PATIENTENVERFÜGUNG
Seit Jahren wird um verbindliche Regeln für das Lebensende gestritten
Irmgard Vogt (Namen von der Redaktion geändert) will sterben, wie sie gelebt hat. Im Kreis ihrer Familie möchte sich die 95-Jährige verabschieden. "Niemand soll mich aufhalten, wenn es Zeit ist", hat sie immer wieder gesagt. Und resolut hinzugefügt, der Körper könne mit über 90 Jahren sicher selbst entscheiden, wann es gut sei.
Eine Patientenverfügung hat Irmgard Vogt vor fünf Jahren aufgesetzt, nachdem ihre Schwester gestorben war - nach vier quälenden Wochen auf einer Intensivstation, angeschlossen an einen Schlauch, der Nahrungsbrei in den Magen beförderte, und an Apparate, die jede feine Äußerung des fragilen Körpers in grünen Linien und als gelegentliches Piepsen registrierten. Für die Schwester gab es keine Hoffnung darauf, noch lebend die Maschinen los zu werden. Dabei hatten die Geschwister Zeit ihres Lebens eher auf Vollkornbrot als auf Vitaminpillen, eher auf Sport und Spazieren gehen als auf spezialisierte Medizin gesetzt. Doch nach dem schweren Schlaganfall der Schwester ging alles sehr schnell, die Ärzte und Pfleger taten ihr Bestes.
Nachdem die Jüngere der Älteren am Klinikbett so gut wie möglich beigestanden hatte, suchte sich Frau Vogt allerdings Rat. Sie sortierte aus, was ihr am Ende ihres eigenen Lebens nicht passieren sollte. Ihre Patientenverfügung, im englischen auch als letzter Wille eines Lebenden (living will) umschrieben, legt nun fest, was Mediziner und Helfer tun dürfen, aber auch, was sie lassen sollen.
Frau Vogt wünscht keine künstliche Ernährung und keine künstliche Zufuhr von Flüssigkeit, wenn sie nicht mehr essen und trinken kann. Bitte auch keine Dialyse zur Reinigung der Nieren oder künstliche Beatmung. Erlaubt sind aber Medikamente bei Schmerzen, Atemnot, Angstzuständen oder anderen Qualen - auch wenn sie das Leben womöglich sogar verkürzen.
An Altersschwäche stirbt heute kaum noch jemand. "Den natürlichen Tod gibt es nicht mehr", ließ Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe in einem Interview wissen. Viel häufiger ist der Tod nach langwierigen Behandlungen. Das heißt dann oft auch, dass Menschen nicht zu Hause, sondern im Krankenhaus sterben. Immerhin ist in geschätzten 400.000 bis 600.000 Fällen im Jahr irgendeine medizinische Entscheidung am Sterbebett notwendig. Dann hilft der vorher festgelegte Wunsch fürs Lebensende den Betroffenen wie den Ärzten.
Schmerzmediziner wie der Münchener Neurologe Gian Domenico Borasio weisen auch darauf hin, dass nicht Unfälle oder Noteinlieferungen in der Klinik die gefürchtete Apparatemedizin mit sich bringen. Wahre Dramen spielten sich in Pflegeheimen ab. Eine halbe Million Menschen werde dort dauerhaft künstlich ernährt, ein Großteil ohne dass dies medizinisch geboten sei. Deshalb wollen Kritiker der heutigen Situation mehr Möglichkeiten schaffen, den Willen von Kranken zu ergründen, wenn diese selbst nicht mehr entscheiden können.
Völlige Rechtssicherheit für Kranke wie Ärzte kann es auch mit einem Patiententestament kaum geben. Weil sich aber viele Menschen unter Würde am Ende des Lebens etwas anderes vorstellen als Krankenhaus und Hochleistungsmedizin, haben inzwischen rund neun Millionen Menschen eine Patientenverfügung. Zahlen über Vorsorgevollmachten, mit denen Angehörige oder Betreuer diesen allgemeinen Willen in einzelnen Situationen interpretieren können, gibt es nicht. Ärztevertreter wie Hoppe halten die Vollmacht jedoch für das wichtigere Instrument.
