verstopft", erklärt der Bürgermeister. Aber die Bürger sind auch bereit, wieder Steuern zu bezahlen, weil die Stadtreform sichtbare Erfolge brachte und die Gewaltakte auf ein Zehntel zurückgingen: von 7.500 Morden in 1994 auf 750 in 2006. Selbst viele Unternehmer haben begriffen, dass Frieden den Geschäften nützt, und engagieren sich für die Stadt.
Medellín, die einstige Hochburg des Terrors, hat sich wieder zu einem der wichtigsten industriellen und kulturellen Zentren Kolumbiens aufgeschwungen - dank einer mutigen Reformpolitik. Die Mehrheit der Bevölkerung hat sie im Oktober honoriert und sich erneut für die unabhängige Bürgerbewegung entschieden, nunmehr mit Alonso Salazar an der Spitze, dem bisherigen Stellvertreter Fajardos, der selbst nicht wiedergewählt werden konnte.
Der Autor beschäftigt sich seit den 1960er-Jahren als Journalist und Publizist mit Lateinamerika.