BONN
Die Bundestagssitzung am 9. November 1989
Die Weltgeschichte traf den Bundestag unvorbereitet. Ein parlamentarischer Donnerstag ging seinen Gang: Aktuelle Stunde zur "Schätzung der EG-Getreideernte", dann Debatte zur Vereinsförderung. Wer die Protokolle nachliest, muss denken, dass in diesen Stunden der Behelfsplenarsaal im Bonner Wasserwerk das Tal der Ahnungslosen war. In Wahrheit sprachen sich in den Reihen die Nachrichten über Günter Schabowskis Pressekonferenz und die Reaktionen der Ost-Berliner bald herum. Nur - wie reagieren? Geschäftsmäßig, erst einmal. Vizepräsidentin Annemarie Renger (SPD), die die Sitzung leitete, ließ über das Vereinsrecht abstimmen. Dann Sitzungsunterbrechung, 30 Minuten, Beratungen im Hintergrund: Was tun, was sagen? Was ist politisch richtig, was notwendig, was zu viel?
Um 20:46 Uhr tritt Rudolf Seiters (CDU) ans Rednerpult. Der Kanzleramtsminister muss sprechen, Helmut Kohl ist in Warschau. Die knappe Regierungserklärung lässt Überraschung spüren und Vorsicht. Ein historischer Tag, sicher, "Mauer und Grenze in Deutschland werden damit durchlässiger" - weiter geht Seiters nicht. Etwas weiter gehen kann die Opposition: Vom "Ende der Mauer" redet SPD-Fraktionschef Hans-Jochen Vogel, vom "Fall" der Mauer der Grüne Helmut Lippelt. Von deutscher Einheit spricht keiner. Wolfgang Mischnick, FDP-Fraktionschef, in Dresden geboren, schließt die kurze Debatte mit dem Appell an alle DDR-Bürger: Reformiert euer Land, kämpft für freie Wahlen, vor allem aber: "Bleibt daheim!"
"Beifall bei allen Fraktionen", vermerkt das Protokoll. "Die Anwesenden erheben sich und singen die Nationalhymne." Im Nachhinein wirkt es logisch. Das Lied der Deutschen - eine Demonstration, eine Provokation? Dabei war der brummelnde Chorgesang bloß der Versuch der Abgeordneten, irgendwie Haltung zu bewahren vor der Weltgeschichte, die da über sie hereinbrach. Wozu passt, dass bis heute keiner genau weiß, wer als erster die Hymne angestimmt hat.
Der Autor ist Parlamentskorrespondent
des Berliner "Tagesspiegel".