OPPOSITION
Ein Bürgerrechtler erinnert sich an "ein Wunder"
Zu DDR-Zeiten arbeitete ich in der Jägerstraße in Ost-Berlin, die damals Nuschkestraße hieß. Nach der Arbeit spazierte ich regelmäßig zum Alexanderplatz, besuchte unterwegs die Stadtbibliothek oder trank irgendwo einen Kaffee. Immer kam ich dabei am Palast der Republik vorbei. Wenn allerdings die SED dort tagte, waren die Straßen am Haus des Volkes gesperrt. Ich mochte mich nie damit abfinden und revoltierte gelegentlich, indem ich mir im Wortwechsel mit den Wachposten die Passage zwischen Marstall und Palast zu erzwingen suchte - natürlich immer vergebens. Einmal bekam ich dabei in freundlichem Sächsisch die Auskunft: Die Bürger stören beim Parteitag.
Eine bessere Lektion, was sozialistische Demokratie ist, hätte mir niemand geben können. Mündige Bürger, das war das letzte, was die SED gebrauchen konnte. Die Menschen mussten auf Abstand gehalten, eingeschüchtert werden. Sie sollten Untertanen sein, eingesperrt im eigenen Land. Denn jede Diktatur lebt aus der Angst, die sie erzeugt. Das war auch in der DDR nicht anders. Die Mauer, der Staatssicherheitsdienst, die vielen Repressionen im Alltag dienten nur dem Ziel, der Partei die Macht zu erhalten. Die SED hatte ihre "führende Rolle" sogar in der Verfassung verankert - ein absurdes Demokratieverständnis, das aggressiv durchgesetzt wurde.
Auch in der DDR hat es zu allen Zeiten Widerstand gegeben, offenen oder versteckten Protest. Und immer hat die SED darauf mit brutaler Härte reagiert. Sich diesem System widersetzt, seine Regeln missachtet, seine Grenzen ignoriert zu haben, das war das eigentliche Verdienst der vielen Friedens-, Menschenrechts- und Umweltgruppen, die in den 1980er Jahren überall in der DDR entstanden waren. Damit haben sie den Weg geebnet zur friedlichen Revolution, haben Mauerfall und Wiedervereinigung vorbereitet. Die Bürgerrechtler haben gezeigt, dass man Angst überwinden und die starren Denkschemata der Kommunisten durchbrechen kann, dass alternative Lebensentwürfe möglich sind. Sie haben das Signal zum demokratischen Aufbruch in der DDR gegeben.
Als wir am 12. September 1989 in einer Wohnung in Ost-Berlin die "Bürgerbewegung Demokratie Jetzt" gründeten, war das der entscheidende Schritt, das schützende Dach der Kirche zu verlassen. Dass wir dabei den Begriff "Bürgerbewegung" wählten, war wie das Rufen im Wald - das war uns schon bewusst. Die zwölf Gründer unterschrieben mit Namen und Adresse. Wir wollten uns nicht verstecken, wollten ansprechbar sein. Nicht alle kannten sich vorher persönlich, aber es gab Querverbindungen. Die Konspiration hatte Erfolg: Am Gründungstag war kein Spitzel dabei.
Das "Neue Forum" hatte kurz zuvor seinen Aufruf veröffentlicht, andere Bürgerbewegungen und neue Parteien folgten. So unterschiedlich die Vorstellungen und Konzepte waren, in einem waren wir uns einig: Wir wollten eine demokratische DDR, eine DDR ohne Mauer, eine DDR ohne SED, die sich das Land angeeignet, ausgebeutet und ruiniert hatte. An die Wiedervereinung dachten die wenigsten. Zwar war eine "neue Einheit der Deutschen" im Gründungsaufruf von "Demokratie Jetzt" als Fernziel genannt. Aber dass dies ein Jahr später erreicht sein könnte, haben wir nicht geglaubt.
Das Echo auf unseren "Aufruf zur Einmischung in eigener Sache" war überwältigend. "Demokratie Jetzt" wurde zwar keine Massenbewegung, aber viele wollten bei uns mitmachen, weil wir die Verhältnisse nicht nur kritisiert, sondern Vorschläge zu ihrer Veränderung gemacht hatten. Wir hatten zumindest in Ansätzen ein politisches Programm. Eine unserer ersten Aktionen war die Unterschriftsammlung zum Begehren, den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung zu löschen. Ich kann mich gut erinnern, wie mir der Atem gestockt hat, als ich das zum ersten Mal in der Öffentlichkeit aussprach. Ich wusste, damit legen wir das Beil an die Wurzel allen Übels in der DDR. Es war klar, dass die SED das als Kriegserklärung verstehen musste.
Es war ja in den Monaten und Wochen vor dem Mauerfall keineswegs sicher, dass aus unseren leisen Protesten eine Revolution werden würde. Die Gefahr, dass die SED brutal zuschlagen würde, war durchaus real. In der Schönhauser Allee in Berlin und an vielen anderen Orten in der DDR war es bereits zu brutalen Übergriffen von Volkspolizei und Stasi gekommen. Kampfgruppen und Volksarmee standen zum Einsatz gegen das eigene Volk bereit. Dass die Revolution dennoch friedlich blieb und die Mauer ohne neue Opfer überwunden werden konnte, ist für mich mehr als "Wahnsinn", wie die Leute damals riefen. Für mich ist es wirklich ein Wunder.
Der Autor, Mitbegründer von
"Demokratie Jetzt", war von 1990 bis 1994 Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen.