GEORGIEN
Fünf Jahre nach der Rosenrevolution formiert sich die Opposition und fordert Neuwahlen
Giorgi Mikaberidze kennt auch gegenüber Gästen kein Erbarmen. Entschlossen gießt er die Weingläser randvoll. Es ist früh am Morgen. "Wir Georgier sind Maximalisten", sagt er, "entweder Sie leeren das ganze Glas, oder Sie trinken gar nicht." Mikaberidze lebt in dem georgischen Winterkurort Bakuriani. Er ist Chirurg, aber weil er von rund einhundert Euro Gehalt seine Familie nicht ernähren kann, vermietet er zusätzlich Zimmer. Vor zwei Jahren hat er die beiden oberen Etagen seines Hauses für Feriengäste ausgebaut. Auch dabei setzte er alles auf eine Karte: "Wer ein Haus hat, will ein großes Haus - oder gar keins. Wer Geld hat, will viel Geld. Ist es nicht so?" Mikaberidze leert das Glas in einem Zug. Kompromisse seien nichts für Georgier, sagt er.
Der Arzt aus Bakuriani dürfte seinem Präsidenten, Michail Saakaschwili, aus dem Herzen sprechen. Auch dieser tritt mit Maximalforderungen auf und verstört damit so manchen Diplomaten. Bereits vor fünf Jahren, als er im Zuge der sogenannten "Rosenrevolution" an die Macht kam, hatte der damals 35-jährige seinen Anhängern nahezu alles versprochen: Freiheit, Wohlstand, Demokratie und die Nato-Mitgliedschaft bis 2009. Außerdem wollte er die abtrünnigen Gebiete Südossetien und Abchasien innerhalb einer Amtszeit zurückholen. Mittlerweile sind viele dieser Ziele weiter entfernt denn je. Nach dem Krieg im August hat Russland Südossetien und Abchasien anerkannt. Und Georgiens Reputation als Musterknabe der Demokratie ist international beschädigt.
Dabei waren die ersten Schritte der neuen Regierung vielversprechend. Unter Saakaschwilis Vorgänger Eduard Schewardnadze stagnierte die Wirtschaft. Nun wuchs sie jährlich um rund zehn Prozent, der Staatshaushalt stieg um das Sechsfache. Endlich gab es Strom und Gas rund um die Uhr. Die Weltbank kürte Georgien zum Reformland Nummer eins. Betriebe entstanden, Touristen kamen. Viele Georgier fassten Mut und nahmen Kredite auf. So wie Mikaberidze: "Unsere Pension lief gut, letztes Jahr hatten wir sogar Urlauber aus Deutschland." Doch die radikalen Reformen hatten ihre Kehrseite. Die Kluft zwischen Arm und Reich wuchs, viele Menschen verloren ihre Arbeit. Oppositionelle beklagten den autoritären Führungsstil des Präsidenten, der alle Entscheidungen an sich reiße. Schon im vergangenen Jahr gingen deshalb zigtausende Unzufriedene auf die Straße. Ihre mehrtägigen Proteste fanden ein abruptes Ende, als am 7. November 2007 Polizisten Gummigeschosse gegen die Demonstranten einsetzten. Gleichzeitig stürmten Spezialkräfte die Redaktionsräume des regierungskritischen Fernsehsenders Imedi-TV und verwüsteten dessen Technik. Es war ein schwarzer Tag für die georgische Demokratie, der internationale Proteste hervorrief. In der ersten Jahreshälfte 2008 folgten eine Präsidenten- und eine Parlamentswahl; beide waren umstritten. Sozar Subari, der vom Parlament gewählte Ombudsmann Georgiens, spricht von einer "Atmosphäre der Angst". Er klagt über Zensur in den Medien und Druck auf die Richter.
Der Politologe Davit Afrasidze vom Kaukasischen Institut für Frieden und Demokratie hält diese Kritik für überzogen: "Saakaschwili hat ein Paradies auf Erden versprochen. Das konnte er nicht erfüllen." Georgien sei weder eine Autokratie noch demokratisch, sagt er, sondern "irgendwo dazwischen". Auch Nino Kalandadze, stellvertretende Außenministerin, hält Kritikern aus dem Ausland entgegen: "Die Leute vergessen, wo wir angefangen haben. Wer bereits Demokratie hat, vergisst, wie lange es gedauert hat, diese aufzubauen."
Subari will das nicht gelten lassen. Zensur könne man binnen eines Tages abschaffen. Und natürlich würden jetzt mehr Straßen gebaut als unter Schewardnadze, sagt er. "Aber ich rede nicht über Asphalt, sondern über Menschenrechte. Und da gab es in den letzten Jahren viele Rückschritte."
