37. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Nehmen Sie bitte Platz.
Im Namen des ganzen Hauses möchte ich den Kollegen Lothar Binding und Dr. Diether Dehm nachträglich zu ihren 60. Geburtstagen Anfang April gratulieren und alles Gute wünschen.
Die Kollegin Dr. Martina Krogmann hat am 1. April auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolger begrüße ich den Kollegen Hans-Werner Kammer. Herzlich willkommen!
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
zur Sicherheit im Luftverkehr
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD:
Haltung der Bundesregierung zur Finanzierbarkeit der FDP-Steuerpläne
(ZP 1 und 2 siehe 36. Sitzung)
ZP 3 Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin
zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Ergänzung zu TOP 28
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Lisa Paus, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen
- Drucksache 17/1422 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der Forschungsinstitute für die Gemeinschaftsdiagnose gewährleisten
- Drucksache 17/1424 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umweltberichterstattung in die Gemeinschaftsdiagnose aufnehmen
- Drucksache 17/1423 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Schlecht, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der Forschungsinstitute für die Gemeinschaftsdiagnose gewährleisten
- Drucksache 17/1405 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
e) Beratung des Antrags Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gentechnisch veränderte Amflora-Kartoffel zuverlässig aus der Lebensmittel- und Futtermittelkette fernhalten
- Drucksache 17/1410 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
f) Beratung des Antrags Abgeordneten Hilde Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Qualität und Transparenz in der Pflege konsequent weiterentwickeln - Pflege-Transparenzkriterien optimieren
- Drucksache 17/1427 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umgang mit Guantánamo-Häftlingen
- Drucksache 17/1421 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
ZP 6 Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
Eine Wirtschaftspolitik für Wachstum und Arbeitsplätze
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Da heute als erster Tagesordnungspunkt eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin aufgerufen wird, verschiebt sich der dort ursprünglich vorgesehene Tagesordnungspunkt 3 an die Stelle des Tagesordnungspunktes 5. Dieser wird abgesetzt. Außerdem soll der Tagesordnungspunkt 24 abgesetzt werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, bitte ich Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben und zweier Ereignisse in der parlamentarischen Osterpause zu gedenken.
Meine Bitte gilt auch unseren Gästen auf den Tribünen, unter denen ich besonders den Botschafter der Republik Polen, Herrn Marek Prawda, begrüße.
Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sind tief erschüttert über den Absturz der polnischen Präsidentenmaschine in der Nähe von Smolensk am Morgen des 10. April 2010, bei dem alle Mitglieder der Delegation ums Leben kamen. Unter den 96 Opfern befanden sich der polnische Staatspräsident Lech Kaczynski und seine Ehefrau sowie zahlreiche hochrangige Repräsentanten des polnischen Staates und der Kirche. Auch die Vizepräsidentin des Senats und zwei Vizepräsidenten sowie weitere 15 unserer Kolleginnen und Kollegen des Sejm und des Senats zählen zu den Opfern. Mit vielen von ihnen haben wir über unsere Parlamente, ihre Ausschüsse und Gremien in den vergangenen Jahren eng zusammengearbeitet. Sie waren uns zu Partnern und Freunden geworden.
Staatspräsident Kaczynski und seine Delegation waren auf dem Weg zu einer Gedenkfeier, um am Mahnmal von Katyñ der fast 22 000 polnischen Offiziere und Intellektuellen zu gedenken, die 1940 von Spezialeinheiten des sowjetischen Geheimdienstes in einem Wald bei Katyñ ermordet worden waren. Es ist besonders tragisch, dass diese Reise, die als Geste der Versöhnung zwischen Polen und Russland gedacht war, mit einer solchen Katastrophe endete.
Die große Anteilnahme der internationalen Staatengemeinschaft und die Beteiligung am Staatsbegräbnis in Krakau belegen die Bedeutung und Wertschätzung, die Polen im Kreis der Demokratien der Welt genießt. Unser gemeinsames Ziel der Versöhnung der europäischen Völker und Nationen werden wir auch im Gedenken und Respekt für die Opfer des Unglücks von Smolensk mit umso größerem Ernst weiterführen.
Der Deutsche Bundestag trauert mit dem polnischen Volk und teilt seinen Schmerz über den furchtbaren Unfalltod seines Staatsoberhauptes, seiner Ehefrau und der übrigen Mitglieder seiner Delegation. Wir drücken den Angehörigen der Toten und dem gesamten polnischen Volk unser tief empfundenes Mitgefühl und unser Beileid aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Bestürzung haben wir in den letzten Tagen erfahren müssen, dass am Karfreitag drei deutsche Soldaten in Afghanistan gefallen sind. Am vergangenen Donnerstag riss in der nordafghanischen Provinz Baghlan eine Sprengstofffalle der Taliban weitere drei unserer Soldaten in den Tod. Wenige Stunden später wurden Bundeswehrangehörige mit Hand- und Panzerabwehrwaffen beschossen. Dabei wurde ein deutsches Sanitätsfahrzeug getroffen und ein Militärarzt getötet.
Wir beklagen inzwischen 43 gefallene deutsche Soldaten. Wir trauern um die Toten. Unsere Anteilnahme gilt den Angehörigen, unsere besondere Fürsorge gilt den Verletzten.
Der Auftrag unserer Soldaten ist ein Beitrag zu unserer Sicherheit und unserer Freiheit, die in Zeiten des internationalen Terrorismus auch und gerade dort verteidigt werden müssen, wo dieser seine Rückzugsräume und Kommandozentralen hat.
Der Deutsche Bundestag ist sich seiner besonderen Verantwortung für die Militäreinsätze bewusst, die bislang jeweils mit hohen parlamentarischen Mehrheiten beschlossen worden sind. Niemand unter den Abgeordneten macht sich seine Entscheidung leicht. Alle ernsthaften Einwände und Aspekte, die unter den Soldaten und in der Öffentlichkeit diskutiert werden, sind auch Gegenstand der parlamentarischen Beratung und Entscheidung. Aus guten Gründen entscheidet der Bundestag jeweils über ein befristetes Mandat. Dies gibt uns die Möglichkeit und verpflichtet uns zugleich, immer wieder neu Auftrag und Ziele im Lichte der Erfahrungen und Lageveränderungen zu überprüfen. Zur selbstkritischen Überprüfung der beschlossenen Einsätze gehört dabei auch, die direkten und indirekten Wirkungen eines beschleunigten Rückzugs auf Afghanistan und auch auf die internationale Staatengemeinschaft zu berücksichtigen.
Über vierzig Staaten unterstützen Afghanistan auf dem Weg, für die eigene Sicherheit selbst Verantwortung zu übernehmen. Von diesem Ziel, ein stabiles, demokratisches afghanisches Staatswesen aufbauen zu helfen, darf sich die internationale Staatengemeinschaft nicht verabschieden. Diesem Auftrag fühlten sich auch unsere gefallenen Soldaten verpflichtet. Unter Einsatz ihres Lebens haben sie daran mitgewirkt, den Menschen in Afghanistan eine friedfertige Zukunft zu ermöglichen.
Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes verneigen sich vor den Toten. Den Hinterbliebenen und Angehörigen bekunden wir unser tiefes Mitgefühl. Den Verletzten wünschen wir eine schnelle und vollständige Genesung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, Sie haben sich zu Ehren der Opfer von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 unserer Tagesordnung auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin
zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Auch hierzu darf ich Einvernehmen feststellen. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Übermorgen nehmen wir Abschied von vier deutschen Soldaten, die am letzten Donnerstag in Afghanistan gefallen sind. Wir nehmen Abschied von Thomas Broer, Marius Dubnicki, Josef Kronawitter und Jörn Radloff. Schon vor zwei Wochen mussten wir Abschied nehmen von Martin Augustyniak, Nils Bruns und Robert Hartert. Sie waren am Karfreitag in Afghanistan gefallen, ebenso wie sechs afghanische Soldaten.
Sie alle sind gestorben, weil sie Afghanistan zu einem Land ohne Terror und Angst machen wollten. Ich spreche den Angehörigen, den Kameraden und Freunden mein tief empfundenes Mitgefühl aus. Ich tue dies im Namen der ganzen Bundesregierung und der Mitglieder dieses Hohen Hauses und für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Auch an die Verwundeten denken wir. Auch bei ihnen sind meine und unsere Gedanken und Sorgen. Wir wünschen ihnen baldige und vollständige Genesung.
Anlässlich des Gelöbnisses von jungen Bundeswehrrekruten am Jahrestag des Stauffenberg-Attentats hat Altbundeskanzler Helmut Schmidt am 20. Juli 2008 vor dem Reichstag gesagt - ich zitiere -:
Liebe junge Soldaten! Ihr habt das große Glück ? , einer heute friedfertigen Nation und ihrem ? rechtlich geordneten Staat zu dienen. Ihr müsst wissen: Euer Dienst kann auch Risiken und Gefahren umfassen. Aber ihr könnt euch darauf verlassen: Dieser Staat wird euch nicht missbrauchen.
Ende des Zitats.
Ja, dieser Staat, der im letzten Jahr 60 Jahre alt wurde und der in diesem Jahr 20 Jahre Wiedervereinigung feiern kann, verlangt von seinen Soldatinnen und Soldaten viel, sehr viel, wie wir gerade in diesen Tagen schmerzhaft erfahren müssen. Aber niemals wird er sie missbrauchen. Er stellt sie in den Dienst der freiheitlichen und demokratischen Werte dieses Landes.
Die im Einsatz in Afghanistan gefallenen Soldaten haben wie alle ihre Kameraden, die als Berufssoldaten oder Soldaten auf Zeit tätig sind, einen Eid geleistet, diesen Eid:
Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.
Ja, die im Einsatz gefallenen Soldaten, derer wir heute gedenken, haben der Bundesrepublik Deutschland treu gedient, indem sie einem Mandat folgten, das der Deutsche Bundestag in den letzten acht Jahren mit unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen auf Antrag von Bundesregierungen in unterschiedlicher Zusammensetzung immer wieder beschlossen hat. Dieses Mandat ist über jeden vernünftigen völkerrechtlichen oder verfassungsrechtlichen Zweifel erhaben.
Es ruht auf den Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Es ist unverändert gültig.
Unsere im Einsatz gefallenen Soldaten waren tapfer, weil sie ihren Auftrag, unser Recht und unsere Freiheit zu verteidigen, in vollem Bewusstsein der Gefahren für Leib und Leben ausgeführt haben. Tapferkeit - das haben zuerst sie und ihre Angehörigen, aber dann auch wir alle schmerzhaft erfahren müssen - ist ohne Verletzbarkeit nicht denkbar.
Jeder einzelne gefallene Soldat verpflichtet deshalb uns alle, sorgsam mit seinem Andenken umzugehen. Unser Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel hat die drei Toten des Karfreitags zurück nach Deutschland begleitet. Unser Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg ist unmittelbar nach dem Gefecht der vergangenen Woche zurück nach Masar-i-Scharif geflogen. Ich bin vor zwei Wochen nach Selsingen zur Trauerfeier gefahren, und ich werde am Samstag gemeinsam mit dem Bundesaußenminister und dem Bundesverteidigungsminister in Ingolstadt sein. Wir alle haben das nicht allein als Regierungsmitglieder getan, wir tun es auch - wie viele andere aus diesem Hohen Hause - als Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Denn auch als Abgeordnete haben wir diesen Einsatz beschlossen und damit die Verantwortung dafür übernommen, was mit unseren Soldatinnen und Soldaten geschieht. Das, was unsere toten Soldaten für uns getan haben, hat im Mittelpunkt unseres öffentlichen Andenkens zu stehen.
Ich habe es in den letzten Tagen und Wochen häufiger gesagt und wiederhole es heute: Dass die meisten Soldatinnen und Soldaten das, was sie in Afghanistan täglich erleben, Bürgerkrieg oder einfach nur Krieg nennen, das verstehe ich gut. Wer täglich fürchten muss, in einen Hinterhalt zu geraten oder unter gezieltes Feuer zu kommen, der denkt nicht in juristischen Begrifflichkeiten. Wer so etwas erlebt, der fürchtet vielmehr, dass derjenige, der völkerrechtlich korrekt vom nicht internationalen bewaffneten Konflikt spricht, die Situation zu verharmlosen versucht. Deshalb sage ich ganz deutlich: Niemand von uns verharmlost; niemand von uns - ob er im Deutschen Bundestag für oder gegen diesen Einsatz gestimmt hat - verharmlost das Leid, das dieser Einsatz bei unseren Soldaten und ihren Familien, aber auch bei Angehörigen unschuldiger ziviler afghanischer Opfer hinterlässt.
Am 10. Februar dieses Jahres hat Bundesaußenminister Guido Westerwelle für die Bundesregierung vor diesem Hohen Haus erklärt - ich zitiere -:
Die Intensität der mit Waffengewalt ausgetragenen Auseinandersetzung mit Aufständischen und deren militärischer Organisation führt uns zu der Bewertung, die Einsatzsituation von ISAF auch im Norden Afghanistans als bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts zu qualifizieren.
Das, meine Damen und Herren, ist das, was landläufig als kriegerische Handlung oder Krieg bezeichnet wird.
Jedem Mitglied dieses Hauses, das sich ernsthaft mit dieser Frage beschäftigt hat - und das unterstelle ich jedem von uns -, war dies vor der Abstimmung über das aktuelle Mandat bewusst. Wir können von unseren Soldaten nicht Tapferkeit erwarten, wenn uns selbst der Mut fehlt, uns zu dem zu bekennen, was wir beschlossen haben.
In einem Interview, das am letzten Sonntag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist, hat Hauptfeldwebel Daniel Seibert minutiös ein Gefecht beschrieben, in das er am 4. Juni des letzten Jahres geriet. Auf die Frage, ob er selbst in diesem Gefecht geschossen und einen Menschen getötet hat, antwortet er - ich zitiere -:
Ich habe ihn erschossen. Er oder ich, darum ging es in diesem Fall.
Daniel Seiberts Handeln während des Gefechts war es zu verdanken, dass ein Spähtrupp aus einem Hinterhalt der Taliban befreit werden konnte. Hauptfeldwebel Seibert wurde für Tapferkeit ausgezeichnet. Das bedeutet ihm, wie er in dem Interview weiter ausführt, nicht viel. Wichtiger seien ihm Anerkennung und Respekt für die Härte seines Einsatzes, Anerkennung und Respekt von uns allen, von allen Bürgerinnen und Bürgern, Respekt für ihn und alle Soldaten, die in Extremsituationen ihres Lebens kommen, die wir uns in Deutschland kaum oder gar nicht vorstellen können.
Anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises am 10. Dezember des letzten Jahres hat der amerikanische Präsident Barack Obama gesagt - ich zitiere -:
Ja, die Mittel des Krieges spielen eine Rolle in der Erhaltung des Friedens. Und doch muss diese Wahrheit neben einer anderen bestehen, nämlich der, dass Kriege menschliche Tragödien bedeuten, wie gerechtfertigt sie auch immer sein mögen. Der Mut des Soldaten ist ruhmreich, ein Ausdruck der Aufopferung für sein Land, für die Sache und für seine Waffenbrüder. Doch der Krieg selbst ist niemals ruhmreich, und wir dürfen ihn niemals so nennen.
In anderen Worten: Wir müssen das Leid beim Namen nennen. 43 deutsche Soldaten haben seit Beginn unseres Einsatzes ihr Leben in Afghanistan verloren. 24 von ihnen sind durch sogenannte Feindeinwirkung und im Kampf gefallen. Unbeteiligte Menschen haben ihr Leben verloren - auch infolge deutschen Handelns, wie beim Luftschlag in Kunduz am 4. September vergangenen Jahres.
Jeder Tod beendet nicht nur ihr Leben, er trifft auch immer gelebte zwischenmenschliche Nähe, Liebe, Hoffnungen und Träume. Deshalb ist es wieder und wieder wichtig, dass wir uns klarmachen, warum wir junge Frauen und Männer in ein fernes Land schicken, wo ihre Gesundheit an Körper und Seele und ihr Leben immer wieder in Gefahr sind.
Es ist wieder und wieder wichtig, dass wir Politiker die Tatsachen klar benennen. Es ist wieder und wieder wichtig, sich auch als Mitglieder der Bundesregierung und als Abgeordnete zu den menschlichen Zweifeln zu bekennen, die jeder von uns schon hatte oder hat: die Zweifel, ob dieser Kampfeinsatz in Afghanistan tatsächlich unabweisbar ist. Erst wenn wir uns diesen Zweifeln stellen, können wir den Einsatz glaubhaft verantworten. So jedenfalls geht es mir. Dennoch und so stehe ich wie die große Mehrheit dieses Hauses hinter diesem Einsatz.
Dass afghanische Frauen heute mehr Rechte als früher haben, dass Mädchen zur Schule gehen dürfen, dass Straßen gebaut werden und dass vieles, vieles mehr geschafft wurde, ist das Ergebnis unseres Einsatzes in Afghanistan.
Das lohnt sich, und das ist mancher Mühe wert.
Dadurch alleine könnte der Einsatz unserer Soldaten dort aber nicht gerechtfertigt werden. In so vielen anderen Ländern dieser Welt werden die Menschenrechte missachtet, werden Ausbildungswege verhindert, sind Lebensbedingungen katastrophal - und trotzdem entsendet die internationale Gemeinschaft keine Truppen, um sich dort militärisch zu engagieren. Nein, in Afghanistan geht es noch um etwas anderes.
Der berühmte Satz unseres früheren Verteidigungsministers Peter Struck bringt das für mich auf den Punkt. Er sagte vor Jahren:
Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt.
Bis heute hat niemand klarer, präziser und treffender ausdrücken können, worum es in Afghanistan geht. Bislang ist diesem Satz aber vielleicht noch nicht eine ausreichende Debatte darüber gefolgt, was genau es bedeutet, wenn wir sagen: Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt.
Unsere Sicherheit, in einem freien Rechtsstaat leben zu können, wird heute von Entwicklungen gefährdet, die weit außerhalb unserer Grenzen entstehen können. Das ist an sich keine neue Entwicklung, aber in Zeiten der Globalisierung hat es eine neue Qualität erlangt.
Der internationale Terrorismus und die von ihm ausgehende sogenannte asymmetrische Bedrohung durch Menschen, denen ihr eigenes Leben nichts bedeutet - dies ist eine der großen Schattenseiten der Globalisierung. Doch sowenig man die Globalisierung abschaffen kann - was ich nicht will, was aber auch gar nicht ginge, selbst wenn man es wollte -, so wenig dürfen wir in unseren Anstrengungen nachlassen, den Gefahren für das Recht, die Sicherheit und die Freiheit unseres Landes dort zu begegnen, wo sie entstehen.
Es ist müßig und an dieser Stelle auch völlig unnötig, darüber zu diskutieren, in welchem Zusammenhang die historischen Ereignisse der Jahre 1989 und 1990, die zum Ende des Kalten Krieges geführt haben, auch mit dem ebenfalls 1989 abgeschlossenen Abzug der sowjetischen Soldaten aus Afghanistan stehen könnten. Diese Diskussion kann und will ich hier nicht führen, aber etwas anderes steht fest, und zwar, dass Afghanistan durch den Sieg der Taliban Jahre später zur Heimstatt internationaler Terrororganisationen wie al-Qaida gemacht wurde.
