GRENZÖFFNUNG
Zwei unbedachte Worte und verfrühte Euphorie lösten den nächtlichen Ansturm auf die Übergangsstellen aus
Über die Bösebrücke, die den Berliner Stadtteil Wedding mit dem Prenzlauer Berg verbindet, rollt dichter Verkehr. Hinter dem östlichen Ende der Brücke biegt eine Fahrspur nach rechts. Autos fahren hier nicht mehr. Die Zufahrt mündet in eine Freifläche, etwa so groß wie ein Fußballfeld. An ihren Rändern wuchern Brennnesseln und Sträucher. Aus dem verwahrlosten, mit Glasscherben übersäten Areal ragen Reste von Betonfundamenten und Stahlträgern, Überbleibsel des einstigen Grenzübergangs Bornholmer Straße.
Vor 20 Jahren, am 9. November 1989, wurde hier Geschichte geschrieben. Am späten Abend dieses Tages erzwangen Tausende Ost-Berliner, angelockt durch Rundfunk- und Fernsehmeldungen über eine bevorstehende Reisefreiheit, die Öffnung des Schlagbaumes und das ungehinderte Passieren der
Kontrollstelle. Den Befehl, freien Durchlass zu geben, erteilte Stasi-Oberstleutnant Harald Jäger. Nach vergeblichen Versuchen, eine Weisung "von oben" zu bekommen, rang sich der verantwortliche Leiter der Passkontrolleinheiten zu dem Entschluss durch, die Sperren zu öffnen und den Weg in den Westen frei zu geben.
Seine eigenmächtige Entscheidung setzte eine Kettenreaktion in Gang. Bis Mitternacht wurden nach und nach auch die anderen innerstädtischen Grenzübergänge geöffnet. Gut 28 Jahre hatten Mauer und Sperranlagen, deren versuchte Überwindung zahlreiche DDR-Bürger das Leben kostete, Berlin und Deutschland geteilt. Binnen weniger Stunden verlor dieses Monument einer gescheiterten Politik seine Schrecken und seine Funktion - friedlich, ohne einen Schuss.
Am Vormittag des 9. November las ich wie gewöhnlich in meinem Ost-Berliner Büro Zeitungen. Ein Artikel im "Neuen Deutschland", dem zentralen SED-Sprachrohr, weckte mein besonderes Interesse. "Fassen Sie Vertrauen", lautete die Überschrift eines Appells von Künstlern und Bürgerrechtlern an die Bevölkerung, sich nicht der Fluchtbewegung aus der DDR anzuschließen: "Bleiben Sie doch in Ihrer Heimat, bleiben Sie bei uns." Auch die neue SED-Führung unter Egon Krenz überlegte, wie der Massenexodus über Ungarn und andere Ostblock-Länder zu stoppen sei. Die Drohung der Prager Regierung, die tschechoslowakische Grenze für DDR-Bürger zu schließen, setzte den SED-Generalsekretär unter Zugzwang. Eine
solche Sperre, so war vorauszusehen, könnte die Volkswut explodieren lassen.
Drei Tag zuvor hatten die Machthaber in Ost-Berlin den Entwurf eines Reisegesetzes veröffentlicht. Statt der vom Politbüro erhofften Zustimmung hagelte es Proteste, selbst aus den eigenen Reihen. Denn aus dem Text ging hervor, dass die Behörden die Genehmigung weitgehend nach eigenem Ermessen erteilen oder versagen konnten. Krenz unternahm einen zweiten Anlauf. Das Innenministerium bekam den Auftrag, einen neuen Entwurf vorzulegen.
Um 9.00 Uhr machte sich eine Arbeitsgruppe an die Arbeit. Sie stand unter Zeitdruck. Bis Mittag sollte die Vorlage fertig sein. Tatsächlich hielt der SED-Generalsekretär den Entwurf bereits in der Mittagspause des seit dem 8. November tagenden Zentralkomitees (ZK) in den Händen. Er informierte einige Politbüromitglieder über die neuen Regelungen. Dann ging die Beschlussvorlage an den Ministerrat, der sie bis 17.00 Uhr billigen sollte.
Was Krenz gegen 16.00 Uhr dem Zentralkomitee vortrug, ging über die ursprüngliche Vorlage weit hinaus. "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt." Ebenso werde in Fällen verfahren, in denen die ständige Ausreise verlangt werde. Nach kurzer Diskussion über geringfügige Korrekturen stimmte das Gremium zu. "Ich behaupte, dass alle, denen die neue Regelung vorgelesen wurde, nicht wussten, dass in der folgenden Nacht die Mauer fällt", sollte Politbüromitglied Gerhard Schürer später sagen.
ZK-Sprecher Günter Schabowski war bei der Bekanntgabe der neuen Regelung nicht im Sitzungssaal. Als er gegen 17.00 Uhr zurückkam, setzte er sich neben Krenz. Der schob ihm den Text der Verordnung zu. Schabowski überflog ihn. Für 18.00 Uhr war eine Pressekonferenz anberaumt. "Darüber kannst du informieren", sagte Krenz. "Das wird die Weltnachricht." Zu den Papieren gehörte auch eine Presseerklärung, in der als Sperrfrist für die Veröffentlichung der 10. November angegeben war.
