UNGARN
Mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs veränderten die Budapester Reformkommunisten Europa und die Welt
Am 15. März 1989, dem ungarischen Nationalfeiertag, der an die revolutionären Kämpfe von 1848 gegen Habsburg erinnert, feierte Budapest ein "Fest der politischen Vernunft". Die Freiheitsdemonstration von mehr als 100.000 Menschen traf auf eine sich erneuernde kommunistische Partei. Der Satellit Ungarn probte seinen eigenen Weg fern von der programmierten Umlaufbahn um das sowjetische Zentralgestirn.
Bereits in den Jahren zuvor hatten oppositionelle Kreise den 15. März genutzt, um für ihre Forderung nach Freiheit zu demonstrieren. Polizisten hatten diese Kundgebungen Jahr für Jahr gewaltsam aufgelöst. 1989 aber hatten die Reformkommunisten der Polizei einen freien Tag gegeben.
Nur wer sich an die schwer bewaffnete Volkspolizei erinnert, die Honeckers SED in Leipzig oder Ost-Berlin noch Monate später aufgeboten hatte, kann ermessen, wie demokratisch diese Entscheidung der Reformer in Ungarn war - und wie mutig: Schließlich wussten Ministerpräsident Miklós Németh und der Reformideologe Imre Pozsgay, was die Opposition öffentlich fordern würde: Pressefreiheit, freie Wahlen, Streikrecht, Abschaffung der Arbeitermilizen und - besonders riskant - Austritt aus dem Warschauer Pakt. Das rührte an die bitterste Erfahrung in der neueren ungarischen Geschichte: die Niederschlagung des Aufstandes von 1956. Damals war der Austritt aus dem östlichen Militärbündnis vielleicht der wichtigste Anlass für den Überfall der sowjetischen Panzer auf Budapest.
Jetzt, im März 1989, kam unter lang anhaltendem Beifall der Massen die härteste der zwölf Forderungen: "Wir fordern den Abzug aller sowjetischen Besatzungstruppen." Niemand unter den Hunderttausend hat damals wohl gedacht, dass Ungarn zehn Jahre später Mitglied der Nato sein würde. Aber alle fühlten angesichts Gorbatschows Glasnost und Perestrojka einen milden Frühlingswind aus Moskau. Am Abend dieses 15. März hoben Zehntausende die Rechte zum Eid: "Das Volk Ungarns wird wieder seine Würde erhalten, die alte Schmach wird abgewaschen, das geloben wir."
Die "alte Schmach", das war der Einmarsch der Roten Armee von 1956 in ein Land, das den Zusagen der Sowjets vertraut hatte, sie würden die Souveränität des "Bruderstaats" Ungarn und dessen Freiheitsbewegung unter Ministerpräsident Imre Nagy respektieren. Die Suche nach der historischen Wahrheit über diese Tragödie war der wichtigste Motor der Opposition. In Schule, Universität und parteilicher Presse wurde der Freiheitskampf von 1956 nach kommunistischer Lesart "Konterrevolution" genannt, in den Familien daheim, im ganzen Volk, bewunderte und beweinte man die vielen Tausend Opfer. Sowjetpanzer gegen die Freiheit - das war die offene Wunde der ungarischen Gesellschaft.
Nun begann der wichtigste Akt der Verabschiedung von den Jahren der Diktatur. "Emlékezünk!" - "Erinnern wir uns!" wurde die nationale Parole des Budapester Frühlings. Nahezu täglich brachten die Medien neue Enthüllungen über die "nationale Tragödie von 1956". Es war das Ende von parteilich verordneten Denkverboten und Schweigespiralen. Auf dem Schindanger eines städtischen Friedhofs, wo auch verendete Zirkustiere verscharrt waren, wurden die sterblichen Überreste der hingerichteten Patrioten um Imre Nagy gefunden und exhumiert. Der Friedhof mit Parzelle 301 wurde zum Wallfahrtsort der Nation. Ein beispielloser Vorgang im kommunistischen Machtbereich: Dass Imre Nagy, ein von der Partei zur Unperson erklärter Politiker offiziell im Gedenken der Menschen auferstehen durfte, war unerhört. Im Frühsommer wurden die Opfer von 1956 feierlich noch einmal bestattet.
Im März 1989 war die damalige Ungarische Volksrepublik als erstes Land des kommunistischen Blocks der UN-Flüchtlingskonvention beigetreten - ein Schritt, der gerade für die Deutschen segensreiche Folgen haben sollte. Denn Ungarn war bis dahin in Verträgen mit der DDR gebunden, Flüchtlinge an die Staatssicherheit auszuliefern. Nun gab Budapest der UN-Konvention Vorrang. Von der Polizei aufgegriffene Fluchtwillige sollten nicht mehr nach Ost-Berlin abgeschoben werden.
Noch entscheidender für die DDR war die Öffnung des "Eisernen Vorhangs" an der ungarisch-österreichischen Grenze am 2. Mai. Ungarische Pioniere zerlegten mit großen Scheren den Stacheldrahtverhau bei Hegyeshalom. Ganz bewusst habe ich damals als Zeuge dieser befreienden Tat mit Blick auf unsere Zuschauer in Ostdeutschland berichtet, dass der rostige Rest auf Militärfahrzeugen "made in DDR" abtransportiert wurde.
Von Juni an sammelten sich Zehntausende meist junger DDR-Bürger in Budapest und Umgebung und lauerten auf eine Chance zur Flucht. Am 11. September schließlich öffnete sich für alle DDR-Bürger in Ungarn offiziell der Grenzübergang nach Österreich: In den knapp fünf Monaten seit dem 15. März hatte Ungarn nicht nur sich selbst verändert, sondern auch Europa und die Welt.
Der Autor war 1989
Osteuropa-Korrespondent des ZDF.