Die Terrorangriffe des 11. September hatten ihre Wurzeln in den Ausbildungslagern der al-Qaida im von den Taliban beherrschten Afghanistan. Aus ihnen sind die Attentäter von New York und Washington und später die von London und Madrid unerkannt hervorgegangen. Viele dieser Gruppen haben unerkannt unter uns gelebt. Ja, sie haben inzwischen auch bei uns in Deutschland verheerende Anschläge geplant. Wir hatten bisher lediglich das Glück, sie noch rechtzeitig verhindern zu können.
Es wäre jedoch ein Trugschluss zu glauben, Deutschland wäre nicht im Visier des internationalen Terrorismus. Die Anschläge des 11. September haben uns ahnen lassen, was sich mittlerweile bestätigt hat: dass sich unter den Bedingungen der Globalisierung die Herausforderungen an unsere Sicherheitspolitik nach dem Ende des Kalten Krieges drastisch gewandelt haben. Es wird in Zukunft weit weniger als bisher um Konflikte zwischen Staaten gehen. Es sind die asymmetrischen Konflikte, die unsere sicherheitspolitische Zukunft dominieren werden.
Es sind Taliban und ihre Verbündeten in Afghanistan, die sich hinter Stammes- und Dorfstrukturen unerkannt verstecken und damit selbst hinter Frauen und Kindern, um dann mit militärischen Mitteln zuzuschlagen. Es sind Piraten vor der Küste Somalias, die mit räuberischen Attacken unsere Handelswege in Gefahr bringen. Es sind die Gefahren, die nicht dem klassischen, dem gewohnten Muster von Konflikten und Kriegen entsprechen, die auch aus weiter Entfernung in Windeseile direkt zu uns gelangen können.
Dennoch: Es ist und bleibt zunächst nicht eine militärische Aufgabe, dieser Bedrohung zu begegnen, ganz im Gegenteil: Der Einsatz der Bundeswehr ist und bleibt nur Ultima Ratio.
Er kann stets nur das äußerste Mittel sein, streng gebunden an Völker- und Verfassungsrecht.
Deutschland übt sich auch aufgrund seiner Geschichte nicht nur in Afghanistan in militärischer Zurückhaltung. Ich sage: Deutschland übt sich aus gutem Grund in militärischer Zurückhaltung. Militärische Zurückhaltung und der Einsatz militärischer Mittel als Ultima Ratio - das ist Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, und zwar verbunden mit der politischen Verantwortung, die wir aufgrund unserer wirtschaftlichen Stärke, unserer geografischen Lage im Herzen Europas wie auch als Mitglied unserer Bündnisse wahrnehmen.
Wir sind eingebunden in die Partnerschaft mit den Verbündeten in der Europäischen Union und der NATO. Alleine vermögen wir wenig bis nichts auszurichten. In Partnerschaften dagegen schaffen wir vieles.
Seit 1990, also seit der Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges, ist unser Land einen beachtlichen Weg gegangen.
Im Rahmen der Wiedervereinigung haben wir den Aufbau einer Bundeswehr geschafft, die seit 1990 das gesamte Bundesgebiet umfasst, also auch das Gebiet der früheren DDR. Schritt für Schritt hat Deutschland international Verantwortung gemeinsam mit unseren Verbündeten in der NATO, in der europäischen Sicherheitspolitik und im Auftrag der Vereinten Nationen auch außerhalb des Bündnisgebietes übernommen.
War es unter den Bedingungen des Kalten Krieges noch völlig undenkbar, so stand die Bundeswehr wenige Jahre nach der deutschen Einheit bereits als Teil von Friedenstruppen in Somalia oder auf dem Balkan. 1999 erfolgte die Beteiligung Deutschlands am Einsatz im Kosovo. Ohne Zweifel, es sind diese Einsätze im Ausland, die heute den Auftrag, die Struktur und den Alltag der Bundeswehr wesentlich bestimmen.
Zurzeit beteiligt sich Deutschland mit rund 6 600 Soldatinnen und Soldaten an elf Missionen. Deutsche Soldatinnen und Soldaten sind in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, im Sudan, vor der Küste des Libanon, im Mittelmeer und in Afghanistan im Einsatz. Die rechtliche Absicherung dieser Auslandseinsätze ist in mehreren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erfolgt. Sie finden statt auf dem Boden von Mandaten des Deutschen Bundestages. Mit ihnen wird über die Abgeordneten ein wichtiges Zeichen für die Verbindung der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes mit unseren Soldatinnen und Soldaten gesetzt.
Dies ist wichtiger denn je. Denn die Bundeswehr wird ihren Auftrag nur dann erfüllen können, wenn sie sich auf den nötigen Rückhalt in der Gesellschaft verlassen kann
und wenn dieser Rückhalt auch sichtbar wird.
Auf der Grundlage dieses rechtlichen Rahmens für unsere Bundeswehr sage ich unmissverständlich: Zum Einsatz der Bundeswehr im multilateralen Rahmen wie den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der Nato sind wir bereit, wenn er dem Schutz unserer Bevölkerung oder dem unserer Verbündeten dient.
Wer deshalb heute den sofortigen, womöglich sogar alleinigen Rückzug Deutschlands unabhängig von seinen Bündnispartnern aus Afghanistan fordert, der handelt unverantwortlich.
Nicht nur würde Afghanistan in Chaos und Anarchie versinken, auch die Folgen für die internationale Gemeinschaft und ihre Bündnisse, in denen wir Verantwortung übernommen haben, und für unsere eigene Sicherheit wären unabsehbar. Die internationale Gemeinschaft ist gemeinsam hineingegangen; die internationale Gemeinschaft wird auch gemeinsam hinausgehen. Handelte sie anders, wären die Folgen - das ist meine Überzeugung - weit verheerender als die Folgen der Anschläge vom 11. September 2001.
Dies zeigt allein ein Blick auf die Landkarte: Afghanistan hat in seiner unmittelbaren Nachbarschaft die Nuklearmacht Pakistan. Wir müssen davon ausgehen, dass ein weiterer unmittelbarer Nachbar Afghanistans, der Iran, alles unternimmt, um Nuklearmacht zu werden. Vor einigen Tagen habe ich zusammen mit vielen Staats- und Regierungschefs auf Einladung des amerikanischen Präsidenten Barack Obama am Nukleargipfel in Washington teilgenommen. Wir waren uns einig: Der Atomterrorismus gehört zu den größten Bedrohungen für die Sicherheit der Welt. Organisationen wie al-Qaida versuchen, in den Besitz von Nuklearwaffen zu kommen oder nukleares Material zu erlangen, um damit als sogenannte schmutzige Bomben nuklear angereicherte konventionelle Waffen zu bauen.
Besonders gefährlich ist die Situation in Pakistan, Afghanistans östlichem Nachbarn. Die Lage dort ist heute schon sehr fragil. Gingen wir nicht ganz konsequent die nukleare Abrüstung an, wie wir es uns in Washington vorgenommen haben, und verließen wir planlos Afghanistan, würde die Gefahr erheblich steigen, dass Nuklearwaffen und Nuklearmaterial in die Hände von extremistischen Gruppen gelangen könnten. Dies muss verhindert werden, meine Damen und Herren.
Wir dürfen niemals vergessen, worum es für uns in Afghanistan geht: Es geht nicht um einen Konflikt zwischen sogenanntem Abendland und Morgenland, es geht nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam. Ein Im-Stich-Lassen der moderaten muslimischen Kräfte in Afghanistan durch einen überstürzten oder gar alleinigen Abzug wäre nur eines: eine Ermutigung für alle Extremisten, die weit über Afghanistan und seine Nachbarn hinausginge. Deshalb kann gar nicht oft genug gesagt werden: Es geht um die Sicherheit Deutschlands, die Sicherheit Europas, die Sicherheit unserer Partner in der Welt, die auch am Hindukusch verteidigt wird.
Die Partner der internationalen Gemeinschaft wissen, dass wir Afghanistan nicht zu einer Demokratie nach westlichem Vorbild machen können. Darum hat es auch gar nicht zu gehen. Etwas mehr als acht Jahre nach Beginn des Einsatzes müssen wir feststellen - ich sage dies durchaus auch selbstkritisch und ohne jede Schuldzuweisung gegen irgendjemanden -: Es gab manche Fortschritte, es gab zu viele Rückschritte, und unsere Ziele waren zum Teil unrealistisch hoch oder sogar falsch.
Es ist deshalb in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzen, dass auf der Londoner Afghanistan-Konferenz vor gut drei Monaten gemeinsam mit der neuen afghanischen Regierung wichtige neue Weichenstellungen unseres bisherigen Vorgehens in Afghanistan vorgenommen wurden.
Es wurde die Strategie der vernetzten Sicherheit verabschiedet, in der die Sicherheitspolitik und die Entwicklungspolitik eng miteinander verbunden sind.
Die Londoner Strategie schließt alle politischen Kräfte Afghanistans ein. Ja, es ist ein Angebot auch an diejenigen unter den Taliban und den Aufständischen, die bereit sind, Gewalt und Terror abzuschwören. Es ist ein Angebot an alle, die sich am Aufbau einer guten Zukunft ihres Landes beteiligen wollen.
