Erfassung der Arten
Wie viele Spezies gibt es wirklich?
Die Wissenschaftler an Bord des deutschen Forschungsschiffs "Polarstern" staunten nicht schlecht, als sie während dreier Expeditionen in das antarktische Weddell-Meer ihre Netze und Sedimentstecher aus über 6.000 Metern Tiefe zurück an Deck hievten. "In unseren Proben wimmelte es nur so von bis dato unbekannten Lebensformen", sagt Studienleiterin Angelika Brandt von der Universität Hamburg. Allein zwei Drittel der rund 900 Arten von Meeresasseln, die Brandt und Kollegen in den Jahren 2002 bis 2005 ans Tageslicht beförderten, erwiesen sich als bisher unbeschriebene Spezies. Dabei hatte die eiskalte, lichtlose Tiefsee rund um die Antarktis zuvor als karge Wüste der Biodiversität gegolten.
Aber selbst in ausgiebig erforschten "Hotspots" der Artenvielfalt wie den tropischen Regenwäldern bringt jede Expedition noch etliche neue Arten zutage. Vor allem solche mit sechs Beinen: Insekten stellen rund 80 Prozent der weltweit erfassten etwa zwei Millionen Tierarten. Diese zwei Millionen sind mit Sicherheit nur ein kleiner Teil der tatsächlichen globalen Biodiversität. Wie viele Spezies wirklich existieren, ist allerdings umstritten. Ernstzunehmende Schätzungen schwanken zwischen vier Millionen und deutlich über 100 Millionen Arten.
Warum ist es so schwer, die tatsächliche Artenvielfalt auch nur halbwegs genau abzuschätzen? Zunächst fehlt es an Spezialisten, die Tiere oder Pflanzen bestimmen können und Neulingen gegebenenfalls ihren Platz im System des Lebens zuweisen. Taxonomen mit einem umfassenden Überblick über die Formenvielfalt von Meeresasseln etwa lassen sich weltweit leicht an den Fingern abzählen. Abhilfe schaffen könnten hier nur erheblich mehr Forschungsgelder und ein Imagewandel der als angestaubt geltenden Disziplin.
Doch auch die besten Taxonomen kämpfen mit einem kaum zu lösenden Problem: der Unschärfe des biologischen Artbegriffs. Denn während Hund und Katze unzweifelhaft unterschiedlichen Arten angehören, ist diese Entscheidung bei zwei Käfern, die sich nur in Details ihrer Zeichnung unterscheiden, oft Anlass für heftige Debatten. Und auch das auf den Deutschen Ernst Mayr zurückgehende Artkonzept, demzufolge sich nur Angehörige einer Art fruchtbar miteinander fortpflanzen, gilt nicht immer. So können etwa Tiger und Löwe im Zoo fruchtbare Liger und Tigons zeugen und müssten deshalb eigentlich zu einer Art zusammengefasst werden.
Gleichzeitig können sich Tiere, die aufgrund ihres identischen Aussehens bisher als eine einzige Art geführt wurden, als zwei oder noch mehr Arten entpuppen. Ein klassisches Beispiel sind der Fitislaubsänger und der Zilpzalp, die erst an ihrem Gesang zu unterscheiden sind. Doch die Unterschiede zwischen solchen so genannten kryptischen Arten können auch weit subtiler sein und lassen sich oft erst durch neue genetische Analysen nachweisen. "Damit erhöhen sie die ohnehin kaum abzuschätzende globale Biodiversität noch einmal erheblich", meint Klaus Schwenk von der Universität Frankfurt.
Angesichts dieser unsicheren Datengrundlage sind Schätzungen zum Ausmaß des gegenwärtigen, menschgemachten Artensterbens nicht viel wert. Gerade mal 785 offiziell ausgelöschte Spezies stehen auf der aktuellen Roten Liste der Weltnatur- schutzunion. Die begutachtet allerdings nur wissenschaftlich beschriebene Arten und auch die längst nicht vollständig. Der renommierte Harvard-Zoologe Edward O. Wilson geht dagegen von täglich 73 aussterbenden Arten aus. Diese vielzitierte Zahl mag besonders pessimistisch sein. Doch eines ist sicher: Ist eine Art erst ausgestorben, so kommt sie nie mehr zurück.