VON BERNADETTE SCHWEDA
"Niemand denkt an Lateinamerika, niemand interessiert sich dafür", bedauerte 1993 der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes in einem Zeitungsinterview. So ganz stimmte das nicht. Gemessen aber an der Größe des Subkontinents mit etwa 20 Millionen Quadratkilometern, einer halben Milliarde Einwohner und seinem immensen - noch nicht ausgeschöpften - Wirtschaftspotenzial spielt die Region global nach wie vor eine beinahe marginale Rolle. Nach dem Schock des 11. Septembers 2001 hat das internationale Interesse an Lateinamerika weiter nachgelassen. Sogar die Vereinigten Staaten haben ihren "Hinterhof" im Kampf gegen den Terrorismus ein wenig aus den Augen verloren. Und Europa? Die historisch gewachsenen Beziehungen des Alten Kontinents - vor allem der früheren Kolonialmächte Spanien und Portugal - sind nie abgebrochen worden, aber Europa hat sich in dem vergangenen Jahrzehnt vor allem mit sich selbst beschäftigt. Und die 1999 in Rio de Janeiro angekündigte "strategische Partnerschaft" ist eine blutleere Floskel geblieben. Kaum zu glauben: Die Außenhandelsbilanz der Europäischen Union mit Lateinamerika ist mit dem Handelsvolumen der Gemeinschaft mit der Schweiz vergleichbar.
Seit einigen Jahren rückt Lateinamerika aber mehr ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit. Geschuldet ist diese Tatsache größtenteils handfesten Wirtschaftsinteressen. Entscheidend ist dabei der Hunger nach Rohstoffen, die vor allem die Schwellenländer Asiens für ihren Wirtschaftsboom dringend brauchen, die aber auch für die alten Industrienationen zunehmend von strategischem Interesse sind. Die Wirtschaft wächst denn auch im sechsten Jahr in Folge - erfreulicherweise meistens unabhängig von Regierungswechseln in mehreren Ländern der Region. Daraus erwächst auch ein neues Selbstbewusstsein der politischen Elite Lateinamerikas, das sich von der gefühlten Vormundschaft der USA und Europas emanzipieren will. "Jetzt haben wir entschieden, dass wir erwachsen sind", so der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva.
Es gibt weitere erfreuliche Entwicklungen: Die (Re-)Demokratisierung der Region nach der Periode der Militärdiktaturen schreitet trotz einiger politischer und wirtschaftlicher Krisen seit 30 Jahren voran. Die noch vor einigen Jahren befürchtete "Afrikanisierung" Südamerikas ist ausgeblieben, der Anteil der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze lebt, hat sich von 44 Prozent im Jahre 2002 auf 35 Prozent im vergangenen Jahr verringert.
Dennoch bleibt Lateinamerika mit negativen Superlativen behaftet: Hier gibt es nach wie vor die weltweit größten Unterschiede zwischen Arm und Reich, die Drogenkriminalität und Gewalt im Alltag haben sogar zugenommen und der Rohstoffreichtum kann sich auch in einen Fluch verwandeln. Eines ist sicher, die Region zwischen Rio Grande und Feuerland wird in naher Zukunft im Fokus des globalen Interesses bleiben.