Die Londoner Strategie sieht vor, die afghanischen Sicherheitskräfte so auszubilden, dass sie schnellstmöglich in die Lage versetzt werden, für die Sicherheit und Stabilität ihres Landes selbst zu sorgen. Bereits 2011 wollen wir mit der Übergabe in Verantwortung beginnen.
Die Londoner Strategie stimmt unsere Aufbau- und Ausbildungsleistung mit den Entwicklungsmaßnahmen unserer Partner genau ab. Die Londoner Strategie hat ausdrücklich eine regelmäßige Überprüfung von Benchmarks, Zielen und Maßnahmen festgelegt. Eine erste Bilanz wird die nächste Konferenz am 20. Juli in Kabul ziehen, an der der Bundesaußenminister teilnehmen wird.
In einem Wort: Die Londoner Strategie schafft die Voraussetzungen für eine Übergabe in Verantwortung. Darum, um eine Übergabe in Verantwortung, hat es der internationalen Staatengemeinschaft zu gehen, nicht um einen Abzug in Verantwortungslosigkeit wie auch nicht um den Versuch, Afghanistan zu einer Demokratie nach westlichem Vorbild zu machen. Das missachtete entweder unsere eigenen Sicherheitsinteressen, oder es wäre zum Scheitern verurteilt, weil es die kulturellen, historischen und religiösen Traditionen der afghanischen Gesellschaft unberücksichtigt ließe. Es ist wahr: Die Traditionen der Stammesversammlungen und der Loya Jirga in Afghanistan sind uns nicht vertraut, sondern fremd. Aber wahr ist auch: Sie sind eine eigene afghanische Tradition der konsensorientierten Entscheidungsfindung, die auf ihre Weise Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit ermöglichen kann.
Nicht nur aufgrund meiner eigenen Erfahrung in der DDR halte ich den Rechtsstaat für die größte zivilisatorische Errungenschaft der Menschheit.
Rechtsstaatlichkeit - das meint nicht nur, aber zunächst die Freiheit der Menschen von Willkür und Unterdrückung, von Anarchie und Chaos, von einer Situation, in der jeder in der ständigen Angst leben muss, verfolgt oder getötet zu werden. Erst wenn den Menschen diese permanente Angst genommen wird, erst wenn der Staat in der Lage ist, das elementare Bedürfnis seiner Bevölkerung nach Sicherheit zu erfüllen, erst dann gewinnen Menschen auch den Freiraum, ja die Freiheit, sich dem Aufbau ihres Landes zu widmen, ihrer Bildung, ihrer Wirtschaft, ihrem sozialen Ausgleich.
Es ist die vornehme Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, Afghanistan beim Aufbau einer solchen Ordnung zu unterstützen, und zwar weil das unserer eigenen Sicherheit dient. Das ist der Auftrag, den die NATO und ihre Verbündeten, also auch die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, dort erfüllen. Es ist richtig: Sicherheit kann es auf Dauer nicht ohne Entwicklung geben; aber genauso richtig ist: Sicherheit ist die Voraussetzung jeder Entwicklung und die Voraussetzung dafür, dass sich in einem Land wie Afghanistan nicht wieder Brutstätten des internationalen Terrorismus bilden, die uns in Europa und der Welt bedrohen können. Das eine ist die Voraussetzung des anderen. Die internationale Gemeinschaft wird ihre militärische Präsenz so lange aufrechterhalten, wie es nötig ist, nicht länger, aber auch nicht kürzer. Unser Einsatz ist nicht auf Dauer angelegt, aber auf Verlässlichkeit. Das ist der Kern der Übergabe in Verantwortung, die wir in London eingeleitet haben und die wir erfolgreich beenden werden.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die 43 Soldaten, die in ihrem Einsatz für Deutschland in Afghanistan ihr Leben verloren haben, haben den höchsten Preis gezahlt, den ein Soldat zahlen kann. Sie haben uns Deutsche mit davor beschützt, dass wir in Zeiten der globalen Dimension unserer Sicherheit im eigenen Land Opfer von Terroranschlägen werden.
Alle Soldaten, die in Afghanistan Dienst tun, verdienen unsere Solidarität und unser Mitgefühl. Sie leben ständig in Angst, verletzt oder getötet zu werden. Sie leben in dieser Angst, damit wir zu Hause in Deutschland nicht Angst haben müssen. Dafür gebühren ihnen unser Dank, unsere Hochachtung und unsere Unterstützung.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion.
Sigmar Gabriel (SPD):
Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Meine Damen und Herren! Wie alle hier trauern die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und die SPD-Bundestagsfraktion um die verletzten und getöteten deutschen Soldaten, die in den vergangenen Wochen Opfer hinterhältiger Anschläge und Angriffe in Afghanistan wurden. Wir erinnern uns zugleich an die früheren Opfer, übrigens auch unter den zivilen Aufbauhelfern, in Afghanistan. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen und Familien. Und doch - das weiß ich jedenfalls und wissen sicher viele von uns -: Niemand von uns kann das Leid der Angehörigen und Freunde wirklich nachempfinden, und nichts kann den Verlust des Ehemanns, des Lebenspartners, des Freundes, des Vaters, des Sohnes, des Bruders oder des Enkels ungeschehen machen. Auch wenn wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages heute noch einmal und sicher nicht zum letzten Mal über den Sinn des Afghanistan-Einsatzes beraten und ihn begründen: Kein Wort und keine Erklärung von uns werden die Angehörigen, Familien und Freunde wirklich trösten können.
Wir debattieren heute erneut eine Regierungserklärung, weil wir zu Recht immer wieder darüber beraten müssen, ob die Gründe, die uns, jedenfalls die übergroße Mehrheit dieses Parlaments, zu diesem Auslandseinsatz der Bundeswehr bewegt haben, wirklich so wichtig, so fundamental und so tragfähig sind, dass wir bereit sind, das Leben anderer zu gefährden. Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sind nicht freiwillig in Afghanistan.
Sie leisten dort Dienst, weil dieses Parlament es so beschlossen hat. Deshalb haben sie zuallererst Anspruch auf Solidarität, Unterstützung und natürlich auch auf den Respekt vor ihrem Mut und ihrer Tapferkeit in einem ebenso schwierigen wie gefährlichen Einsatz.
Über jeden dieser Einsätze wurde hier im Deutschen Bundestag mit großer Ernsthaftigkeit debattiert, was deutlich macht: Wenn es um Leib und Leben von Menschen geht, die im Auftrag der Bundesregierung und auf Beschluss des Bundestages einen militärischen Einsatz durchführen, dann stehen wir alle als Mitglieder des Parlaments in einer besonderen Verantwortung, die wir nicht delegieren können, weder an dem Tag, an dem wir entscheiden, noch in den Wochen und Monaten und Jahren danach. Aber wir sind als Demokraten zugleich verpflichtet, den Kolleginnen und Kollegen, die einem solchen Einsatz nicht zustimmen können, unseren Respekt nicht zu versagen. Das gilt umgekehrt übrigens genauso.
Natürlich kommen vielen von uns angesichts von schwer verwundeten und getöteten Soldaten und Zivilisten in Afghanistan, angesichts des Leids in den betroffenen Familien und unserer Hilflosigkeit ihnen gegenüber immer wieder Zweifel, ob wir eigentlich das Richtige tun. Warum sage ich das zu Beginn? Weil wir gut daran tun, diese Zweifel auch im Deutschen Bundestag zuzulassen. Sie zwingen uns immer wieder dazu, die Frage nach der Rechtfertigung der Gefährdung von Menschenleben, egal ob es Deutsche, Afghanen oder Verbündete sind, zu überprüfen und zu beantworten. Sind unsere Begründungen und die der Vereinten Nationen zutreffend? Sind vor allem unsere gesetzten Ziele in Afghanistan realistisch und erreichbar? Ganz offensichtlich - machen wir uns nichts vor! - überzeugen wir die Mehrheit der Deutschen derzeit nicht von unseren Begründungen und Zielen.
Wir müssen erkennen: Dieser Afghanistan-Einsatz löst zunehmend Befürchtungen aus, und mit jedem verletzten und getöteten Soldaten schwinden offensichtlich Akzeptanz und Rückhalt in unserer Bevölkerung.
Seit ihrer Gründung hat die Bundesrepublik einen tiefen und wirklich umfassenden politischen, kulturellen und sozialen Wandel durchlebt. Unser Land ist durch und durch zivil, dem Frieden verpflichtet, ist eine wirklich zivile Gesellschaft geworden. Auslandseinsätze der Bundeswehr sind zwar seit über 15 Jahren keine Neuheit mehr, aber immer noch keine Selbstverständlichkeit - und ich sage: Das muss auch so bleiben.
In Deutschland werden Berichte über getötete und gefallene deutsche Soldaten und Zivilisten nie als Normalität und mit Gleichgültigkeit aufgenommen - auch das muss so bleiben. Wir dürfen uns an getötete Soldaten ebenso wenig gewöhnen wie an die Toten in der Zivilbevölkerung.
Die Fähigkeit und die Bereitschaft kollektiver Anteilnahme sind auch eine Lehre aus der deutschen Geschichte. Sie zeichnen unser heutiges Deutschland als Zivilgesellschaft aus. Darauf können wir zuallererst einmal stolz sein.
Aber umso mehr ist die Unterstützung der Mehrheit in unserer Bevölkerung das Entscheidende für den Einsatz einer Parlamentsarmee. Denn bleibt es beim schwindenden Zutrauen unserer Bevölkerung in unsere Entscheidungen im Parlament, dann ahnen und wissen doch auch die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan, dass ihr Einsatz am Ende auf wackeligen Füßen steht. Neben allen Solidaritätsbekundungen für die Soldaten der Bundeswehr muss es uns Abgeordneten, die wir den Einsatz beschlossen haben und ihn weiterhin für richtig halten, vor allem darum gehen, die Unterstützung der Mehrheit unserer Bevölkerung für den Einsatz zurückzugewinnen. Das ist für die Soldatinnen und Soldaten die eigentliche Rückendeckung, nicht nur Erklärungen im Parlament.
