südkaukasus
In der Region glimmen Grenzkonflikte. Die Minderheiten berufen sich auf den Fall Kosovo
Die drei Minderheiten im Südkaukasus begrüßten die Unabhängigkeitserklärung des Kosovos im Februar ausdrücklich: Kein Wunder - die Abchasen und Osseten in Georgien wie die Armenier in Berg-Karabach kämpfen selbst seit nunmehr zwanzig Jahren um ihr Selbstbestimmungsrecht. Die Konflikte glimmen und kommen immer wieder offen zum Ausbruch. Abchasien, das völkerrechtlich zu Georgien gehört, wirtschaftlich aber von Russland abhängig ist, spielte auch jüngst im georgischen Wahlkampf eine Rolle: Das Fernsehen zeigte am Wahltag brennende Busse und berichtete von Schusswechseln zwischen abchasischen und georgischen Sicherheitsleuten. Abchasien habe Vertreter der georgischen Minderheit am Wählen hindern wollen, so die Lesart aus Tiflis. Für Abchasien wiederum war das eine Inszenierung des georgischen Geheimdienstes.
Immerhin planen Russland und Georgien, sich an einen Tisch zu setzen: Während eines Wirtschaftsforums Anfang Juni in Sankt Petersburg wollen der russische Präsident Medwedew und der georgische Präsident Saakaschwili miteinander reden. "Wir sind um Entspannung in dieser äußerst verschärften Situation bemüht", zitierte die russische Agentur Interfax Saakaschwili, der auf den Streit um den Abschuss einer georgischen Drohne durch Russland am 20. April anspielte.
Schon während der Perestrojka 1985 eskalierten in der Kaukasus-Region die ethnischen Konflikte, deren historische Wurzeln tief in die Vergangenheit reichen. Als Michail Gorbatschow versprach, alle Fehler des Stalinismus in der Nationalitätenfrage zu korrigieren, meldeten sich die Minderheiten zu Wort und forderten mehr Autonomierechte. Im Februar 1988 begann in der armenischen Exklave Berg-Karabach, die Stalin 1921 Aserbaidschan einverleibt hatte, eine Bewegung für die Wiedervereinigung mit Armenien. Daraufhin kam es in der aserbaidschanischen Stadt Sumgait zu Pogromen gegen die Armenier. In Georgien forderten wiederum die Autonome Republik Abchasien und der Bezirk Südossetien mehr Selbstbestimmung.
Nach dem Zerfall der UdSSR in Dezember 1991 führten die Sezessionsforderungen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen: den zwischenstaatlichen armenisch-aserbaidschanischen Konflikt um Berg-Karabach sowie dem georgisch-abchasischen und den georgisch-ossetischen Krieg. Dank russischer Vermittlung wurde 1993 und 1994 Waffenstillstand vereinbart. Um eine endgültige Lösung dieser "eingefrorenen Konflikte" bemühen sich bislang vergeblich die Vereinten Nationen und die OSZE.
Um Bewegung in die festgefahrene Situation zu bringen, engagieren sich auch die EU und die NATO wieder stärker in der Region. Dass dies nicht auf die ungeteilte Zustimmung Moskaus trifft, überrascht angesichts der unterschiedlichen Interessen nicht. Vor allem die Anerkennung des unabhängigen Kosovos durch die westliche Staatengemeinschaft, die Russland als Verletzung des Völkerrechtes bewertet, dient dem Kreml als Vorwand, um die Lösung der national-territorialen Konflikte im Südkaukasus zu torpedieren. Ziel ist es, die NATO und die EU aus der ressourcenreichen Region um das Kaspische Meer fernzuhalten. Daneben instrumentalisiert Moskau die Konflikte in Abchasien und Südossetien, um seine Ablehnung der Unabhängigkeit des Kosovos zu unterstreichen. In seinem Erlass vom 16. April stellte der damalige Präsident Putin die territoriale Souveränität Georgiens in Frage, indem Russland die seit 1996 eingeführte wirtschaftliche und konsularische Blockade Abchasiens aufhob. Um Moskaus Kosovo-Politik nicht zu brüskieren, betonte der Präsident der nicht anerkannten Republik Abchasien, Sergej Bagapsch, seine Forderung nach Unabhängigkeit habe "mit der Entscheidung des Kosovos nichts gemein", da Abchasien "bereits 1999 seine Unabhängigkeit erklärt" habe. Die Vertreter Südossetiens ließen eine gleichlautende Erklärung verbreiten. Alle Vorschläge des georgischen Präsidenten Saakaschwili, Abchasien den "höchsten Status der Autonomie" zu geben, lehnte Bagapsch ab und berief sich auf das Referendum von 2006: "Das Volk Abchasiens hat über seine Unabhängigkeit entschieden." Brüssel und Washington ließen die selbsternannten Republiken Berg-Karabach, Abchasien und Südossetien wiederholt wissen, dass ihre Unabhängigkeit nicht anerkannt werde. Zugleich forderten sie die Führung und die politischen Eliten dieser Minderheiten auf, ihre Völker nicht zu täuschen. Denn die Unabhängigkeit des Kosovos eigne sich nicht als Präzedenzfall.
