KRIEGSVERRAT
Pauschale Aufhebung der Urteile oder Einzelfallprüfung? Koalitionsstreit zeichnet sich ab
Kriegsverrat ist, zumindest wenn man den Worten des Mainzer Zeithistorikers Professors Sönke Neitzel glauben darf, zum Beispiel der Fall des 29-jährigen Oberleutnants Herbert Schmid. Er hatte den Auftrag, mit seinem Nachtjäger des Typs Ju 88 R-1 über der Nordsee eine britische Kuriermaschine abzufangen.
Er startete vom dänischen Aalborg-West aus, täuschte einen Motorschaden vor und setzte sich dann im Tiefflug nach Schottland ab. Am Nachmittag des 9. Mai landete er auf dem schottischen Flugplatz Dyce bei Aberdeen. Sein Nachtjäger war mit streng geheimen elektronischen Geräten ausgerüstet, die er den Briten zugänglich machte.
Von besonderem Wert war das Bordradargerät. Schmid, so Neitzel weiter, lieferte den Briten das damals wichtigste Geheimnis der deutschen Luftverteidigung sozusagen frei Haus. Er trug mit seinem Kriegsverrat entscheidend zum Zusammenbruch der deutschen Luftverteidigung im Sommer 1943 bei. Die Folge waren, so Neitzel, Zehntausende von toten deutschen Zivilisten.
Der Sachverständige zog somit in einer Anhörung des Rechtsausschusses am 5. Mai das Fazit, dass die Weitergabe militärisch relevanter Informationen in vielen Fällen "sehr wohl zu erheblichen eigenen Verlusten" führte.
Damit widersprach er der Fraktion Die Linke, deren Antrag ( 16/3139) darauf zielt, Urteile der NS-Militärjustiz wegen Kriegsverrats pauschal, ohne Einzelfallprüfung aufzuheben. Ihr Abgeordneter Jan Korte sagte in der ersten Lesung des Gesetzentwurfes, die Einzelfallprüfung müsse aufgehoben werden, weil sie zum Ausdruck bringe, dass Unrechtsurteile von Nazi-Richtern ohne rechtsstaatliche Grundsätze und zum Schutze eines menschenverachtenden Systems gefällt worden seien. Korte sieht nach der Anhörung Bewegung in das Thema gekommen.
Professor Wolfram Wette war ebenfalls der Meinung, Urteile wegen Kriegsverrats sollten pauschal aufgehoben werden. Die meisten Fälle dieses Delikts seien politisch oder moralisch-ethisch motiviert gewesen. Wer Widerstand gegen das verbrecherische NS-Regime für legitim halte, sollte den wegen Kriegsverrats Verurteilten die Rehabilitierung nicht verweigern, so Wette. Der Historiker, der 24 Jahre im Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg im Breisgau tätig war, hatte (zusammen mit Detlef Vogel) vor einem Jahr ein Buch veröffentlicht ("Das letzte Tabu - NS-Militärjustiz und Kriegsverrat", siehe "Das Parlament" Nr. 39 vom 24. September 2007).
Wette vertrat genau die gegenteilige Ansicht zu der Auffassung Neitzels. Zwar hätten Angehörige des konservativen Widerstandes - Zivilisten und Militärs - Personen aus der Berliner Widerstandsgruppe "Rote Kapelle" militärische Angriffsplanungen verraten. Es sei jedoch nicht erkennbar, dass diese Informationen zu einer unmittelbaren Lebensgefahr für eine Vielzahl deutscher Soldaten geführt hätten, so Wette. Die meisten "kleinen Leute" in Uniform hätten zu dem Geheimnisverrat dieser Art gar keine Gelegenheit gehabt.
Diese Auffassung vertrat auch der ehemalige Richter am Oberlandesgericht Braunschweig Helmut Kramer: Es sei ihm bei eigenen Forschungen kein einziger Fall bekannt geworden, in dem ein deutscher Soldat zum Gegner übergelaufen wäre und dann solche Angaben über die verlassene Truppe gemacht hätte, in deren Gefolge deutsche Soldaten tatsächlich ernsthaft gefährdet worden wären oder gar ihr Leben verloren hätten.
Der Sachverständige Professor Rolf-Dieter Müller vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr aus Potsdam konterte die Angaben: Es handele sich bei der Publikation Wettes "um eine wissenschaftlich-methodisch nicht abgesicherte Dokumentation" von 29 Fällen, die weder repräsentativ noch eindeutig seien. Allein die Zahl der in Fragen kommenden Fälle sei bislang nicht zuverlässig zu ermitteln. Während Müller auf die Urteil der Feldkriegsgerichte verwies (rund 180.000 Akten), war Wette anderer Auffassung: Es spreche wenig für Annahme, bei den Feldkriegsgerichten sei die Mehrheit der Urteile wegen Kriegsverrats zu finden. Fälle dieser Art seien gleich an das Reichskriegsgericht abgegeben worden. "Ganz schlimm" sei es, die Urteile wegen Kriegsverrats nicht aufzuheben, wegen einer nicht auszuschließenden Gefahr für deutsche Soldaten, so die Schlußfolgerung des 88-jährigen Sachverständigen Ludwig Baumann, Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz. Leute, die so argumentierten, hätten sich von der NS-Vergangenheit nicht distanziert. Professor Manfred Messerschmidt, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats derselben Vereinigung, nannte es überfällig - und unter Bezug auf den Spruch "In Deutschland kann keine Revolution stattfinden, weil es verboten ist, den Rasen zu betreten" -, dass der Gesetzgeber endlich "den Rasen betrete", um Kriegsverräter zu entlasten.
Zieht man ein erstes Fazit der Anhörung, so kann man nur konstatieren, dass die von der SPD benannten Sachverständigen durchweg dem Antrag der Linksfraktion zustimmten. Die Grünen sind ohnehin dafür. Norbert Geis (CDU/CSU-Fraktion), der in der ersten Lesung des Antrages davon sprach, dass auch in einem "ungerechten Krieg" Rechtsregeln gelten müssten, sagte, es könne "nicht das Verbrechen des Verrates generell als gerechtfertigte Tat abgesegnet werden". Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) scheint da auf einem gänzlich anderen Weg. Sie forderte in ihrer Antwort ( 16/6163) auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion ( 16/6069), die Bundesregierung sollte über eine pauschale Rehabilitierung von Kriegsverrätern neu nachdenken. Eine erneute Konfrontation zwischen den Koalitionspartnern zeichnet sich also ab.