Die SPD - und die sozialdemokratische Bundestagsfraktion - ist in ihrer großen Mehrheit davon überzeugt, dass die Beteiligung Deutschlands am militärischen Einsatz im Auftrag der Vereinten Nationen in Afghanistan weiterhin gerechtfertigt und notwendig ist;
denn unter dem Schutz der radikal-islamischen Taliban hatte das Terrornetzwerk al-Qaida von Afghanistan aus die monströsen Anschläge mit Tausenden Toten geplant und durchgeführt. Nach nicht einmal drei Monaten waren das Taliban-Regime gestürzt, die Al-Quaida-Terroristen vertrieben und die Ausbildungslager zerstört. Jetzt geht es darum, Afghanistan eben nicht wieder zu einem Rückzugsgebiet für international operierende Terroristen werden zu lassen.
Fest steht: In den ersten Jahren des Einsatzes hat es unbestritten große Erfolge beim Wiederaufbau gegeben.
Fest steht aber auch: Spätestens seit 2006 hat sich die Situation in Afghanistan deutlich verändert. Die Taliban sind wieder erstarkt, ihr Rückhalt in der Bevölkerung wächst. Sie beherrschen weite Teile des Landes, sie verwickeln die internationalen Truppen in einen asymmetrischen Konflikt mit Selbstmordattentaten, Sprengfallen und Hinterhalten. Nicht nur in Deutschland - das ist wichtig, auch bei uns zu registrieren -, auch in den USA und anderen Staaten, die Truppen nach Afghanistan entsandt haben, macht sich eine wachsende Skepsis breit, ob denn der militärische Einsatz wirklich die gewünschte Sicherheit und Stabilität in Afghanistan bewirken kann.
Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes wollen von uns wissen, wie es in Afghanistan weitergehen soll, welche Ziele wir dort eigentlich verfolgen, warum deutsche Soldaten dort immer noch eingesetzt werden, wofür sie ihr Leben riskieren und 43 von ihnen bereits ihr Leben verloren haben. Wir Sozialdemokraten haben mit großer Mehrheit dem neuen Bundestagsmandat zugestimmt, weil wir der Überzeugung sind, dass ein Abbruch des UN-Einsatzes mit weit mehr Gefahren und Menschenleben bezahlt werden würde, als das im aktuellen Einsatz der Fall ist und sein kann. Nicht nur die durchaus in vielen Bereichen erreichte Freiheit und das Leben vieler Afghanen würden wieder gefährdet; die Rückkehr des Terrornetzwerkes in ein weiter destabilisiertes Afghanistan würde am Ende natürlich auch viele andere Länder der Welt, auch die Menschen in Deutschland, erneut und zusätzlich bedrohen.
Man muss nun wirklich kein allzu großer Pessimist sein, um sich dramatische Sorgen um die Entwicklung in Pakistan zu machen, einem Land, das bereits heute unter enormen Druck steht und in dem sich Atomwaffen befinden. Es geht also bei dem Einsatz der Vereinten Nationen - wir tun in der öffentlichen Debatte manchmal so, als sei es ein Einsatz der Bundeswehr - weiterhin um die Verhinderung der Destabilisierung des Weltfriedens. Das ist die Begründung für den Einsatz der Vereinten Nationen. Wir sind gebeten worden, uns daran zu beteiligen.
Man kann nicht öffentlich die Forderung erheben, militärische Gewalt zum Schutz von Menschen dürfe nur durch die Vereinten Nationen eingesetzt werden, sich dann aber der Debatte entziehen, wenn die Vereinten Nationen das tun. Deswegen stehen wir zu diesem Auftrag der Vereinten Nationen. Aber wir haben in dem Beschluss auch dafür gesorgt, dass es in Afghanistan zu einem Strategiewechsel kommt. Die Bundesregierung ist dem gefolgt. Deshalb haben wir zugestimmt. Der Einstieg in eine verantwortungsvolle Perspektive für den Abzug aus Afghanistan, der 2011 beginnen soll und im Zeitraum 2013 bis 2015 die Sicherheitslage in Afghanistan durch afghanische Kräfte, nicht durch internationale Truppen sicherstellen soll, die Verdopplung des zivilen Engagements in Afghanistan, mehr Ausbildung für die afghanischen Sicherheitskräfte, die stärkere Unterstützung des innerafghanischen Versöhnungsprozesses und noch mehr Sorgfalt beim Schutz der zivilen Bevölkerung - das waren und sind die zentralen Gründe, warum wir Sozialdemokraten der Mandatsverlängerung vor wenigen Wochen zugestimmt haben und zu dieser Zustimmung stehen.
Eine Bundesregierung, Frau Bundeskanzlerin, die sich diesem Mandat und der damit verbundenen verantwortungsvollen Abzugsperspektive verpflichtet fühlt, kann sich auf unsere Zustimmung verlassen. Was uns eher Sorge macht, ist, ob die Bundesregierung eine gemeinsame Vorstellung von dem hat, was die Bundeswehr dort leisten soll. Frau Bundeskanzlerin, genauso wie Sie verstehe und akzeptiere ich, dass Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan und auch die Menschen in unserer Bevölkerung angesichts der dramatischen Lage in weiten Teilen Afghanistans nichts von politischer Semantik halten. Ich verstehe, dass die Menschen mit dem technokratischen Begriff ?nicht internationaler bewaffneter Konflikt? nichts anfangen können, wenn sie den Alltag beschreiben sollen. Aber so sehr ich Emotionen respektiere, gerade auch die der Soldatinnen und Soldaten, die dort täglich mutig ihren Dienst tun: In einer so elementaren Frage müssen wir Politiker mehr sein als ein Echolot öffentlicher Gefühle.
Ich verlange von einer Bundesregierung, dass sie mit einer verantwortungsvollen und klaren Stimme spricht und nicht Außen- und Verteidigungsminister für unterschiedliche Interpretationen sorgen. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vorhin den Begriff ?Krieg? erläutert. Ich lese Ihnen einmal vor, was Ihr Außenminister zu den Aufforderungen Ihres Verteidigungsministers, diesen Einsatz ?Krieg? zu nennen, am letzten Wochenende wörtlich gesagt hat. Auf die Frage ?Aber warum reden dann so viele in Berlin von Krieg - bis hin zur Kanzlerin?? antwortet Herr Westerwelle:
... Krieg ist traditionell eine militärische Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehr Staaten mit der Absicht der Eroberung oder Unterdrückung. Das ist in Afghanistan erkennbar nicht der Fall.
Ich stimme Ihrem Außenminister zu. Er hat recht.
Aber wenn er recht hat, dann passen Sie angesichts Ihrer Kriegsrhetorik bei der Benutzung des Begriffes ?Krieg? auf. Ihre eigenen Leute kommen auf wirklich absurde Gedanken, zum Beispiel wenn dazu aufgefordert wird, wir sollten Leopard-Kampfpanzer nach Afghanistan schicken, damit die Taliban einmal in diese furchterregenden Rohre schauen.
- Ich kann nichts dafür, dass in Ihrer Koalition solche Debatten geführt werden. Ich stimme dem Bundesaußenminister ausdrücklich zu.
Außerdem dürfen wir der Delegitimierung des Afghanistan-Einsatzes nicht dadurch Vorschub leisten, dass wir so tun, als hätten wir den Einsatz bislang unterschätzt und würden nun auf einmal feststellen, dass er gefährlich und lebensbedrohlich ist. Wer meint, er könne die Soldaten und die Bevölkerung durch die Kriegsrhetorik vom eigenen Realitätssinn überzeugen, dem sei gesagt: Wir Sozialdemokraten sind bei unseren Mandatsentscheidungen für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan nie davon ausgegangen, dass es sich eigentlich um einen Einsatz von Bausoldaten zum Brunnen- und Häuserbau handelt. Wir haben immer gesagt, dass dieser Einsatz gefährlich ist und dass unsere Soldaten einem Auftrag folgen, bei dem die Vereinten Nationen militärische Gewalt nicht nur zur Selbstverteidigung angefordert haben, sondern auch zur Durchsetzung ihres Auftrages. Wer also heute so tut, als habe sich ein ursprünglich friedlicher Auftrag zum Krieg entwickelt, der muss sich nicht wundern, wenn diejenigen, die den eigentlichen Stabilisierungsauftrag der UN nie wahrhaben und akzeptieren, sondern immer nur delegitimieren wollten, auf einmal die Bundesregierung zum Kronzeugen für ihre ursprüngliche Position erklären.
In Wahrheit löst der Kriegsbegriff keines unserer Probleme. Er hilft nicht bei der dringenden Begründung des Einsatzes und übrigens auch nicht bei der Rechtssicherheit für die Soldaten. Wer meint, dass die Bundeswehr in Afghanistan Krieg führen soll, der muss sagen, ob er damit etwas konkret anderes meint, als wir das heute tun. Wenn der Verteidigungsminister von Krieg redet und der Außenminister nicht, dann muss die Frage erlaubt sein, ob die Bundesregierung ein gemeinsames Verständnis vom Einsatz hat. Heißt für den Verteidigungsminister ?Krieg?, dass das Schwergewicht nun doch auf militärischer Gewalt und nicht auf Ausbildung und zivilen Aufbau gelegt werden soll
- Sie können diese Frage nachher beantworten -, oder sind Sie der Überzeugung, dass mehr zivile Opfer in Kauf genommen werden müssen? Wenn das so wäre, wäre es das Gegenteil dessen, was gestern der ISAF-Kommandeur, General McChrystal, uns und der Öffentlichkeit hier erklärt hat. Er räumt dem Schutz der Zivilbevölkerung absolute Priorität ein. Er will die militärische Schwächung der Taliban, um Verhandlungen und politische Lösungen zu erreichen. Das wäre also das Gegenteil unseres Mandatsbeschlusses. Wer das will, der muss das Mandat ändern. Wir wollen das Mandat nicht ändern, weder semantisch noch faktisch.