Auf der Pressekonferenz fragte der italienische Korrespondent Riccardo Ehrmann kurz vor 19.00 Uhr, ob die Veröffentlichung der ursprünglichen Fassung des Reisegesetzes ein Fehler gewesen sei. Nach einer weitschweifigen Erklärung über die Legalisierung der Ausreise setzte Schabowski seine Brille auf, suchte in seinem Papierstapel nach dem Dokument, ließ sich von einem Mitarbeiter dabei helfen und las schließlich hastig die einzelnen Passagen des Beschlusses vor. Wann das in Kraft trete, wollte ein Journalist wissen. Erneut blätterte Schabowski in seinen Unterlagen, schaute sichtlich irritiert auf den Verordnungstext. "Ab sofort", stand da unter Ziffer zwei. "Sofort, unverzüglich", antwortete er dem Fragesteller. Zwei missverständliche, unbedachte Worte, mit denen er eine wahrhaft historische Entwicklung auslöste. "Krenz hatte mir nichts von einer Sperrfrist gesagt", verteidigte er sich später. Die war auf 4.00 Uhr früh festgesetzt.
Um 19.01 Uhr ging die Unterrichtung im Internationalen Pressezentrum zu Ende, Minuten später liefen die Ticker heiß. "Ausreise über alle DDR-Grenzübergänge ab sofort möglich", berichtete Reuters per Eil-Meldung; AP und dpa formulierten ihre Texte fast wortgleich. Um 20.00 Uhr präsentierte die ARD-"Tagesschau" die Schlagzeile: "DDR öffnet Grenze." Da machten sich die ersten Ost-Berliner auf den Weg. Andere Teilnehmer der Pressekonferenz werteten Schabowskis Aussage vorsichtiger. Sie erwarteten den Ansturm auf die Grenze erst für den nächsten Morgen, weil DDR-Bürger zur Ausreise einen Stempel der Volkspolizei benötigten und deren Dienststellen bereits geschlossen waren.
Als Krenz nach der ZK-Sitzung um etwa 22.00 Uhr in sein Büro kam, erreichte ihn ein Anruf von Stasi-Minister Erich Mielke. Er berichtete, dass Massen von Menschen zu den Grenzübergängen strömten. "Was schlägst du denn vor?", fragte Krenz. "Generalsekretär bist du", lautete die Antwort. Aber Krenz konnte oder wollte nicht entscheiden. Den Gedanken, die Grenzen dicht zu machen und Panzer auffahren zu lassen, verwarf er. Ohne einen ausdrücklichen Befehl zu erteilen, ließ Krenz "den Dingen freien Lauf."
Anders das DDR-Fernsehen. Um Ost-Berliner vom Gang zur Grenze abzuhalten, wurde in der Spätausgabe der "Aktuellen Kamera" nachdrücklich darauf hingewiesen: "Die Reisen müssen beantragt werden." Die Mahnung ging ins Leere, denn die meisten Ost-Berliner hatten auch an diesem Abend West-Fernsehen eingeschaltet. So hörten sie, wie Hanns Joachim Friedrichs in den ARD- "Tagesthemen" um 22.42 Uhr nach der Mitteilung, dass die Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet seien, den Satz formulierte: "Die Tore in der Mauer stehen weit offen." Das erwies sich als verfrüht: Kurz darauf berichtete Reporter Robin Lautenbach live vom Grenzübergang Invalidenstraße, dort habe sich noch nichts getan.
Auch wenn Friedrichs der Wirklichkeit voraus war - seine euphorischen Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Erst jetzt begann der eigentliche Ansturm auf die Übergangsstellen. Viele Tausende Berliner aus Ost und West wollten testen, ob die Nachricht stimmte. An der Bornholmer Straße gab Oberstleutnant Jäger als Erster den Weg frei. Im Nu waren alle Fahrspuren voller Autos und lachender Menschen, die über die Brücke liefen und im Westen mit Beifall und Sekt empfangen wurden.
Neben dem östlichen Gehweg der Bornholmer Straße steht heute ein Gedenkstein, angefertigt aus einem Mauersegment. Auf einer Tafel sind prophetische Worte von Willy Brandt eingraviert: "Berlin wird leben und die Mauer wird fallen." Die meisten Fußgänger gehen vorbei, ohne einen Blick auf den Stein und die Inschrift zu werfen. Was vor 20 Jahren die Menschen in einen Freudentaumel versetzte, ist ihnen mittlerweile längst zur Selbstverständlichkeit geworden.
Der Autor, 1989 DDR-Korrespondent des "Stern", hatte 1974 als erster West-Journalist seinen Wohnsitz mit Frau und Kindern
vollständig nach Ost-Berlin verlegt.