USA
Große Erwartungen: Bundeskanzlerin Merkel spricht am 3. November vor dem amerikanischen Kongress
Konrad Adenauer trat mit Demut vor die Volksvertreter in Washington. "Ich bin mir tief bewusst, welche Auszeichnung es ist, vor Ihnen, meine Damen und Herren, gewählten Vertreter der mächtigsten und freiesten Nation der Erde zu sprechen", eröffnete der erste und bisher einzige deutsche Bundeskanzler, dem diese Ehre zuteil wurde, am 28. Mai 1957 seine Rede vor dem amerikanischen Kongress. Mehr als ein halbes Jahrhundert später wird Angela Merkel am Dienstag an das Rednerpult im Plenarsaal treten und zu beiden Kammern des US-Kongresses sprechen, hinter ihr werden die beiden ranghöchsten US-Politiker nach Präsident Barack Obama sitzen: Vizepräsident Joe Biden und Nancy Pelosi, die Sprecherin des Repräsentantenhauses.
Merkels Worte haben in Washington Gewicht, daran ließ Gastgeberin Pelosi keinen Zweifel: "Wir freuen uns darauf, die Ansichten der Kanzlerin dazu zu hören, wie wir künftig gemeinsam internationalen Sicherheitsbedrohungen entgegentreten können, wie wir notwendige Klimaschutzmaßnahmen umsetzen und die globale Finanzkrise lösen können." Die Einladung hatte sie schon bei einem Treffen im Juni ausgesprochen. In der US-Hauptstadt gilt Merkel als europäische Spitzenpolitikerin auf der Höhe ihrer Macht.
"Afghanistan, Klimawandel, Finanzmarktkrise - von der amerikanischen Regierung wird die Kanzlerin als die europäische Ansprechpartnerin für diese Themen gesehen", schwärmt in Berlin der CDU-Bundestagsabgeordnete Andreas Schockenhoff. Auch der SPD-Politiker Hans-Ulrich Klose findet: "Die Kanzlerin gilt in Washington offenbar am ehesten als diejenige, die die Chance hat, das Führungsvakuum in Europa zu füllen." Das würden die Vertreter der Europäischen Kommission sicher nicht gerne hören, die sich am gleichen Tag zum EU-USA-Gipfel in Washington einfinden. "Merkel stiehlt der EU das Rampenlicht", findet Dan Hamilton, Direktor des Zentrums für transatlantische Beziehungen an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins Universität. "Das verstärkt den Eindruck, dass die Europäer sich nicht koordinieren."
Auch Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy wäre wohl nicht einverstanden mit Merkels Führungsrolle. Er war der Erste, der nach Jahren des transatlantischen Zwists im November 2007 vor dem Kongress Europa als starken Partner empfahl. Der britische Premierminister Gordon Brown forderte bei seinem Kongressauftritt im März einen globalen New Deal zur Lösung der Wirtschaftskrise. Doch Brown geht angeschlagen in das Wahljahr 2010 und Sarkozy muss sich bereits für 2011 warmlaufen. Merkel hat erst einmal vier Jahre vor sich - und umso mehr ruhen die Hoffnungen in Washington auf ihr als Stichwortgeberin.
Kaum ein Thema scheint sich dafür besser anzubieten als der Klimawandel. Merkel könnte ihren Auftritt für einen letzten Appell an den Kongress nutzen, vor dem Klimagipfel im Dezember in Kopenhagen zu einer innenpolitischen Einigung zu kommen. Doch vielen Kongressabgeordneten gehen die am europäischen Anspruch gemessenen vorsichtigen Ziele der Gesetzesvorlagen zur Begrenzung des Treibhausgasausstoßes zu weit "Merkel kann sich direkt an das Gremium wenden, das den größten Einfluss auf den Ausgang der Klimaschutzdebatte in den USA hat", sagt Heather Conley, Leiterin des Europa-Programms am Center for Strategic and International Studies, und warnt: "Sie darf nicht belehrend wirken." Das musste schon Gordon Brown erleben, als er nach der Verabschiedung der Buy-American-Klauseln im amerikanischen Konjunkturprogramm vor Protektionismus warnte - und auf eine Mauer des Patriotismus stieß. 18 stehende Ovationen zählte der BBC-Korrespondent während der Ansprache des Briten. Doch als der Redner zu den heiklen Handelsfragen kam, blieben selbst die marktliberalsten Republikaner sitzen.
Noch schwieriger dürfte es für Merkel sein, sich als sicherheitspolitische Visionärin zu präsentieren. "Der Kongress wird hören wollen, was Deutschland in Afghanistan und Pakistan zu tun gedenkt", glaubt Hamilton. Doch welche Angebote kann eine deutsche Kanzlerin für einen Kriegseinsatz der Nato machen, der nicht nur in ihrer Heimat, sondern auch in den USA zunehmend unbeliebt ist? Obama macht sich die Entscheidung, mehr Truppen an den Hindukusch zu schicken, derzeit nicht leicht. Prominente Kongressabgeordnete, darunter der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Senat, John Kerry, haben sich gegen eine abermalige Ausweitung des militärischen Engagements ausgesprochen. Die Kanzlerin könnte es halten wie Adenauer, der 1957 seine Loyalität zur Nato ausdrückte, ohne sich dabei etwas zu vergeben. Vor seinem Besuch hatten die USA die Bundesregierung aufgefordert, sich mit 650 Millionen Mark an den Stationierungskosten der amerikanischen Truppen im geteilten Deutschland zu beteiligen. Adenauer konnte den deutschen Beitrag bei seinem Besuch auf die Hälfte herunterhandeln -und ging nach diesem diplomatischen Sieg gestärkt in die Bundestagswahl 1957.
Doch 20 Jahre nach dem Mauerfall wird Merkel ein anderes Deutschland repräsentieren als ihr Vorgänger. Ein Land, das nicht mehr den Schutz der Großmacht sucht, sondern eigene Gestaltungskraft besitzt. "Deutschland und die USA müssen eine neue Partnerschaft schmieden, bei der es um mehr geht als darum, Europa zu stabilisieren", sagt Hamilton.