STASI-AKTEN
Die Offenlegung der Dokumente des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit war 1989 stark umstritten
Am 15. Januar 1990 versammelten sich trotz des kalten Winternachmittags zehntausende Demonstranten vor der Zentrale der DDR- Staatssicherheit in der Ost-Berliner Normannenstraße. Gegen 17.00 Uhr war die Menge auf 50.000 Menschen angewachsen, eine halbe Stunde später forderten bereits 100.000 Demonstranten: "Stasi raus!"
Die DDR befand sich zu diesem Zeitpunkt in einer Übergangsphase: Die Mauer war bereits offen, Hunderttausende verließen das Land Richtung Westen. Prominente SED-Kader wie Erich Honecker und der Chef des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Erich Mielke, hatten abgedankt. Freie Wahlen sollten aber erst im März stattfinden. Schon seit dem 4. Dezember hatten Demonstranten zuerst in Erfurt, später in vielen anderen Städten die Bezirks- und Kreisämter der Stasi gestürmt; Bürgerkomitees übernahmen die Kontrolle über die Akten und verhinderten weitere Vernichtungen. Schließlich kündigte die Regierung unter Ministerpräsident Hans Modrow zwar die Auflösung der Staatssicherheit an. Doch in der Berliner Zentrale wurde noch gearbeitet, Akten konnten hier noch vernichtet oder zur Seite geschafft werden.
Am 15. Januar war Schluss: Nachdem schon seit dem Vormittag eine Delegation mit den Hausherrn über die Besetzung des Gebäudes verhandelt hatte, wurden am späten Nachmittag die Tore für die drängenden Demonstranten geöffnet. Ein Bürgerkomitee besetzte die letzte Bastion der einst so mächtigen Staatssicherheit. Als die DDR am 3. Oktober 1990 der Bundesrepublik beitrat, war die Stasi aufgelöst.
Dass jedes Stasi-Opfer einmal Zugang zu seiner Akte erhalten würde, konnten die Erstürmer der MfS-Zentrale nicht wissen. Sowohl in Westdeutschland als auch in der DDR war die Frage der Aktenöffnung umstritten. Helmut Kohl (CDU), der "Kanzler der Einheit", sprach sich klar dagegen aus; auch der damalige und jetzige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) war ein Gegner der Aktenöffnungen. "Manchmal habe ich darüber nachgedacht, ob man sie nicht unbesehen alle vernichten könnte", schrieb er 1991. Modrows frei gewählter Amtsnachfolger Lothar de Maiziere (CDU) befürchtete "Mord und Totschlag", falls Bespitzelte Einblick in ihre Akten bekämen.
Dass die Akten nicht in den Tiefen der Archive verschwanden, ist vor allem dem Engagement von DDR-Bürgerrechtlern zu verdanken. Sie überzeugten auch westdeutsche Datenschützer von der Notwendigkeit der Einsichtnahme. Die letzte, frei gewählte DDR-Volkskammer verabschiedete am 24. August 1990 das erste Gesetz über die Stasi-Akten. Danach sollten die Akten für die strafrechtliche Verfolgung der Täter sowie für die Rehabilitierung der Opfer genutzt werden und auf dem Gebiet der DDR bleiben. Weil Bürgerrechtler wie Bärbel Bohley befürchteten, dass diese Regelungen nach der deutschen Einheit nicht weiter gelten würden, besetzten sie Anfang September die ehemalige Stasi-Zentrale in Lichtenberg. Sie forderten "Freiheit für meine Akte!" Jeder Bespitzelte solle die Dokumente seiner Überwachung mit nach Hause nehmen können. Mit dieser Forderung konnten sie sich zwar nicht durchsetzen; aber hinter der Forderung nach Einblick in die eigene Akte gab es kein Zurück.
Der Pfarrer Joachim Gauck, in der letzten Volkskammer Vorsitzender des Sonderausschusses zur Stasi-Auflösung, kämpfte entschlossen für eine Öffnung der Stasi-Dokumente. Für ihn bildete die "politische, juristische und historische Aufarbeitung" der DDR-Vergangenheit eine Einheit, bei der den Geheimdienstaufzeichnungen eine wichtige Rolle zukam.
