Westreise
Auch in der Bretagne stößt eine Magedeburger Familie auf Interesse am Mauerfall
Um 21.45 Uhr hatte Roy Scheider im ZDF den Weißen Hai besiegt und damit dessen blutigen Feldzug vor einem idyllischen Badestrand gestoppt. Bestens vorbereitet auf die Gefahren der Weltmeere packten meine Eltern und ich also unsere Sachen zusammen und starteten Richtung Westen, dem wild-schönen Atlantik entgegen. Es war Juli 1990 und am Ende der Sommerferien sollte es den Staat, in dem ich aufgewachsen war, nicht mehr lange geben. Es war eine Zwischenzeit, eine kurze Verschnaufpause nach einem rasanten halben Jahr. Politisch betrachtet war das zwar nicht unsere erste "Westreise". Diese hatte uns schon am 11. November 1989 über den Grenzübergang Staaken nach West-Berlin geführt. Doch geografisch betrachtet, war das ja Osten - von Magdeburg aus gesehen. Sechs Monate später hingegen ging es wirklich gen Westen: Ein kleines Bauernhaus in der Bretagne wartete auf unseren Besuch.
Mit Franzosen hatten wir schon vorher, als die Grenzen noch zu waren, viele interessante Stunden erlebt. Wir hatten uns totgelacht, als Louis de Funès in der Rolle des Wachtmeisters Cruchot versuchte, die Nudisten vom Strand in St. Tropez zu verscheuchen. Und wir hatten uns gegruselt, als Jean Gabin als Kommissar Maigret übers nächtliche Pariser Kopfsteinpflaster schlich, um einen Serienmörder zu finden. Vor solchen Klassikern hatte auch das DDR-Fernsehen keine Angst. Wahrscheinlich verdreifachten sich die Einschaltquoten für die heimischen Sender in solchen Momenten.
Juli 1990: Die Währungsunion führte zu langen Schlangen vor den Sparkassen. Die Geschäfte wechselten ihre Sortimente über Nacht. In drei Monaten sollten wir Bundesbürger werden, aber was erwartete uns? Wie würde es ökonomisch weitergehen? Sicherlich wäre es vernünftiger gewesen, im Zeichen solcher Ungewissheiten die Familienkasse nicht mit einer teuren Reise zu belasten. Aber so waren meine Eltern nicht. Spontane Entschlüsse, einer Abenteuerlust entsprungen, waren immer schon ihr Ding. So fuhren wir also aufgeregt der Bretagne entgegen und noch heute bin ich ihnen dankbar dafür. Denn noch fast 20 Jahre und etliche Fernreisen später liegt über diesem Erlebnis ein besonderer Zauber. Ein Zauber des Aufbruchs, der im November 1989 begonnen hatte, uns an den Atlantik spülte, und zu dem sich erst später auch neue Wunden gesellten - bei meinen Eltern wie so manchen anderen Ostdeutschen.
Aufgeregt war ich vor der Reise vor allem, weil ich die Familiendolmetscherin geben sollte. Meine drei Jahre Schulfranzösisch seit der siebten Klasse, auf die ich bis dahin zurückblicken konnte, veranlassten meine Eltern zu der gewagten These: "Du sprichst doch perfekt Französisch." Ich aber ahnte, dass es doch einen kleinen Unterschied zwischen meinen Grammatikkenntnissen und Gesprächen mit "echten" Franzosen geben könnte. Der Praxistest fiel tatsächlich eher ernüchternd aus, aber immerhin konnten auch meine Eltern am Ende der Reise die Rechnung verlangen und ich hatte ein Gefühl für die Sprache bekommen.
Überhaupt hatten wir nicht den Eindruck, wenig zu verstehen: Wir verstanden auch ohne das richtige Vokabular, dass unsere Vermieterin, eine ehemalige Lehrerin, sich für Kunst interessierte und die ursprüngliche Natur ihres wunderschönen Gartens nie mit abgezirkelten Hecken malträtieren würde. Wir verstanden, warum die 80-jährige Besitzerin des winzigen Tante-Emma-Ladens im Dorf sehr reserviert reagierte, als sie merkte, dass wir Deutsche sind. Man entkommt der Geschichte nicht und wir wollten ihr nicht entkommen.
Im Gegenteil, im tiefen Westen Europas freuten wir uns auch über das Interesse an unserer eigenen Geschichte. Zum Beispiel bei Monsieur Colin, in dessen Fleischerei wir beim Bummel durch die engen Gassen von Chateauneuf-du-Faou gestolpert sind. Während er Salami und Schinken schnitt und ein staunendes "Ah oui, la chute du mur" (Oh ja, der Mauerfall) von sich gab, richtete sich mein Blick auf das etwas vergilbte Bild einer Figur von Johannes dem Täufer. Und ehe wir uns versahen, fanden sich mein Vater und ich fünf Meter unter der Erde wieder - vor dem "echten" Saint Jean-Baptiste, einer Granitfigur aus dem 15. Jahrhundert. Heute ist aus der unterirdischen Brunnenanlage vor der Fleischerei eine Touristenattraktion geworden, integriert in professionelle Stadtführungen. Damals mussten wir für eine unterhaltsame Geschichtsstunde vom Mittelalter bis zum Jahr 1989 einfach nur Salami kaufen.
Unser Test der französischen Lebensart endete nicht bei Baguette und Wein an den herrlich weiten Atlantikstränden, auch nicht in den Straßencafés. Wir mussten mit dem Geld zwar etwas haushalten, aber ohne einen frisch gefangenen Hummer gegessen zu haben, wollten wir nicht nach Hause fahren. Wir wussten, das arme Tier wird lebend ins kochende Wasser geschmissen. Um ihm also seine letzten Stunden zu versüßen, standen wir mit einem Gummi-Wassereimer am Hafen und ernteten fragende Blicke. Der Eimer war noch ein Überbleibsel unserer Campingurlaube am Rheinsberger See, aber daran lag es wohl nicht. Wir wussten nicht, dass wir den lebenden Hummer in einer Styroporkiste transportieren sollten. Wie grausam. Abends entbrannte in unserer Ferienküche dann eine Diskussion darüber, wer dem Tier nun den Todesstoß in den Kochtopf versetzen soll. Nach langem Hin- und Her musste mein Vater ran. Mit vereinten Kräften - sogar ein Hammer wurde zu Hilfe genommen - schafften wir es dann tatsächlich, an das Hummerfleisch heranzukommen. Es schmeckte eigentümlich.