WIRTSCHAFT
Der Westen überschätzte das Vermögen im Osten
Am 30. Oktober 1989 legte der damalige Leiter der Plankommission der DDR, Gerhard Schürer, dem SED-Politbüro die von Egon Krenz, dem Nachfolger Honeckers, angeforderte "Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen" vor. Das Dokument war als "Geheime Verschlusssache" eingestuft. Was geheim bleiben sollte, wurde kurz darauf offenbar: Die DDR war bankrott. Ihre Zahlungsunfähigkeit stand unmittelbar bevor.
Ursache dafür war ihre Unfähigkeit, ihre Verbindlichkeiten gegenüber dem westlichen Ausland weiter zu bedienen. Sie waren von 2 Milliarden Valuta-Mark im Jahr 1970 auf 49 Milliarden Valuta-Mark 1989 angestiegen und wären, wie Schürer darlegte, 1990 unabwendbar auf 57 Milliarden geklettert. Allein um dies zu verhindern, wäre eine Senkung des Lebensstandards in der DDR um 30 Prozent im Jahr 1990 erforderlich gewesen, was - wie Schürer hinzufügte - "die DDR unregierbar machen würde". Und, so merkt er an: "Selbst wenn das der Bevölkerung zugemutet würde, ist das erforderliche exportfähige Endprodukt nicht aufzubringen." Die DDR war fertig.
Darüber, ob es die von Schürer vorgeschlagenen Rettungsmaßnahmen akzeptieren wolle, brauchte das Politbüro nicht beraten, denn neun Tage nach der Vorlage des Papiers fiel die Mauer und mit ihr die DDR. Der letzte SED-Ministerpräsident Hans Modrow leitete den Prozess der Liquidierung der Planwirtschaft ein und gründete am 1. März 1990 die "Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums"; Treuhandanstalt genannt. Am 17. Juni 1990 beschloss die demokratisch gewählte Volkskammer dann ein entsprechendes Gesetz, das durch den Einigungsvertrag bestätigt wurde. Kernaufgabe der Treuhandanstalt sollte es sein, die unternehmerische Tätigkeit des Staates durch Privatisierung so schnell und so weit wie möglich zurückzuführen und möglichst viele Unternehmen wettbewerbsfähig zu machen, um Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen.
Hinter dieser nüchternen Auftragsformulierung stand eine Herkulesaufgabe. Es ging darum, die gesamte DDR-Volkswirtschaft in Privatbesitz zu überführen und das durch eine Behörde, die erst einmal aufgebaut werden musste. Um ihre Aufgabe erledigen zu können, benötigte sie Wirtschaftsfachleute mit Führungserfahrung - und dies für eine zeitlich begrenzte Aufgabe. Die Suche nach kompetenten Fachleuten blieb für die Anstalt bis zu ihrer Auflösung Ende 1994 ein Problem. Differenzen gab es en masse. So war strittig, wie der Auftrag erledigt werden solle. Während von der DDR übernommene Mitarbeiter dafür waren, die Staatsbetriebe in Aktiengesellschaften und GmbHs zu verwandeln, sie aber im Staatsbesitz zu belassen, verfolgte Treuhand-Präsident Detlev Rohwedder einen anderen Kurs: "Schnell privatisieren und - wenn keine andere Möglichkeit besteht - behutsam stilllegen."
Als die Treuhandanstalt Ende 1994 ihre Arbeit einstellte, hatte sie rund 15.000 Privatisierungen vorgenommen und 4.300 Unternehmen ihren alten Eigentümern zurückgegeben, die von der DDR nach 1950 enteignet worden waren. 310 Unternehmen wurden Kommunen übertragen. Aus den anfänglich 8.400 Unternehmen, für die die Treuhandanstalt die Verantwortung übernahm, gingen nach Angaben des Bundesfinanzministeriums durch Entflechtungen, Abspaltungen und Ausgründungen etwa 23.500 Unternehmensobjekte hervor. Durch die sogenannte "kleine Privatisierung" von Ladengeschäften, Hotels, Apotheken und ähnlichem kamen weitere 25.000 Objekte in Privatbesitz. Für etwa 3.500 Gesellschaften und Unternehmensteile wurde die Abwicklung beschlossen. In rund 3.000 Fällen übernahmen Mitarbeiter, häufig Mitglieder der Geschäftsführung, ihre Betriebe. Von den mehr als 18.000 Anträgen auf Restitution enteigneter Unternehmen hat die Treuhand mehr als 16.000 erledigt. In 4.000 dieser Fälle konnten noch aktive Unternehmen ihren ursprünglichen Eigentümern zurückgegeben werden.