Es dauerte etwa ein Jahr, bis im Dezember 1991 der inzwischen gesamtdeutsche Bundestag das "Stasi-Unterlagen-Gesetz" beschloss. Anfang 1992 waren es prominente DDR-Oppositionelle, die sich zuerst über ihre Akten beugten. Manche erfuhren dabei von Verrat, der ihr Leben erschütterte, so wie Vera Lengsfeld. Ihr Mann Knud Wollenberger hatte viele Jahre lang Berichte über seine Frau an die Stasi geschickt. Obwohl diese Erkenntnis ihre Ehe zerstörte, blieb sie eine Befürworterin der Aktenöffnungen: "Trotz der zu erwartenden Schmerzen sind die Chancen, die die Akteneinsicht bietet, es wert, sie zu ertragen", schrieb sie 1992. Seitdem sind den Vorreitern mehr als zwei Millionen Menschen aus Ost- wie Westdeutschland gefolgt, die sich von den insgesamt 178 Aktenkilometern Aufschluss über ihre Vergangenheit erhoffen.
Doch kann man den Akten der Staatssicherheit überhaupt trauen? Roger Engelmann bescheinigt den Akten im Allgemeinen eine hohe Glaubwürdigkeit: "Dieser Apparat hatte keine Skrupel, Lügen in die Welt zu setzen; das heißt aber nicht, dass er bewusst Lügen in die eigenen Akten schreibt." Quellenkritik sei aber angebracht, sagt der Wissenschaftler der Birthler-Behörde - seit dem Jahr 2000 nach der Leiterin Marianne Birthler so genannt - denn auch "schräge oder falsche Angaben" findet man in den Akten, genauso wie "ideologisch geprägte Wahrnehmungen der Wirklichkeit". Eine genaue Prüfung jedes Dokumentes sei deshalb wichtig.
Das gilt insbesondere für die Fälle, wo mithilfe der Akten Lehrer, Richter, Beamte und Abgeordnete auf ihre Vergangenheit als mögliche Stasi-Zuträger überprüft wurden. Die Gauck-Behörde, wie sie nach ihrem ersten Leiter zunächst genannt wurde, entschied nicht selbst über Karrieren und Lebensläufe: Die Mitarbeiter lieferten nur eine Zusammenstellung der Informationen, die sie in Archiven über den zu Überprüfenden gefunden hatten. Mehr als drei Millionen Menschen wurden bislang so durchleuchtet. Die Entscheidung über die Weiterbeschäftigung lag beim Arbeitgeber. Seit 2006 dürfen allerdings nur noch Politiker und Inhaber von Spitzenämtern von der Behörde durchleuchtet werden.
Politisch besonders brisant war die Überprüfung in den Parlamenten. Eine allgemeine Überprüfung aller Abgeordneten aus Ost und West lehnte der Bundestag 1991 ab. Die Volksvertreter sollten nur auf eigenen Wunsch hin überprüft werden - oder bei einem konkreten Verdacht auf Spitzeldienste. Schon damals wurde kritisiert, dass die Konzentration auf hauptamtliche und inoffizielle Stasi-Mitarbeiter wichtige SED-Verantwortliche nicht erfasste - beispielsweise Modrow, der vor der Wende erster Sekretär der Dresdner SED-Bezirksleitung war. Besondere Aufmerksamkeit erlangte der Fall des heutigen Chefs der Linksfraktion, Gregor Gysi, der vor der Wende prominente Dissidenten als Anwalt verteidigt hatte. Aber hatte er zu ihrem Schaden auch mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet? Von Gysi lag keine Verpflichtung als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) vor, die Aktenlage war "unvollständig und untypisch", sagt der Forscher Engelmann. Gysi selber wies den Vorwurf einer IM-Tätigkeit stets zurück und bestritt, seinen Mandanten geschadet zu haben. Der Immunitätsausschuss des Bundestages befand aufgrund der Aktenfunde aber 1998, dass Gysi inoffiziell für die Staatssicherheit gearbeitet hatte; der Streit dauert bis heute an.
Während die Zahl der Überprüfungen auf Stasi-Mitarbeit von Jahr zu Jahr zurückgeht, bleibt der Zugang für die Forschung eine wichtige Aufgabe der Birthler-Behörde. Die bis 2002 währenden Prozesse um die Herausgabe der Akten von Altkanzler Kohl führten zu genaueren Vorschriften in der Abwägung zwischen Forschungsinteressen und Persönlichkeitsrechten der Bespitzelten wie der Stasi-Mitarbeiter. Welche Dokumente Forscher und Journalisten einsehen und veröffentlichen dürfen, wird aber weiter von Fall zu Fall entschieden. Wie lange die Birthler-Behörde noch eigenständig bleibt, ist 20 Jahre nach der Wende ungewiss. Die Debatte um ihre Zukunft dürfte wieder aufflammen, wenn 2010 Birthlers zweite Amtszeit endet.