Frau Bundeskanzlerin, wenn ich Sie richtig verstanden haben, wollen Sie das alles nicht ändern. Deswegen habe ich die Bitte: Sorgen Sie dafür, dass Ihr Verteidigungsminister und Ihr Außenminister in Zukunft eine gemeinsame Sprache für das finden, was dort stattfindet, am besten die des Außenministers.
Ein anderer Punkt macht mir zusehends Sorgen: Wie gehen das Bundesverteidigungsministerium und die Bundeswehrverwaltung eigentlich mit den im Einsatz an Körper und Seele verwundeten und verletzten Soldatinnen und Soldaten um? Der Wehrbeauftragte des Parlaments hat dazu einige skandalöse Fälle geschildert, die mich wirklich betroffen und in Teilen sprachlos machen.
Da wurde von einem Zeitsoldaten, der in Afghanistan schwer verwundet wurde, der Auslandsverwendungszuschlag zurückgefordert, weil er im Voraus gezahlt wurde. Nach seiner vierjährigen Dienstzeit wurde der Soldat entlassen, weil er keine dauerhafte Erwerbsminderung von 50 Prozent nachweisen konnte. Die Fürsorgepflicht gegenüber Soldatinnen und Soldaten, die ihr Leben in einem hochgefährlichen Einsatz riskieren, müssen wir ernster nehmen als bisher.
Wenn eine gesetzliche Lücke existiert, müssen wir sie schließen. Unsere Soldatinnen und Soldaten müssen sich darauf verlassen können, dass sie nicht nur bei ihrem lebensgefährlichen Einsatz geschützt werden, sondern auch, dass die Fürsorgepflicht ihres Dienstherrn nicht endet, wenn sie nach dem Einsatz verletzt oder traumatisiert zurückkehren.
Die Bilanz des Afghanistan-Einsatzes ist höchst ambivalent. Fest steht: Bislang hat sich die Hoffnung nicht erfüllt, dass die Fortschritte bei der Bekämpfung der Taliban, beim Aufbau der Sicherheitskräfte und beim zivilen Aufbau so vorankommen, wie wir uns das vorstellen. Diese Entwicklung dürfen wir nicht ignorieren. Wir brauchen nach einem eingeleiteten Strategiewechsel im Zuge des aktuellen Mandates, das wir mit großer Mehrheit beschlossen haben, zur weiteren Beurteilung der Lage in Afghanistan zwei Elemente:
Erstens. Wir brauchen eine unabhängige, systematische und wissenschaftlich gestützte Überprüfung des bisherigen Engagements, um wissen zu können, ob wir unsere Ziele wirklich erreichen.
Zweitens. Wir brauchen mehr denn je eine internationale Debatte darüber, wie wir den innerafghanischen Versöhnungsprozess vorantreiben können.
Lassen Sie mich abschließend noch einmal etwas zu den Soldatinnen und Soldaten sagen: Wir bekennen uns - das sage ich nochmals - zur internationalen Verantwortung für den Einsatz. Aber wir müssen und wollen auch die Erreichbarkeit der Ziele überprüfen; denn sie sind keineswegs sicher zu erreichen. Das sind wir den Soldatinnen und Soldaten am allermeisten schuldig. Nur so lange, wie wir selbst die Erreichbarkeit der Ziele für möglich halten, dürfen wir Soldaten in den Einsatz schicken. Nur so lange, wie eine klare und unmissverständliche Grundlage für unsere Entscheidungen besteht und diese vor uns selbst zu rechtfertigen ist, können wir es anderen zumuten, in lebensgefährliche Situationen zu geraten. Das ist der Grund, warum die SPD eine solche Überprüfung einfordert, bevor wir das nächste Mal, in circa einem Jahr, über das Mandat entscheiden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger für die FDP-Fraktion.
Birgit Homburger (FDP):
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag trauert um die in Afghanistan gefallenen Bundeswehrsoldaten. Unsere Gedanken sind bei den Familien, Freunden und Kameraden der Gefallenen. Ihnen gelten unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme in diesen schweren Stunden. Und den verwundeten Soldaten wünschen wir schnelle und vollständige Genesung.
Das Geschehene hat in Deutschland zu Recht erneut zu einer öffentlichen Debatte über den Afghanistan-Einsatz geführt. Die FDP-Bundestagsfraktion steht fest an der Seite der Soldatinnen und Soldaten. Wir stehen zu diesem Einsatz und halten das im Februar beschlossene Mandat unverändert weiterhin für eine gute und auch rechtlich vollständig tragfähige Grundlage. Dieses Mandat hat keine Veränderung nötig.
Mit diesem Mandat sind erstmals eine Neubewertung der Sicherheitslage in Afghanistan und ein Strategiewechsel hin zu mehr Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte und zu zivilem Wiederaufbau verbunden.
Endlich wird in Deutschland mit großer Offenheit über die tatsächliche Lage in Afghanistan und die Gefährlichkeit des Einsatzes gesprochen.
Wer die Unterstützung der Menschen für diesen Einsatz will, muss sich der Debatte stellen. Wir tun dies hier im Deutschen Bundestag immer wieder. Aber es ist auch unsere Aufgabe, diesen Einsatz öffentlich noch offensiver zu erklären. Wer die Unterstützung der Menschen für diesen Einsatz will, muss die Wahrheit sagen.
Ich kann verstehen - ich sage das ausdrücklich auch an die Adresse von Herrn Gabriel -, dass sich unsere Soldaten in Afghanistan wie in einem Krieg fühlen angesichts dessen, dass sie immer wieder in Gefechte geraten und es immer wieder Kampfhandlungen gibt. Diese Gefühle müssen wir ernst nehmen, und man muss sie auch zum Ausdruck bringen. Das ist in der Vergangenheit zu lange ignoriert worden. Deshalb finde ich es gut, dass sich die Bundesregierung dem Alltag der Soldatinnen und Soldaten stellt und übereinstimmend deutlich macht, dass sie die tägliche Realität der Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan wahrgenommen hat und ihnen zur Seite stehen will.
Es war deshalb überfällig, dass der Bundesaußenminister bei der Debatte über das Afghanistan-Mandat für die Bundesregierung eine rechtliche Neueinschätzung der Sicherheitslage im Norden Afghanistans vorgenommen und den Einsatz als bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts charakterisiert hat. Dieses Mandat hat niemanden in diesem Hohen Hause im Unklaren gelassen. Damit ist nämlich eine realistische Einordnung der Lage in Afghanistan und eine höhere Rechtssicherheit für die Soldatinnen und Soldaten verbunden. Diese neue rechtliche Qualifizierung hat Folgen für die Handlungsbefugnisse der Soldatinnen und Soldaten und die Beurteilung ihres Verhaltens. Das hat sich gerade am Montag bei der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Oberst Klein gezeigt. Wir begrüßen ausdrücklich, dass dieses Ermittlungsverfahren eingestellt wurde. Wir begrüßen ausdrücklich die höhere Rechtssicherheit für unsere Soldatinnen und Soldaten.
Diese Debatte hat auch dazu geführt, dass wir uns neuerlich mit der Frage der Ausrüstung und Ausstattung unserer Soldatinnen und Soldaten auseinandersetzen. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist. Das garantiert eine öffentliche Debatte und eine ständige Überprüfung des Handelns. Genau das sind wir denen, die wir in den Einsatz schicken, schuldig.
Mit dem Mandat ist ausdrücklich ein Strategiewechsel verbunden. Das haben wir hier beschlossen; das ist Bestandteil der Begründung des Mandats. Das Leitmotiv ist die Übergabe der Verantwortung an die Afghanen. Ich wiederhole hier ausdrücklich, dass niemand länger als nötig in Afghanistan bleiben will. Wir wollen eine Abzugsperspektive erarbeiten. Deshalb ist es richtig, dass die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte so verstärkt wird, dass die Afghanen selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen können. Außerdem gibt es eine völlige Neuorientierung des Mandats in Richtung des zivilen Wiederaufbaus.
Präsident Karzai hat angekündigt, innerhalb der nächsten fünf Jahre die Sicherheitsverantwortung für sein Land zu übernehmen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg; aber erstmals ist eine Abzugsperspektive erkennbar. Ich möchte vor diesem Hintergrund auch für meine Fraktion deutlich sagen: Wer jetzt kopflos abzieht, wer jetzt die Afghanen in einer Situation alleine lässt, in der sie noch nicht selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen können, der trägt Mitverantwortung dafür, wenn das, was erreicht wurde, zunichte gemacht wird und Afghanistan wieder zum Zentrum des internationalen Terrorismus wird. Das wollen wir ausdrücklich nicht.
