Als am Tag der Bundestagskonstituierung der Wecker von Nadine Müller klingelt, zeigt die Uhr erst vier Uhr am Morgen. Aus der 13.000-Einwohner Gemeinde Tholey, malerisch im Naturpark Saar-Hunsrück gelegen, muss sie sich auf den Weg nach Saarbrücken machen. Ihr Wohnort liegt am Rande des Wahlkreises Sankt Wendel, Nummer 298 in der Liste des Bundeswahlleiters. Am 27. September gaben ihr, der neuen CDU-Kandidatin, dort mehr als 40 Prozent der Wähler die Erststimme. Das reichte für ein Direktmandat, obwohl sie auch durch einen Platz auf der Landesliste abgesichert gewesen wäre. Ihr Gegenkandidat, der SPD-Politiker Rainer Tabillion, erhielt nur 30 Prozent der Stimmen. Deshalb ist es Müller, die frühmorgens, noch im Dunkeln, in ihrem Peugeot nach Saarbrücken fährt. Von dort aus geht um sieben Uhr der Flieger in die Hauptstadt, dem neuen Arbeitsplatz der 26-Jährigen. Um halb neun ist sie angekommen unter der Kuppel. Noch nicht unter der gläsernen des Bundestages, sondern zunächst unter dem grünen Gewölbe der Sankt-Hedwigs-Kathedrale. Es war die erste katholische Kathedrale, die vor mehr als 200 Jahren im protestantischen Preußen gebaut wurde; an diesem Morgen treffen sich hier die Abgeordneten zu einem ökumenischen Gottesdienst. Danach geht es Richtung Reichstag, wo sich die Parlamentarier in ihren Fraktionssälen sammeln. Noch kennt Nadine Müller nicht alle ihrer 193 Fraktionskollegen; einige hat sie bei landesweiten Treffen junger Unionsabgeordneter kennengelernt.
Mit 26 Jahren ist Nadine Müller die jüngste Abgeordnete der Unionsfraktion. Nur fünf Parlamentarier im ganzen Bundestag sind noch später geboren, sie sitzen bei der FDP, den Grünen und der Linken. Wenn man bei der konstituierenden Sitzung den Blick über die Reihen ihrer Fraktion schweifen lässt, sieht man viele dunkle Anzüge, dezente Krawatten, ergraute Haarschöpfe. Die Farbtupfer setzen vor allem die Frauen. In der ersten Reihe strahlt der bordeauxrote Blazer der Bundeskanzlerin, in der letzten Reihe leuchten Müllers hellblonde Haare. Bei der Wahl des Bundestagspräsidenten, als die Abgeordneten alphabetisch zu den Urnen gerufen wurden, steht sie dann auf einmal hinter der Bundeskanzlerin in der Schlange. Die habe sich über das neue weibliche Gesicht im Bundestag gefreut, erzählt Müller hinterher, die Kanzlerin finde aber, dass es ruhig noch mehr werden dürften - auch und gerade in der Unionsfraktion, wo 48 Frauen 191 Männern gegenüberstehen.
Dabei gehört Müller nicht zu denen, die seit ihrem Teenageralter bewusst auf eine Politikerkarriere hingearbeitet haben. Mit 16 fing sie in der Jungen Union (JU) an, wo sie erstmal - eher unpolitisch - Parties und die Jugendarbeit organisierte. Sie stieg in den Landesvorstand der saarländischen JU auf, begann sich mit Tourismus und Bildung zu beschäftigen. Erst relativ spät trat sie der CDU bei. Lange hatte sie vor, als Journalistin zu arbeiten, machte Praktika bei SAT1 und war für die Rhein-Neckar-Zeitung unterwegs. "In die Politik zu gehen war nie geplant", erzählt sie. "Ich dachte eigentlich immer, man müsste das planen."
Noch steht in vielen Medienberichten ihr Alter im Mittelpunkt, die FAZ nannte sie und den jungen Grünen-Abgeordneten Sven-Christian Kindler "Nesthäkchen", bei Phoenix durfte der altgediente SPD-Abgeordnete Hans-Ulrich Klose ihr Tipps für den Bundestag mitgeben. Das stört Nadine Müller nicht. "Man hat ja wirklich noch wenig Ahnung, wie alles läuft und ist auch dankbar für Ratschläge." Dass sie in einem Artikel aber mit der Aussage zitiert wurde, im saarländischen Landtag sei sie am Anfang nicht ernst genommen worden, ärgert sie ein bisschen: "Das habe ich nicht gesagt."
