inteGRATIONSVERANTWORTUNG
Bundestag und Bundesrat erhalten mehr als 25 neue Rechte in EU-Angelegenheiten
Nur doppelt so viele Paragrafen, nur 2.500 Zeichen mehr: Durch die quantitative Brille wirkt das Integrationsverantwortungsgesetz (IntVG) nicht parlamentsfreundlicher als das für verfassungswidrig erklärte Begleitgesetz. Hinter diesen nackten Zahlen verbergen sich allerdings mehr als 25 verschiedene Konstellationen, in denen Bundestag und Bundesrat künftig ein Gesetz beschließen oder einen Beschluss fassen müssen - nachdem oder meistens auch bevor die Bundesregierung in Brüssel im Rat oder im Europäischen Rat ihre Stimme abgeben darf. Doch was bedeutet das konkret?
Das IntVG enthält zwei verschiedene Arten von Mitwirkungsrechten: Es konkretisiert zunächst die Beteiligungsrechte, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon vom 30. Juni aus dem Grundgesetz hergeleitet hat. Stichwort: "Integrationsverantwortung". Außerdem setzt das IntVG die Rechte der nationalen Parlamente um, die sich aus dem Vertrag von Lissabon ergeben und die unmittelbar in die europäische Ebene hineinwirken. Diese Regelungen - etwa zur Subsidiaritätsklage - waren bereits im alten Begleitgesetz enthalten und sind weitgehend übernommen worden.
Plastisch wird diese Zweiteilung am Beispiel der sogenannten Brückenklauseln: Diese Klauseln ermöglichen es, den Abstimmungsmodus im Rat zu ändern. Wo normalerweise alle Vertreter der Regierungen "Ja" sagen müssen, reicht nach erfolgreicher Aktivierung der Brückenklausel eine qualifizierte Mehrheit aus. Das erleichert zwar die Entscheidungsfindung im Rat erheblich, schwächt aber den einzelnen Mitgliedstaat, weil der dann überstimmt werden kann.
Aus diesem Grund sind im Vertrag von Lissabon Sicherungen für die Parlamente der Mitgliedstaaten eingebaut: Beschließt der Europäische Rat, eine entsprechende Initiative zu ergreifen, wird dies den nationalen Parlamenten mitgeteilt. Diese haben die Möglichkeit, innerhalb von sechs Monaten direkt auf europäischer Ebene ein Veto einzulegen und so die Initiative zu stoppen, ohne einen Umweg über die Bundesregierung. Wird kein Veto eingelegt, muss noch das Europäische Parlament zustimmen. Dann kann der Europäische Rat einen abschließenden Beschluss fassen - und hier kommt der Bundestag ein zweites Mal ins Spiel: Der deutsche Vertreter im Europäischen Rat darf diesem Beschluss nur zustimmen, wenn ein entsprechendes Gesetz in Kraft getreten ist. So hat es das Bundesverfassungsgericht gefordert.
Verfahrenstechnisch also eine verzwickte Sache, "rechtlich aber nötig", erläutert Adelheid Puttler, Professorin für Öffentliches Recht und Europarecht an der Universität Bochum, im Gespräch mit dieser Zeitung. Der Grund: Die Mitwirkung des Bundestags beruht einmal auf Europarecht (das Veto) und einmal auf der Auslegung des Verfassungsrechts durch die Karlsruher Richter (das Gesetz). Beide Fälle müssen also normiert werden, auch wenn dies in der Praxis komplizierte Folgen haben kann.
Wie viel Arbeit mit der neuen Verantwortung auf den Bundestag konkret zukommen wird, lässt sich nicht ganz einfach bestimmen. "Eine Reihe der Mechanismen dürften eher selten angewandt werden", sagt Franz Mayer, Professor für Öffentliches Recht und Europarecht in Bielefeld. Es sei nicht so einfach, das Vertragsrecht unterhalb der Schwelle normaler Ratifizierungsverfahren zu ändern. Speziell mit der Brückenklausel habe man keine Erfahrungen gemacht: "Obwohl es die Möglichkeit jetzt schon gibt, ist noch nie davon Gebrauch gemacht worden", sagt Franz Mayer.
Seine Einschätzung entspricht dem, was sich in der Öffentlichen Anhörung der Europaauschüsse von Bundestag und Bundesrat am am 26. und 27. August bereits herauskristallisierte: Die Begleitgesetze - vier an der Zahl - sollen sich in Sonntags- und Alltagsgesetze aufteilen lassen, je nachdem, wie häufig in der parlamentarischen Praxis darauf zurückgegriffen wird. Das IntVG - ein Sonntagsgesetz?
Eine Ausnahme könnte die "Flexibilisierungsklausel" sein. Die Vorschrift ermöglicht es dem Rat schon jetzt, ausnahmsweise Vorschriften zu erlassen, auch wenn keine ausdrückliche Kompetenz der EU besteht. Diese "Vertragsabrundungsklausel" gibt es bereits seit 1957. "Nur die Nummerierung hat sich immer wieder geändert", sagt Adelheid Puttler.