Eine weitere Voraussetzung für den Abzug ist ein ziviler Wiederaufbau. Ich habe bei Besuchen in Afghanistan oder bei Gesprächen mit Afghanen hier in Deutschland oft genug erlebt, dass wir gebeten wurden, zu bleiben. Die Menschen dort wollen eine Perspektive für sich und ihre Familien. Deshalb haben wir beschlossen, dass das zivile Engagement nahezu verdoppelt wird. Allein im Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung stehen 250 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung, das heißt in dieser Legislaturperiode 1 Milliarde Euro. Der Vergleich mit den Ausgaben im Zeitraum von 2002 bis 2010 - es waren insgesamt 1 Milliarde Euro - zeigt, wie ich finde, eindrucksvoll, dass ein Strategiewechsel an dieser Stelle herbeigeführt wurde.
Wir haben klare Ziele: Wir wollen den Menschen eine verlässliche Energie- und Wasserversorgung geben. Wir wollen, dass mehr Kinder in die Schule gehen können und eine qualitativ gute Ausbildung erhalten. Wir wollen auch helfen, die wirtschaftliche Entwicklung überhaupt erst in Gang zu setzen. Das wollen wir nicht gegen, sondern gemeinsam mit den teils gewählten, teils traditionellen lokalen Autoritäten durchsetzen.
Deshalb muss die Diskussion über nötige Reformmaßnahmen der afghanischen Regierung im Zentrum der geplanten Afghanistan-Konferenz im Juli in Kabul stehen. Das bedeutet, dass die Zusagen, die hinsichtlich guter Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung und Verwaltungsreform, hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit und Garantie der Menschenrechte gemacht wurden, von Präsident Karzai und seiner Regierung eingehalten werden müssen. Ich glaube, es ist wichtig, dass die internationale Gemeinschaft immer wieder genau die Einlösung dieser Zusagen einfordert.
Wir wissen um die Gefährlichkeit des Einsatzes. Ich will deshalb zum Schluss hier auch noch mal sehr deutlich sagen: Jeder Abgeordnete ist sich seiner persönlichen Verantwortung bewusst. Wir machen uns die Entscheidung nicht leicht, und wir begleiten die Umsetzung des Mandats durch die Regierung intensiv.
Unser Dank gilt allen, die sich in Afghanistan engagieren: Soldatinnen und Soldaten, Polizisten und zivilen Aufbauhelfern. Durch sie wird erst die Umsetzung der politischen Konzepte möglich. Für ihre Leistungen unter schwierigsten Bedingungen gebühren ihnen Anerkennung, Respekt und Hochachtung. Sie sollen wissen, dass sie sich auf die Unterstützung des Deutschen Bundestages verlassen können.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich vertrete hier die Fraktion, die von Beginn an gesagt hat: Dieser Krieg ist falsch, er führt in ein Fiasko. Und es wird deutlich, täglich deutlicher, dass wir leider in jeder Hinsicht recht hatten.
Neu an der Situation ist, dass jetzt neue Vorwürfe auch gegen uns erhoben werden. Zum Beispiel sagt Herr Wolffsohn von der Bundeswehrhochschule: Wer gegen den Krieg ist, hilft indirekt den Taliban.
- Passen Sie auf, was Sie da sagen. Die SPD, die Grünen, die Linken und andere haben erklärt, dass Deutschland nicht am Irakkrieg teilnimmt. Wenn Sie daraus schlussfolgern, dass wir Hussein unterstützt hätten, ist das eine Unverschämtheit. Ich will das ganz klar sagen.
Es geht auch um die Frage, ob man Respekt vor Soldaten hat.
Der Respekt vor Soldaten wird denen abgesprochen, die für Frieden kämpfen. Ich halte das für absurd.
Diejenigen, die gegen den Krieg waren, haben keine einzige Soldatin und keinen einzigen Soldaten je gefährdet und haben das auch nicht gewollt. Wenn unserer Forderung nach dem sofortigen Abzug stattgegeben würde, würden weitere Verletzte und Tote auf allen Seiten verhindert.
Dabei geht es uns auch um die afghanischen Zivilisten, die hier überhaupt noch nicht erwähnt worden sind.
Eine Grüne hat zu mir gesagt: Wenn deutsche Soldaten sterben, dann sollte ich doch wenigstens schweigen und nicht in diesem Zusammenhang die Beendigung des Krieges fordern. Warum eigentlich nicht? Ich finde, gerade wenn Soldaten sterben, muss der Aufschrei groß werden, dieses Fiasko zu beenden.
Außerdem hat die grüne Abgeordnete selbst sofort bei dem Tod der über 100 Zivilisten gesprochen. Wieso soll man in dem einem Fall reden dürfen und in dem anderen Fall nicht? Nein, es geht nicht um verschiedene Regelungen, sondern es geht darum, eine Lösung zu finden. Und die Lösung sehen wir ausschließlich im sofortigen, im unverzüglichen Abzug der Bundeswehr.
Ich sage Ihnen: Die Mehrheit des Bundestages und die Bundesregierung sollten auch vorsichtig sein, anderen Respekt abzusprechen. Sie schicken die Soldatinnen und Soldaten in den Krieg, und zwar, wie wir jetzt erfahren, ohne ausreichende Ausbildung und Ausrüstung.
Sie planen jetzt mit dem US-General und ISAF-Kommandeur McChrystal die Beteiligung der Bundeswehr an einer geplanten Großoffensive. Das bringt doch wohl auch eine große Gefährdung für alle Beteiligten mit sich.
Sie haben für 4 500 Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan einen einzigen Facharzt für Psychiatrie zur Verfügung gestellt. Es war der Wehrbeauftragte, nicht wir, der darauf hingewiesen hat, dass die Versorgung der zurückkehrenden Soldatinnen und Soldaten bei seelischen Traumatisierungen unzureichend ist. Er bemängelte auch, dass es zu wenig Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie hier in Deutschland bei der Bundeswehr gebe.
- Herr Lindner, Sie können mich ruhig als geistig gestört betrachten, aber das sagt etwas über Ihr Niveau aus, nicht über mein Niveau, um das auch einmal ganz klar zu sagen.
Wer für all das die Verantwortung trägt, ist nicht im Geringsten berechtigt, den Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegnern mangelnden Respekt vor den Frauen und Männer der Bundeswehr in Afghanistan vorzuwerfen. Im Unterschied zu Ihnen sind wir nicht bereit, uns mit verletzten und toten afghanischen Zivilisten, mit verletzten und toten deutschen Soldaten und mit verletzten und toten Soldaten afghanischer und anderer Streitkräfte abzufinden.
Wer die sofortige Beendigung des Krieges fordert, will die Gesundheit und das Leben aller Beteiligten schützen.
Herr Bundestagspräsident, ich fand es sehr richtig, und Sie haben meine volle Zustimmung, dass Sie heute der toten deutschen Soldaten gedacht haben. Dass wir dafür aufstehen, ist eine Selbstverständlichkeit. Dass wir das alle tun, ist ebenfalls eine Selbstverständlichkeit. Aber ich füge hinzu: Einen Teil Ihrer Begründung teilen meine Fraktion und ich nicht. Das muss ich deutlich sagen.
Ich möchte darauf hinweisen, dass es gut für den Bundestag gewesen wäre, wenn wir auch für die über 100 toten afghanischen Zivilisten aufgestanden wären und ihrer gedacht hätten.
Frau Bundeskanzlerin, wir haben es mit einer schwierigen Situation zu tun, weil die Begründung der Bundesregierung für den Krieg ständig wechselt. Ich darf Sie erinnern:
Am Anfang hieß es - das war Ihre erste Begründung -, der Krieg müsse geführt werden, um den Terrorismus zu bekämpfen. Aber wir alle wissen: Man kann mittels Krieg Terrorismus nicht bekämpfen, man erzeugt nur neuen.
Wir wissen, dass die Taliban nicht direkt Terroristen waren, sondern dass sie den al-Qaida-Terroristen die Ausbildung etc. ermöglicht haben. Das Problem ist nur, dass die al-Qaida nicht mehr in Afghanistan, sondern jetzt in Pakistan und anderen Ländern ist. Wenn die Begründung stimmte, dass man Terrorismus bekämpfen müsste, wo er existiert, wo es Lager und Ausbildung gibt, dann müssten wir inzwischen in Pakistan, im Jemen, im Sudan und in Somalia einmarschieren. Das fordert zu Recht niemand. Also ist die Begründung falsch; denn al-Qaida sitzt nicht mehr in Afghanistan.
Ich sage Ihnen noch einmal: Wenn man Terrorismus wirksam bekämpfen will, dann braucht man eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung, einen neuen Dialog zwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen, uneigennützige Entwicklungshilfe und zivilen Aufbau.
Ihre zweite Begründung lautet: Man braucht den militärischen Schutz für den Aufbau einer zivilen Ordnung. Bundesinnenminister de Maizière hat aber festgestellt, die Polizeiausbildung in Afghanistan sei keine Erfolgsgeschichte. Wie wollen Sie erklären, dass Sie das, was Ihnen in fast neun Jahren nicht gelungen ist, jetzt in ein paar Monaten erledigt bekommen? Wer soll das glauben? Die UNO berichtete, dass nach fast neun Jahren Krieg neben einigen Fortschritten Folgendes festzustellen ist: Die Zahl der Menschen, die in Afghanistan in Armut lebt, ist von 33 auf 42 Prozent gestiegen. Unterernährt sind nicht mehr 30 Prozent, sondern 39 Prozent der Afghaninnen und Afghanen. Zugang zu sanitären Einrichtungen haben nicht mehr 12 Prozent der Bevölkerung, sondern nur noch 5,2 Prozent der Bevölkerung. In Slums leben nicht mehr 2,4 Millionen, sondern 4,5 Millionen Menschen. All das belegen die Zahlen der UNO. Von den Jugendlichen sind nicht mehr nur 26 Prozent, sondern 47 Prozent arbeitslos. Mohnfelder zur Gewinnung von Rauschgift umfassen nicht mehr 131 000, sondern 193 000 Hektar. Warlords, also die Rauschgift- und Waffenhändler, regieren wie vor neun Jahren. Wo ist denn der zivile Fortschritt, den Sie dort angeblich seit acht Jahren mit Hilfe der Bundeswehr organisieren?