Denn in Berlin mag sie zu den Neuen gehören, in Saarbrücken war sie fast schon ein "alter Hase" im Landtag. 2004 wurde sie als 21-Jährige in das Landesparlament gewählt. Ihr Jurastudium hatte sie zu diesem zeitpunkt schon fast abgesachlossen. Im Landtag saß sie im Ausschuss für Wirtschaft und Wissenschaft. Andere Dimensionen seien das gewesen, sagt sie: Das Parlament in Saarbrücken hat 51 Mitglieder; zur CDU, die die Regierung stellte, gehörten 27 Abgeordnete. In den Arbeitsgruppen der Fraktion musste sie sich nur mit sechs anderen beraten. "Der Arbeitskreis gab die Linie für die Fraktion vor, das wurde nur ganz selten gekippt", erzählt sie. Abstimmungen in so kleinen Kreisen, das ist ihr klar, wird es im Bundestag nicht mehr geben.
Bislang steht noch nicht einmal fest, in welchem Ausschuss sie mitarbeiten kann. "Wirtschaft und Technologie" wäre ihr Lieblingsausschuss. Fachkräftemangel ist ein Thema, das sie seit Schulzeiten beschäftigt. "Wenn wir nicht etwas machen, damit sich mehr Jugendliche für Naturwissenschaften und Technik interessieren, ist es schlecht für Deutschland, dann werden wir abgehängt", das ist ihre Motivation, sich des Themas anzunehmen. Auch im Landtag hat sie sich schon mit Wirtschaft und Wissenschaft, mit Innovationsförderung und Strukturwandel beschäftigt. Doch wie viel ihre Erfahrungen zählen, wenn die Ausschüsse besetzt werden, weiß sie noch nicht.
Nach der vierstündigen konstituierenden Sitzung und dem Kennenlern-Stehempfang kommt Nadine Müller nachmittags wieder in ihr Büro "Unter den Linden 71" zurück. Wände und Säulen sind hier in blau, rot und grün gestrichen, die Büros sind allerdings schwarz besetzt: Im Gebäudeteil sind nur Unionsabgeordnete untergebracht. Zu Fuß sind es von hier fünf Minuten bis zum Brandenburger Tor und zehn Minuten bis zum Reichstagsgebäude. Gleich gegenüber zeigt Madame Tussauds ihre Wachsfiguren. Doch während der Sitzungswochen wird die junge Abgeordnete wenig Zeit für die Attraktionen Berlins haben.
Die Einrichtung des Büros wirkt noch provisorisch: Der Laptop auf dem Schreibtisch ist eigentlich das Arbeitsgerät des Praktikanten, die Möbel sollen noch umgestellt, der verblichene Teppich ausgewechselt werden. Doch im Gegensatz zu vielen neuen Kollegen, die noch Räume und Mitarbeiter suchen, kann die Juristin zumindest schon mit der Arbeit beginnen. Das Büro übernahm Nadine Müller - genau wie ihren Wahlkreis Sankt Wendel - vom ehemaligen CDU-Abgeordneten Hermann Scharf, der nach einer Legislaturperiode nicht mehr für den Bundestag kandidieren wollte. "Ich war natürlich froh, dass ich ein Stück weit ein gemachtes Nest bekomme", sagt die Saarländerin. Zum Abgeordnetenglück fehlt ihr eigentlich nur noch eine feste Bleibe in Berlin. Abends, nach all den Fraktionstreffen, Sitzungen und Presseterminen will sie noch einige Zwei-Zimmer-Wohnungen anschauen. Noch wohnt sie im Hotel und findet es praktisch, wenn die Fahrbereitschaft des Bundestages sie morgens abholt. Doch später möchte sie gerne wieder mit Fahrrad und öffentlichen Verkehrsmitteln in der Hauptstadt unterwegs sein.
Auch sonst will sie, obwohl sie jetzt mehr verdient als die meisten ihrer Altersgenossen, ihren Lebensstil nicht ändern. "Vielleicht kaufe ich öfter bei Esprit ein und nicht bei H&M, aber ich hole mir sicherlich keine Gucci-Klamotten." Und sie möchte in Berlin auch Zeit für Abende mit alten Freunden finden: "Ich hoffe, sie sehen dann nicht nur die Politikerin in mir."