Mit dem Aufbau der Treuhandanstalt war 1990 neben der Privatisierung noch eine weitere Absicht verbunden. Man wollte die Bevölkerung der DDR an dem damals noch erwarteten Gewinn aus der Privatisierung des Volksvermögens teilhaben lassen und ihr "verbriefte Anteilsrechte am volkseigenen Vermögen" einräumen. Die Erwartung, dass sich durch die Privatisierung der Staatsbetriebe der DDR ein Gewinn erzielen lasse, war ein Irrtum, der heute kaum fassbar erscheint. Er beschränkte sich aber nicht nur auf die DDR-Regierung. Auch die damalige Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) hegte ähnliche Erwartungen. Wie dies möglich war, bleibt bis heute ein Rätsel - wusste man doch in den zuständigen Bundesministerien nur zu gut, wie es um die Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft stand. Seit Jahren konnte sie nur noch im Rahmen des innerdeutschen Handels, wo die DDR mit Verrechnungseinheiten statt mit Valuta bezahlen konnte, Geschäfte mit dem Westen machen. Bedingt durch die erzwungene Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Sowjetunion hatten die einst hochleistungsfähigen Betriebe Mitteldeutschlands längst die Fähigkeit eingebüßt, im Westen konkurrenzfähige Produkte herzustellen. Wie Industrieanlagen, die im Westen keinen Markt hatten und deren bisheriger Markt in den Comecon-Ländern zusammengebrochen war, mit Gewinn verkauft werden sollten, bleibt das Geheimnis derer, die diese Erwartung hegten.
Wie es um den tatsächlichen Wert der bislang volkseigenen Betriebe stand, belegen die Zahlen. Der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) machte in einem Beitrag über die Treuhand folgende Bilanz auf: Die Ausgaben, die der Treuhand durch die Privatisierung von Anlagen und Betrieben entstanden, beliefen sich auf 320 Milliarden D-Mark; die erzielten Einnahmen auf 67 Milliarden. Damit bleibt ein Negativsaldo von etwa 250 Milliarden D-Mark. Mit diesem Geld wurden die Voraussetzungen für die Privatisierung und die damit verbundene Modernisierung von insgesamt etwa 15.000 Unternehmen und Betriebsteilen geschaffen und - verbunden damit circa 1,5 Millionen Arbeitsplätze gerettet. Sie als Verlust abzubuchen wäre deshalb falsch. Es waren Investitionen, die die Grundlage für die wirtschaftliche und industrielle Genesung der Teile Deutschlands legten, die 40 Jahre lang zur DDR gehörten. Wie tief das Loch war, in dem die DDR-Wirtschaft steckte, zeigen Fakten. 1991, also in den ersten zwölf Monaten nach der Vereinigung, wurde die Produktivitätsrate der Industrie in den neuen Ländern auf gerade einmal 24 Prozent der westdeutschen geschätzt. 1997, sechs Jahre später, lag sie bereits bei 65 Prozent, und heute beträgt sie nach Angaben der Bundesregierung 79 Prozent.
Als die Treuhandanstalt 1994 ihre Arbeit beendete, hatte sie die industrielle Hinterlassenschaft weitestgehend privatisiert. In der Landwirtschaft war ihr dies nicht möglich gewesen. Diese Aufgabe blieb zu einem Gutteil der "Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben" überlassen. Insgesamt aber gelang es der Treuhand, die Fülle ihrer Aufgaben innerhalb von knapp fünf Jahren so sinnvoll zu erledigen, dass damit die Voraussetzung für ein allmähliches wirtschaftliches Zusammenwachsen der mehr als vier Jahrzehnte getrennten Teile Deutschlands geschaffen wurde.
An den mit der Privatisierung verbundenen millionenfachen Arbeitsplatzverlusten hatten die Betroffenen schwer zu tragen. Andere sahen einen Schatten über der Treuhand-Arbeit bei der Treuhand, wo es um die Rückgabe des zwischen 1945 und 1949 enteigneten Eigentums ging. Es war die Entscheidung von Regierung und Parlament, die sogenannte Bodenreform beizubehalten. Kohl hatte vor dem Bundestag versichert, die Sowjetunion habe die Beibehaltung der Bodenreform zur conditio sine qua non für die Wiedervereinigung gemacht. Der damalige Kreml-Chef Michail Gorbatschow hat dieser Darstellung Kohls öffentlich widersprochen. Das änderte nichts daran, dass es bei den von den Sowjets 1945 angeordneten und von der SED vollzogenen Enteignungen in der Industrie wie auch in der Landwirtschaft blieb.
In letzterer traf diese Entscheidung der Bundesregierung nicht nur die Großgrundbesitzer von mehr als einhundert Hektar Land, die das Hauptziel der SED waren. Auch viele Bauern mit kleineren Flächen waren betroffen, denn die Bodenreform war ein Instrument kommunistischer Zwangsherrschaft. Mit ihm sollte die Schicht der selbständig Wirtschaftenden insgesamt - der Mittelstand ebenso wie auch die Besitzer großer Vermögen - außer Landes getrieben werden.
Dass dieser Personenkreis nach der Einheit sein früheres Eigentum nicht zurückbekam,
war besonders bitter für die Familien, die über Jahrhunderte auf ihren Gütern gelebt hatten und nicht nur ein wirtschaftliches Interesse, sondern eine emotionale Bindung zu ihrem Besitz hatten. Nicht wenige von ihnen klagen denn auch über einen Bruch der im Grundgesetz verankerten Eigentumsgarantie. Dies hat die Treuhandanstalt zwar nicht zu verantworten - aber es überschattet in den Augen mancher ihren eindrucksvollen Beitrag zu Wiedervereinigung Deutschlands.
Der Autor war bis 2004 Parlamentskorrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".