In der Praxis spielt die Norm eine wichtige Rolle - die Fusionskontrollverordnung und das Erasmus-Programm für Studenten sind beispielsweise darauf gestützt. 20 bis 30 Mal im Jahr, schätzt Franz Mayer, wird davon Gebrauch gemacht. Das bestätigt ein Blick in die Europa-Datenbank "EUR-Lex", die seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Nizza im Jahr 2001 mehr als 240 Fälle ausweist.
Allerdings: Meistens ist der (zurzeit noch) maßgebliche Artikel 308 des EG-Vertrags nicht allein als Rechtsgrundlage genannt, sagt Monika Böhm, Professorin in Marburg und Landesanwältin am Hessischen Staatsgerichtshof. Das ist ein Grund dafür, dass die Rechtswissenschaftlerin mit Prognosen zurückhaltend ist.
Ein weiterer Grund für diese Zurückhaltung: Monika Böhm schließt eine "sensibilisierende Wirkung" der neuen deutschen Verfahrensweisen auf die Organe der EU nicht aus. Möglicherweise werde etwa die Europäische Kommission bei der Gesetzgebung bewusster mit ihren Kompetenzen umgehen und sorgfältiger prüfen, ob das tragende "Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung" auch tatsächlich gewahrt ist.
Es ist insoweit auch bei der Flexibilisierungsklausel offen, wie viele Gesetze der Bundestag möglicherweise diesbezüglich auf den Weg bringen muss.
Ob Sonntagsgesetz oder nicht - die Europarechtlerinnen Monika Böhm und Adelheid Puttler sehen die neuen Rechte positiv: "Wenn es grundlegende Sachen betrifft, müssen die im Parlament besprochen werden", sagt Böhm. Und auch Puttler findet, dass künftig "mehr Tagesordnung, Debatte und Presse zu Europa gut sind".
Ein wichtiger praktischer Aspekt findet sich schließlich noch im IntVG: spezielle Unterrichtungspflichten der Bundesregierung. Sie sollen sicherstellen, dass Bundestag und Bundesrat wissen, dass ihre Mitwirkung erforderlich ist und die dafür notwendigen Informationen vorliegen.
Doch nicht nur der Bundestag ist verantwortlich. Das IntVG bezieht den Bundesrat ebenfalls auf den genannten zwei Ebenen ein - innerstaatlich, bei Gesetzen und Beschlüssen, und gegenüber der EU als Inhaber von eigenen Rechten der nationalen Parlamente nach dem Vertrag von Lissabon. So kann auch der Bundesrat in bestimmten Fällen die Anwendung der Brückenklausel ablehnen.
Die Landesparlamente sind in all diese Verfahren übrigens nicht unmittelbar einbezogen; im Bundesrat agieren die Regierungsvertreter - "ein Mangel der jetzigen Verfassungslage", sagt der Landtagspräsident des Landtags von Baden-Württemberg, Peter Straub (CDU), dieser Zeitung. Seine Begründung: Die Landesregierungen verfügten so "treuhänderisch" über die Gesetzgebungsrechte der Länder im Bundesrat. Deshalb habe der baden-württembergische Landtag bereits Verfahren vereinbart, die eine Beteiligung der Parlamentarier in EU-Angelegenheiten vorsehen. Straub, der auch Vorsitzender der Landtagspräsidentenkonferenz ist, geht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sogar noch einen Schritt weiter: Wenn es um EU-Vorhaben gehe, die originäre Kompetenzen der Länder betreffen, dann müsse das Landesparlament über die Haltung des Landes im Bundesrat zu entscheiden haben.
Das Gesetzgebungsverfahren selbst wird sich im Bund durch die Begleitgesetze nicht ändern. Die Bundestagsabgeordneten sind aber durch die vom Verfassungsgericht ausdrücklich festgestellte "Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes" aufgefordert, ihre Integrationsverantwortung "orientiert an der Zwecksetzung der jeweiligen Verfahren auf europäischer Ebene" wahrzunehmen, heißt es in der Begründung zum IntVG.
Überlegungen, "EU-Hochgeschwindigkeitsverfahren" explizit in der Geschäftsordnung des Parlaments zu verankern, haben sich jedoch nicht durchgesetzt. Schon jetzt ist der Gesetzgeber in der Lage, innerhalb weniger Tage ein Gesetz zu beraten, zu beschließen und schlussendlich im Bundesgesetzblatt zu verkünden. Allerdings werden wohl geschäftsordnungsrechtliche Anpassungen notwendig, die sich aus den zahlreichen neuen Vorschriften ergeben - darum wird sich aber erst der 17. Deutsche Bundestag kümmern.