Beim Berg-Karabach-Konflikt zwischen den christlichen Armeniern und den moslemischen Aserbaidschanern handelt sich nicht um einen Religionskrieg. "Wir Armenier haben keinen Konflikt mit dem Islam oder der islamischen Welt", sagt der Erzbischof von Berg-Karabach, Parkew Martirosjan. Den Menschen gehe es allein um ihre Grundrechte, "frei in ihrer Heimat zu leben, frei ihre Sprache zu sprechen und ihren Glaube auszuüben". Damit es zu einem Friedensvertrag kommen kann, fordert Armenien die "endgültige Unabhängigkeit der Republik Berg-Karabach von Aserbaidschan". Erst dann könne die Rückgabe der im Krieg besetzten aserbaidschanischen Territorien erfolgen. Der westlichen Staatengemeinschaft warf die armenische Regierung vor, eine doppelgleisige Strategie zu verfolgen: Einerseits werde erklärt, dass die Unabhängigkeit des Kosovos kein Präzedenzfall für die Lösung anderer Konflikte sei, denn jeder Fall sei einmalig. Andererseits sollen alle übrigen "eingefrorenen Konflikte" in einer UN-Resolution gemeinsam thematisiert werden.
Als Antwort auf die Unabhängigkeitserklärung des Kosovos am 17. Februar startete Aserbaidschan vor den Vereinten Nationen eine diplomatische Offensive. Mit Blick auf die Unterstützung der Unabhängigkeit des Balkan-Staates durch die EU hoffte Baku in New York auf mehr Verständnis. Dass Aserbaidschan die Karabach-Frage vor die UNO brachte, sollte zugleich seine Unzufriedenheit mit der Tätigkeit der Minsker Gruppe der OSZE signalisieren, die sich mit der Lösung des Konfliktes beschäftigt. Die UN-Resolution fordert den "unverzüglichen, vollständigen und bedingungslosen Abzug aller armenischen Truppen aus allen besetzten Territorien der Republik Aserbaidschan". Pikant: Ausgerechnet die drei Co-Vorsitzenden der Minsker Gruppe der OSZE - USA, Russland und Frankreich - stimmten gegen diese UN-Resolution. Allerdings stellten die USA, Russland und Frankreich Mitte März klar, sie würden die "territoriale Integrität Aserbaidschans anerkennen", nicht jedoch die "Unabhängigkeit Berg-Karabachs". Diese Stellungnahme Russlands zeigt, dass Moskau Berg-Karabach nicht mehr diplomatisch unterstützt.
Auch wenn Russlands Haltung gegen die Unabhängigkeit des Kosovos für diese Haltung mitverantwortlich sein möge, sie verurteilte die armenische Regierung zum Schweigen. Da Berg-Karabach zudem seit rund acht Jahren nicht mehr mit den anderen international "nicht anerkannten Republiken" der ehemaligen Sowjetunion (Abchasien, Südossetien und Transnistrien) kooperiert, konnte es am 12. März mit ihnen zusammen bei der russischen Staatsduma auch keinen Antrag auf Eröffnung einer diplomatischen Vertretung Russlands stellen. Die "nicht anerkannten Republiken" hofften so, Moskaus Reaktion auf die Unabhängigkeitserklärung des Kosovos für ihre Zwecke nutzen und Russland zu einer aktiveren Politik im Südkaukasus bewegen zu können. Obwohl Eriwan enge Beziehungen zu Moskau pflegt, unterstützt es dessen doppelgleisige Politik bei den Nationalitäten-Konflikten nicht. Bereits am 21. Februar hatte Präsident Robert Kotscharjan erklärt, dass Armenien Berg-Karabach nicht aufgeben werde. In seiner Botschaft zum 20. Jahrestag der Berg-Karabach-Bewegung bezeichnete er "den Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Karabach-Armenier als neue nationale Wiedergeburt". Bereits eine ganze Generation Armenier kennt "keinen anderen Zustand mehr als die Unabhängigkeit Berg-Karabachs".
Auch Armeniens neuer Präsident Sersch Sarkissjan fordert neben der internationalen Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Karabach-Armenier Sicherheitsgarantien und eine gemeinsame Grenze zwischen der Republik Armenien und Karabach. Arzach (Berg-Karabach auf armenisch) habe seine Unabhängigkeit auf der Grundlage der existierenden Gesetze und des Völkerrechtes proklamiert und sie mit vielen Opfern verteidigt, so Sarkisjan. "Warum dürfen die Kosovo-Albaner ihre Unabhängigkeit erklären und wir nicht? Oder möchte die internationale Staatengemeinschaft, dass in Berg-Karabach keine Armenier mehr leben und das Gebiet Aserbaidschan übergeben wird?"