Das war auch Frau Vogt bewusst. Ihr war klar, dass Patientenverfügungen ein doppelter Notbehelf bleiben. Sie sind nur dann notwendig, wenn sie sich selbst nicht mehr entscheiden und sich nicht mehr genügend äußern kann. Und sie müssen auf die verschiedensten Situationen passen, die unmöglich alle einzeln abzusehen sind. Deshalb schrieb sie zusätzlich eine Vollmacht für die Tochter.
Frau Vogt wohnt bei ihrer Tochter Agnes Quast, die die nötigen Papiere aufbewahrt. Die 64jährige ist froh, dass die Mutter ihre Wünsche fürs Lebensende schriftlich festgehalten hat. "Es war wichtig, dass wir ausführlich darüber gesprochen haben. Das hat ihr und mir die Angst genommen." Der Tochter haben die Gespräche damals auch geholfen, vorbereitet zu sein.
Seit einem Jahr hat die alte Dame immer stärkere Aussetzer, Menschen jenseits der Familie erkennt sie kaum noch. Inzwischen wäre es zu spät, ihren Willen zu ergründen. Agnes Quast springt deshalb bei Ärzten immer wieder als Übersetzerin ein. Die Vorsorgevollmacht für die Mutter würde sogar Gericht helfen, deren Willen zu vertreten. So kann die Tochter aussprechen, was die Greisin in einem bestimmten Fall wohl wünscht oder gewünscht hätte.
Damit Verfügung und Vollmacht greifen, müssen sie immer griffbereit sein. Von Vogts Enkeln bis zur Pflegerin, die stundenweise kommt, kennen alle die Schublade im Wohnzimmer, die die Schriftstücke in sich birgt. Dafür sorgte Schwiegersohn Ludger Quast, der als Chefarzt die Abläufe eines Krankenhauses gut kennt. "Wenn jemand Intensivmedizin ablehnt, aber im Notfall ohne Patientenverfügung schon behandelt wird, nützt sie wenig." Dann landeten die Mediziner in einem unauflöslichen Dilemma. Einerseits hätten sie den hippokratischen Eid geleistet, alles ihnen Mögliche zu tun, andererseits werde der Wille des Patienten missachtet. Ärzte, Pflegekräfte und Vormundschaftsrichter hätten Angst, den natürlichen Tod zu erlauben, beobachtet der Schwiegersohn. Das gelte umso mehr, wenn sie Therapien abbrechen sollten.
Schnell setzen sich Mediziner dem Vorwurf der Sterbehilfe aus. Oft ist es aber auch lediglich Unkenntnis, was rechtlich erlaubt ist und was nicht. Diese Lücken in der Aus- und Fortbildung der Mediziner beklagt auch die Bundesärztekammer.
So lässt sich passive Sterbehilfe passender mit Sterben lassen umschreiben. Mediziner dürfen dann auf künstliche Ernährung verzichten oder die Nahrungszufuhr unterbrechen, wenn das dem Patientenwillen entspricht. Das gilt auch für die künstliche Beatmung, die Dialyse oder eine Wiederbelebung, wenn der Hirntod bereits eingetreten ist. Anders sieht es bei der aktiven Sterbehilfe aus. Ärzte in Deutschland dürfen unheilbar Kranken nicht beim Selbstmord helfen.
Dass es auch in Deutschland eine Grauzone bei der Patientenverfügung gibt und klare Regeln fehlen, wurde vielen Abgeordneten durch zwei extreme Fälle in den USA und Italien klar. Die Amerikanerin Terry Schiavo starb 2005 im Alter von 41 Jahren, die letzten 15 Jahre lag sie im Wachkoma. Ihr Ehemann wollte, dass sie nicht länger künstlich ernährt werde und ließ die Magensonde entfernen. Schiavo, deren Eltern gegen die Entscheidung vor Gericht zogen, verdurstete schließlich, erst versagten die Nieren, dann das Herz.
Ähnlich umstritten war die künstliche Ernährung der jungen Italienerin Eluana Englaro. Sie starb 2008 nach 16 Jahren im Koma. Ihr Vater Beppo Englaro hatte nach zähem Rechtsstreit erreicht, dass die lebenserhaltenden Schläuche getrennt werden. Der Vater berief sich darauf, dass die 20-Jährige kurz vor ihrem verhängnisvollen Autounfall ihm gegenüber lebensverlängernde Medizin bei Komapatienten abgelehnt habe.
Im Parlament wurden diese Fälle intensiv verfolgt. Seit insgesamt sechs Jahren ringen die Abgeordneten nun bereits um eindeutige Regeln für den letzten Willen des Patienten am Ende des Lebens. Drei Gesetzentwürfe wurden vorgelegt. Abgeordnete um den CDU-Rechtspolitiker Wolfgang Bosbach wollen eine strikte Lösung: Die schriftliche Patientenverfügung soll nur bei tödlich verlaufenden Krankheiten direkt gelten. In anderen Fällen muss man sich vor der Verfügung ärztlich beraten lassen.
Der SPD-Politiker Joachim Stünker und der CSU-Gesundheitsexperte Wolfgang Zöller wollen Behandlungswünsche unabhängig von der Art und dem Verlauf der Krankheit erlauben. Stünker verlangt schriftliche Aussagen, Zöller will auch mündliche Vorgaben berücksichtigen. Inzwischen hat sich noch eine vierte Gruppe um den CDU-Abgeordneten Hubert Hüppe gebildet. Am besten, so heißt es hier, solle dann doch alles bleiben wie es ist. Auch heute ist der Wille eines Patienten bindend, ohne Gesetz, meint Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD). Und sie verweist auf ihr Ministerium, dass Betroffenen Vordrucke für verbindliche Patientenverfügungen im Internet anbietet.
Noch im vorigen Jahr sprachen Frau Vogt und ihre Tochter auch über Walter Jens, den wortgewaltigen und engagierten Tübinger Rhetorikprofessor. Er ist dement, aber Jahre zuvor hatte Jens öffentlich erklärt, er wolle sterben, wenn er nicht mehr Herr seiner Sinne sei. Niemand weiß, ob er das heute so empfinden würde. Seine Familie hat sich entschieden, ihm die Sterbehilfe zu verweigern, weil niemand weiß, welche Maßstäbe in seiner Welt jetzt gültig sind. Damals sagte Irmgard Vogt: "Wer weiß, ob ich überhaupt unglücklich wäre", erinnert sich die Tochter. So kann sie den langsamen geistigen Rückzug der Mutter besser ertragen. Umso wichtiger werde, miteinander zu singen und sich in den Arm zu nehmen, beschreibt sie die Beziehung heute. Doch der Abschied ist allgegenwärtig. An Ostern spielte der Blutdruck der 95-Jährigen verrückt, sie war kaum noch ansprechbar. Tochter Agnes befürchtete das Schlimmste und verbrachte nach der Einlieferung ins Krankenhaus vier Tage mit im Klinikzimmer. Die vier Enkel reisten aus allen Himmelsrichtungen an. Inzwischen ist Irmgard Vogt wieder zu Hause bei ihrer Familie - wie sie es sich gewünscht hat - am liebsten im großen Sessel neben der Wohnzimmertür. "Es ist nicht leicht, aber wahrscheinlich ist das ein Abschied, wie sie ihn sich gewünscht hat", sagt die Tochter. "Ich bin froh, wenn er noch nicht so schnell vorbei ist."