Die innenpolitischen Auseinandersetzungen wurden verdeckt, als im August der Konflikt mit Russland um Südossetien eskalierte. Die Opposition hielt sich angesichts der Bedrohung von außen zunächst zurück. Doch allmählich treten die Folgen des Krieges zutage. "Die Touristen werden woanders hinfahren. Oder machen Sie etwa Urlaub in einer Konfliktregion?" fragt Mikaberidze. Er fürchtet, dass seine Gästezimmer in Bakuriani in diesem Winter leer bleiben. Am 7. November, genau ein Jahr nach der gewaltsamen Auflösung der Proteste von 2007, gingen in der Hauptstadt Tiflis 10.000 Menschen auf die Straße. Sie folgten einem Aufruf der Opposition, marschierten vom Parlament zur Residenz des Präsidenten und forderten Reformen. Es waren die ersten Proteste seit dem Augustkrieg. Die Opposition will sie künftig ein bis zwei Mal im Monat organisieren und auf diese Weise einen politischen Wechsel herbei demonstrieren. "Wenn es keine konkreten Ergebnisse gibt, werden wir unseren Protest radikalisieren", verspricht Kacha Kukava, Vorsitzender der oppositionellen Konservativen Partei. "Saakaschwilis Regierung muss spätestens im Frühjahr durch freie und faire Wahlen abgelöst werden." Die Konservativen gehören einer Neun-Parteien-Allianz der Opposition an. Bei der Parlamentswahl im Mai hatte sie zwölf Sitze errungen, aber sieben der zwölf Abgeordneten blieben dem Parlament fern. Darunter auch Kukava. "In allen totalitären Staaten ist die Opposition nicht im Parlament, sondern auf der Straße: in Weißrussland, in Kasachstan, in Russland, in Kuba. Es ist logisch, dass wir das in Georgien auch so halten."
Dieser Maximalismus geht immer mehr Georgiern auf die Nerven. An dem Platz im Zentrum von Tiflis, an dem im vergangenen Jahr die Demonstranten verprügelt wurden, steht der Fernfahrer Robert Nemsadze und putzt sein Auto.
"Die Opposition sollte besser im Parlament mitarbeiten, als auf der Straße das Blaue vom Himmel zu versprechen", sagt er. "Denen glaubt schon lange niemand mehr." Von einem erneuten Umsturz hält er gar nichts. Auch die ehemalige Parlamentspräsidentin und langjährige Vertraute Saakaschwilis, Nino Burdschanadze, nicht. Sie ist im Mai aus der Politik ausgestiegen, weil sie mit dem autoritären Führungsstil des Präsidenten nicht einverstanden war. Sie fordert Neuwahlen, lässt aber offen, ob es Präsidenten- oder Parlamentswahlen sein sollen. Burdschanadze hält die jetzige Regierung für unfähig, auf die Bedrohung aus Russland angemessen zu reagieren. Dennoch warnt sie vor neuen Dauerprotesten: "Das Land ist zu müde von so vielen Revolutionen und Unruhen." Die so genannte Rosenrevolution vor fünf Jahren sei zwar wichtig gewesen, doch eine Abwahl Schewardnadzes hätte mehr gebracht: "Nach Revolutionen kommen Revolutionsteams an die Regierung. Sie wenden Revolutionsmethoden an, die immer sehr schmerzhaft für ein Land sind." Burdschanadze wirft Saakaschwili vor, er verschweige dem Volk die Wahrheit über die Kriegsursachen: "Es war ein tragischer Fehler, Zchinvali anzugreifen. Dafür gibt es keine Entschuldigung."
Die georgische Regierung verbreitet derweil die Ansicht, Georgien habe sich am 7. August verteidigen müssen und eine russische Invasion verhindert. Die Nato und die EU hätten Georgien im Stich gelassen. Burdschanadze sieht auch das anders. "Es war dumm, zu erwarten, die USA würden für Georgien einen dritten Weltkrieg beginnen." Solche Worte kommen gut an in Brüssel, und dementsprechend wird die ehemalige Parlamentspräsidentin in diplomatischen Kreisen bereits als Wunschkandidatin für das Präsidentenamt gehandelt.
Der Politologe Davit Afrasidze glaubt indes nicht, dass es schnelle Präsidentenwahlen geben wird. Die Kandidaten seien noch nicht reif, um Saakaschwili herauszufordern. Baldige Parlamentswahlen hingegen hält er für möglich. "Aber es ist die Frage, ob die Opposition eine Chance hat. Sie hat nur Schlagwörter, keine Programmatik."
Afrasidze geht daher davon aus, dass die Regierungspartei auch aus einer Neuwahl als Sieger hervorgehen würde - selbst wenn sie dieses Mal tatsächlich frei und fair vonstatten ginge.