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Lateinamerika leidet zunehmend unter den Folgen der Auswanderung
José, ein 16-jähriger Schüler aus El Salvador, braucht nicht lange zu überlegen, wenn man ihn fragt, wie viele seiner Familienangehörigen in den USA leben. Genau vier Onkel und fünf Cousins sind es. Durchgefüttert und erzogen wird er von der Mutter, der Vater lässt sich seit Jahren nicht mehr blicken. José ist sich unschlüssig darüber, ob auch er illegal in die USA ziehen will. Ja, wahrscheinlich schon, "sobald ich den Schulabschluss in der Tasche habe", sagt er etwas verschämt. Man schätzt, dass täglich 700 Personen das zentralamerikanische Land auf der Suche nach dem "American Dream" verlassen. Laut einer Studie des Uno-Entwicklungsprogramms (UNDP) verdient ein Salvadorianer, der in seinem Heimatland lebt, jährlich im Durchschnitt 2.300 Dollar, während das Pro-Kopf-Einkommen der ausgewanderten Salvadorianer in den USA knapp 14.000 Dollar ausmacht.
Der dicht bevölkerte Kleinstaat El Salvador ist auch für Lateinamerika ein Extrembeispiel. Der Bürgerkrieg, und die damit verbundene Massenauswanderung hätten El Salvador in den vergangenen 30 Jahren völlig verändert und zu einem "transnationalen Land" gemacht, schreiben die Verfasser der UNDP-Studie. Die Bevölkerung ist zweigeteilt. Während 6,9 Millionen Salvadorianer in ihrer Heimat leben, sind 2,6 Millionen im Ausland, vor allem in den USA, ansässig. Wie dramatisch sich die Verhältnisse verändert haben, zeigt die Statistik der Deviseneinnahmen des Landes. 1978 stammten 80 Prozent aus der "Dessertwirtschaft" - dem Export von Zucker, Kaffee und Bananen. Eine Generation später machen die Rimessen der Migranten 70 Prozent des Dollar-Zuflusses aus.
Nicht nur in El Salvador, auch in anderen Ländern Lateinamerikas, vor allem in Zentralamerika und der Karibik, sind die milliardenschweren Überweisungen der Auswanderer zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden. Insgesamt 68 Milliarden US-Dollar haben im Jahr 2006 Migranten in die Region südlich des Rio Grande geschickt. Damit übertreffen die tröpfchenartig verteilten Gelder den Betrag für Direktinvestitionen oder Entwicklungshilfe. Für viele Menschen in Mexiko und Brasilien, aber auch in Zentralamerika und der Karibik sind die monatlich eintreffenden Überweisungen von Familienangehörigen fester Bestandteil des Haushaltsbudgets geworden. Sie gelten als die wirkungsvollste Art von Sozialhilfe, weil sie ohne bürokratische Umtriebe und Abzüge direkt in den Taschen der Begünstigten landen. In den Ländern auf der mittelamerikanischen Landbrücke, zwischen Panama und Guatemala, schicken Migranten - meistens aus den USA - im Durchschnitt zwölf Mal jährlich 240 US-Dollar nach Hause. 55 Prozent der Empfänger sind zwischen 18 und 34 Jahren, 58 Prozent Frauen.
Als Faustregel gilt, je kleiner das Bruttoinlandsprodukt (BIP) eines lateinamerikanischen Landes und je kürzer die Distanz zu den USA, umso größer der Anteil der Rimessen. An der Spitze steht Honduras, wo die Überweisungen ein Viertel des BIP ausmachen, gefolgt von Haiti mit einem Anteil von gut einem Fünftel. In absoluten Zahlen gemessen, gelangt am meisten Geld nach Mexiko und Brasilien, doch fällt angesichts der Wirtschaftskraft der Geldfluss aus den USA und Europa dort weniger ins Gewicht. Ein Viertel aller Familien erhält in El Salvador immer wieder Geld von den in der Fremde lebenden Verwandten. In einzelnen Gemeinden im Landesinnern sind es gar bis zu zwei Drittel der Haushalte.
Gift, nicht Manna seien die Dollarnoten aus dem Norden, beklagt sich eine Mittelschullehrerin. Schüler und Schülerinnen nähmen es für selbstverständlich, dass regelmäßig Geld vom Himmel falle, und seien wenig motiviert, nach Schulabschluss ein Studium anzutreten oder gar an einen - schlecht bezahlten - handwerklichen Beruf zu denken.
Manch einer der Migranten denkt an die Rückkehr und investiert in der Heimat in ein Haus, ein Grundstück oder gar einen kleinen Betrieb. "Ein neues Haus in Deinem Land" heißt der Slogan eines Maklers, der auf den Internetseiten salvadorianischer Zeitungen die finanzstarke Exilgemeinde bewirbt. Im Angebot sind Liegenschaften in neuen Überbauungen, die verlockende Namen wie Ciudad Versailles oder Villa Montecarlo tragen. Um den Kauf zu erleichtern, bietet die salvadorianische Banco Agrícola sogar Hypotheken an, die in den USA abgeschlossen und verzinst werden, aber auf eine Immobilie in El Salvador lauten.
Doch die Ausgewanderten senden nicht nur Geld nach Hause, sondern verändern die traditionelle salvadorianische Identität, die Kultur, den Lebensstil und die Erwartungen der Daheimgebliebenen. In auseinandergerissenen Familien kommt es zu neuen Rollenverteilungen, wird die Erziehung zu einem Problem. Dank günstiger Flugtarife herrscht ein reges Kommen und Gehen zwischen Diaspora und Heimat. "Mit den Füßen leben wir in unserem Land, aber mit dem Kopf in den USA", sagt José. Er beschreibt anschaulich ein Geburtstagsfest in seinem Haus. Während sich die Familie bei Essen und Tanzen vergnüge, klingle unentwegt das Handy. Es komme ihm so vor, als ob alle Verwandten im Ausland auch dabei sein wollten. "Wir schicken Arbeitslose in die USA, und zurück kommen Verbrecher", beklagt sich der Bürgermeister einer Landgemeinde in El Salvador. Er erzählt von einem aus den USA repatriierten salvadorianischen Kriminellen, der in seinem Dorf ein ganzes Netz gesponnen und Jugendliche für seine Zwecke eingespannt hat. Menschen wurden bedroht, erpresst und erschossen.
Zu den Schattenseiten der Emigration gehört die massive Rückkehr von kriminellen Migranten. In den vergangenen Jahren sind in El Salvador, Guatemala und Honduras überall gewalttätige Jugendbanden, so genannte "Maras", entstanden. Zu ihnen stoßen meist junge Männer, die aus persönlichen Gründen aus den USA zurückgekehrt sind oder wegen Vergehen von den amerikanischen Behörden deportiert wurden. Viele unter ihnen haben Lebensformen und Verhaltensmuster nach Hause gebracht, die sie von marginalen Gruppen und speziellen Subkulturen wie den Straßengangs in Kalifornien übernommen haben. Mit jährlich 55 Gewaltopfern pro 100.000 Einwohner steht El Salvador an der Spitze der Kriminalstatistiken Süd- und Zentralamerikas.
Der Autor war bis vor kurzem Korrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung" in Lateinamerika und arbeitet jetzt in Genf.