fernsehen
Wenn der Dings mit der Ex vom Ex von der da drüben - über das Familienbild in Daily Soaps und dessen Wirkung
Wer die familiären Verstrickungen des Dr. Jo Gerner verstehen will, braucht entweder sehr viel Zeit oder selbst einen Doktortitel, vorzugsweise einen in Anthropologie. Da ist etwa Richard, dessen unehelicher Sohn Jo ist, und der mit Barbara verheiratet ist. Barbara aber hat auch eine Affäre mit Jo, der sie jedoch nur ausnutzen will, um an das Geld von Richard zu gelangen. Wegen dieser und anderer Enttäuschungen verfällt Barbara mal dem Alkohol, ein anderes Mal täuscht sie eine Schwangerschaft oder die eigene Entführung vor. Wirklich entführt hingegen werden Sonja, Barbaras jüngere Schwester, Vanessa, die Tochter Jo Gerners, und irgendwann auch Jos Sohn - aber das ist nur ein Bruchteil dessen, was dem Herrn Dr. in der Seifenoper "Gute Zeiten, Schlechte Zeiten" (GZSZ) von montags bis freitags bei RTL zur besten Sendezeit widerfährt.
Beruhigend ist, dass Jo kein realer Charakter ist, sondern ein Autorenhirngespinst. Im wahren Leben heißt er Wolfgang Bahro, ist verheiratet, hat ein Sohn, keine Affären oder Entführungen. Beunruhigend ist, dass praktisch alle Fernsehfamilien deutscher Soaps ein Fall für Paartherapie, "Super Nanny" oder "Familienhilfe mit Herz" sind.
Die öffentlich-rechtlichen Anstalten machen da keine Ausnahme. Im ARD-"Marienhof" geht es noch vergleichsweise gesittet zu. Hier wird die "stark realistische Familie unter realen Belastungen gezeigt", sagt Bernhard Gleim, Leiter der Serienredaktion des Norddeutschen Rundfunks und verantwortlich für die Soaps im Ersten. Wie in einer Versuchsanordnung werde im "Marienhof" veranschaulicht, wie die Familie mit von außen herein getragenen Gefahren umgeht. Etwa mit der, dass der Sohn ein Rechtsradikaler werden könnte - "Problemrealismus", nennt Gleim das. Ein anderer, nämlich der "Gefühlsrealismus", herrscht in "Verbotene Liebe", einer Serie über Intrigen in einer Adelsfamilie. "Ein Blick in die Schlangengrube, auf niedere Gefühle, den man selbst nicht ausleben muss", sagt Gleim über den Reiz der Vorabendserie.
Die Serien und ihre Wirkung auf den Zuschauer beschäftigen auch die Wissenschaft. Barbara Pfetsch, Professorin an der Freien Universität Berlin, untersucht, ob Formate wie Daily Soaps Stereotype fördern. "Die Wirkung ist stark abhängig vom Rezipienten - jemand, der selten schaut, kann leichter Abstand nehmen als Vielseher", sagt sie. Entscheidend seien auch sogenannte Sekundärmerkmale wie Alter, Bildung und soziales Umfeld. "Man kann berechtigt annehmen, dass weniger gebildete Menschen, die viele solcher Serien schauen, viel stärker beeinflusst werden", so Pfetsch.
Über die Jahre der Neueren und Neuesten Fernsehgeschichte ist, nicht nur im Marienhof, viel passiert. "Die Rolle der Frau als verzichtende, versagende Person, die ihr Leben der Familie unterordnet - das würde heute nicht mehr funktionieren", sagt Bernhard Gleim. Stattdessen sei die Frau auch in der deutschen Serienwirklichkeit emanzipiert. Auch der traditionelle Konflikt zwischen jung und alt unterliegt dem Wandel der Zeit und "hat sich in den 90er Jahren stark verändert. Bis dahin waren die jungen stets Bannerträger von irgendetwas Neuem und die alten pochten auf die bestehende Ordnung und die Einhaltung irgendeines Maßes", erläutert der ARD-Serien-Chef. Derlei strikte Rollenverständnisse könne man heute nicht mehr beobachten.
Die Veränderungen im Fernseher tragen oft den Veränderungen vor diesem Rechnung. "Nehmen wir das Urbild der Rezeption: Die gesamte Familie sitzt vor dem Fernseher und schaut einer gesamten Familie darin zu - für jeden davor gibt es einen im Fernsehen. Das ist eine hochgradig idealistische Vorstellung - in der Zeit, in der es nur einen Fernseher in der Familie gab, war es aber auch eine sehr realistische", sagt Gleim. Heute würden nicht mehr alle dasselbe Programm schauen und deswegen gibt es Formate für spezielle Zielgruppen. Kennzeichen von "GZSZ" sei etwa, dass junge Leute Herren ihres eigenen Lebens geworden sind, sie betreiben ihre eigene Diskothek oder das eigene Cafe, die Jugend ist hier souverän.
Derzeit aber steppt der Bär nicht eben in der Disco, sondern vor den Börsen. Die Stimmung ist mies und grundsolide Werte rücken wieder ins Zentrum. "Es ist eine Romantisierung fester Strukturen und Erziehungsvorgaben zu beobachten und dies hat Einfluss auf Familienserien", sagt Bernhard Gleim. So dient es der Befriedigung einer Sehnsucht, wenn etwa im "Marienhof" die herzliche italienische Familie Maldini in Szene gesetzt wird und mit ihr das alte Erzählmuster der Einheit von Arbeitsstätte und Familie.
Manche sprechen gar von einer Renaissance der Familie. So weit aber will Gleim nicht gehen: "Dass es mehr Kochsendungen gibt, heißt auch nicht, dass Leute real häufiger kochen. Es heißt nur, dass es eine Sehnsucht danach gibt." Und Daily Soaps dokumentieren diese reale Sehnsucht. Überhaupt sieht Gleim das Fernsehen als "Teil der realen Entwicklung". Es beschleunige nicht Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft, "aber Serien tragen dazu bei, gewisse Entwicklungen zu normalisieren. Zum Beispiel der erste Homosexuelle, der in einer Folge der Lindenstraße vorkam und bewusst in ein bestehendes Familienmuster integriert wurde." Bewertung und Einordnung des Gesehenen sind dabei nicht zwingend Aufgabe des Einzelnen vor dem Schirm. "Wenn man auf die Rezeption schaut, dann gibt es viele Sekundärtexte, die die Zuschauer selbst bilden - zum Beispiel gibt es für ,Verbotene Liebe' oder ,GZSZ' im Internet einen fortlaufenden Text, in dem sich das Publikum über Figuren und deren Moral austauscht, Verhaltensstile werden diskutiert", sagt Gleim.
Der Autor ist Schüler der Deutschen Journalistenschule in München. Er ist 24 Jahre alt.