Zivile Helfer berichten, dass der zivile Aufbau ohne Militär erfolgreicher verläuft als mit Militär. Frau Merkel, Herr Gabriel und Frau Homburger, ich sage Ihnen: Ziviler Aufbau setzt Waffenstillstand und Verhandlungen zwischen den verfeindeten Parteien voraus.
Krieg dagegen schürt Hass und bereichert die Möglichkeiten der Bin Ladens, neue Terroristinnen und Terroristen zu rekrutieren. Für den zivilen Aufbau braucht man ergo Frieden und nicht Krieg.
Wir geben für die Bundeswehr in Afghanistan jährlich 1 Milliarde Euro aus. Wenn wir nur einen Teil dieses Geldes für den zivilen Aufbau ausgegeben hätten, wären wir dort deutlich weiter.
Also trifft auch diese Begründung nicht zu.
Als dritte Begründung haben Sie vorgebracht, die Taliban-Herrschaft müsse ausgeschlossen werden, es gehe um die Herstellung einer Art demokratischer Verhältnisse, nicht gerade unserer, aber immerhin. Ich bitte Sie, das ist doch kein Kriegsgrund. Es wird jetzt behauptet, wenn wir abzögen, würden die Taliban wieder herrschen wie früher. Wenn das stimmt, Frau Bundeskanzlerin, wozu waren wir denn dann fast neun Jahre dort? Haben wir nichts anderes erreicht als die Gewissheit, dass die alten Zustände wiederhergestellt werden, wenn wir gehen?
Darf ich Sie erinnern? Wenn das oben Genannte der Maßstab für Kriege ist, dann müssten wir doch wohl in Uganda einmarschieren wegen der Kindersoldaten, in Bangladesch wegen der Säureattentate auf junge Frauen, in Kenia wegen der Genitalverstümmelung von Mädchen, im Iran wegen der Hinrichtung von Oppositionellen, in Saudi-Arabien wegen der Verweigerung demokratischer Rechte, insbesondere für Frauen, und in viele andere Länder auch. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Die Begründung sticht überhaupt nicht. Niemand will dort einmarschieren, und das ist auch keine Begründung für Krieg in Afghanistan.
Jetzt kommt die vierte Begründung. Bundesminister Niebel erklärte bei Frau Will im Fernsehen und Sie, Frau Bundeskanzlerin, sagten es heute auch, es gehe darum, zu verhindern, dass Terroristen Zugriff auf Atomwaffen bekommen. Ich bitte Sie, Frau Bundeskanzlerin, in Afghanistan gibt es keine Atomwaffen. Wenn, dann gibt es die in Pakistan. Das wäre eine Begründung, wenn Sie in Pakistan einmarschieren würden, aber nicht für einen Einsatz in Afghanistan.
Abgesehen davon sollen, wie jetzt festgestellt worden ist, die Atomwaffen in Pakistan genauso sicher sein wie die in anderen Ländern, sodass selbst das keine Begründung wäre.
Nein, ich sage Ihnen, was das Problem ist: Das Problem ist, dass Sie genau wissen, dass keine Begründung überzeugt. Deshalb lassen Sie sich jeden Tag eine neue einfallen. Das ist das, womit wir uns auseinandersetzen müssen.
Frau Bundeskanzlerin, dann haben Sie auch heute wieder gesagt, ein Abzug sei unverantwortlich gegenüber den Bündnispartnern, weil man die nicht alleine lassen könne etc.
Erstens ist dazu zu sagen: Wir sind ein souveräner Staat. Wir konnten doch auch beim Irakkrieg Nein sagen. Warum können wir hier nicht Nein sagen?
Zweitens. Kanada und die Niederlande haben beschlossen, ihre Truppen abzuziehen. Was werfen Sie denen denn vor? Das sind doch auch souveräne Länder. Sie gehen nur einen anderen Weg als wir.
Es kommt noch etwas hinzu: Präsident Obama hat erklärt, dass er die amerikanischen Truppen ab Mitte 2011 abziehen will. Herr Niebel wurde im Fernsehen, von Frau Will, gefragt, ob man denn damit rechnen könne, dass dann auch die deutschen Truppen abgezogen würden. Er war zu keiner Antwort fähig. Sie haben heute auch nichts dazu gesagt. Ich bitte Sie, Sie wollen dort doch nicht noch alleine bleiben. Also sagen Sie doch wenigstens, dass Sie diesen Weg dann mitgehen. Das ist doch wohl das Mindeste, was man hier erwarten kann.
Herr Gabriel, ich habe Ihnen genau zugehört. Was haben Sie denn gesagt? Sie haben gesagt, der Krieg ist richtig, aber Sie wollen ihn nicht so nennen. Das ist doch keine sozialdemokratische Politik. Ich bitte Sie!
Vollziehen Sie doch einmal den Wechsel und kämpfen Sie endlich für den Abzug.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Gysi!
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. - Ich sage es ganz klar, Frau Homburger: Wir wollen nicht kopflos raus. Sie sind kopflos reingegangen. Das ist das Problem, mit dem wir es zu tun haben.
Ich sage Ihnen deshalb zum Schluss: Ich bin davon überzeugt, dass auch die Mitglieder der Bundesregierung und viele Mitglieder des Bundestages - weit mehr als die Mitglieder unserer Fraktion - wissen: Dieser Krieg war, ist und bleibt falsch. Frau Merkel, Ihnen fehlt nur der Mut, dies einzuräumen, die Bundeswehr so schnell wie möglich aus Afghanistan abzuziehen und endlich entsprechend dem Willen der großen Mehrheit der Bevölkerung unseres Landes zu handeln.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion.
- Darf ich zu den Aufforderungen aus dem Plenum kurz etwas sagen: Zwischenrufe, die ich nicht gehört habe, pflege ich mir im Protokoll anzusehen, bevor ich dazu Stellung nehme.
Aber ich nutze gerne die Gelegenheit, allgemein darauf hinzuweisen, dass man die Ernsthaftigkeit dieses Themas nicht durch Temperamentwettbewerbe auf allen Seiten unterstreichen muss. Im Übrigen komme ich auf den Vorgang zurück, sobald ich mich damit vertraut gemacht habe.
Volker Kauder (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir trauern um die toten Soldaten der letzten Tage und Wochen. Wir werden am kommenden Samstag wieder toter Soldaten gedenken. Unsere Gedanken und unsere Gebete sind bei den Angehörigen, bei den Familien dieser Soldaten. Wir drücken ihnen unsere Anteilnahme aus. Wir wissen, was wir jungen Menschen, die im Dienste unseres Landes unterwegs sind, zumuten, ja, auch zumuten müssen im Interesse der Verteidigung unserer Sicherheit und Freiheit.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach diesen tragischen Vorgängen ist es völlig richtig, dass wir uns heute noch einmal fragen: Ist der Einsatz in Afghanistan richtig, und ist er notwendig? Ich finde, die Bundeskanzlerin hat in beeindruckender Weise deutlich gemacht, warum dieser Einsatz notwendig ist, nicht nur konkret der Einsatz in Afghanistan, sondern auch den Zusammenhang mit der strategischen Lage dieses Landes. Peter Struck hat 2002 bei der Neuformierung der Bundeswehr gesagt, dass die Sicherheit unseres Landes am Hindukusch verteidigt wird. Er hat in einer Regierungserklärung im Jahr 2004 noch einmal präzisiert, was - das müssen wir uns immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen - der Ausgangspunkt des Einsatzes der Bundeswehr war: Wir verteidigen die Sicherheit unseres Landes am Hindukusch, vor allem dann, wenn sich in diesem Land eine Bedrohung wie der Terrorismus formiert. Das ist die erste Begründung dafür, dass wir sagen: Wir dürfen nicht zulassen, dass von Afghanistan wieder große und hohe Gefahren für unser Land, für die Menschen in unserem Land ausgehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist der entscheidende Punkt.
Die Bundeswehr als eine Armee, die vom Deutschen Bundestag eingesetzt wird, hat Anspruch darauf, dass wir, wenn wir sie einsetzen, auch zu ihr stehen. Deswegen haben wir allen Grund, zu sagen: Wir haben das letzte Mandat in klarer Kenntnis dessen, was wir von der Bundeswehr erwarten, erteilt und hier im Deutschen Bundestag mit großer Mehrheit beschlossen. Wir haben es so formuliert, dass wir einmal dafür sorgen wollen, dass dieses Land nicht mehr Aufmarschgebiet von Terroristen ist, zugleich aber auch dafür sorgen wollen, dass dieses Land seine Sicherheit und damit auch unsere Sicherheit selbst garantieren kann. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, das betrifft sowohl unsere Sicherheit als auch die Sicherheit der Menschen in Afghanistan.
Sehr geehrter Herr Kollege Gysi, ich hätte mir von Ihnen an diesem Tag inhaltlich, aber auch von der Form her einen anderen Auftritt gewünscht; das ist jedoch Ihre Sache. Ich will nur eines sagen: Wir haben eine Perspektive für den Rückzug aus Afghanistan mit der Aussage verbunden, dass die Sicherheitskräfte in Afghanistan die Sicherheit dort selbst gewährleisten können.
Ich sage Ihnen: Das war zwingend notwendig. Herr Gysi, wenn wir dies nicht machen würden, sondern schlicht und ergreifend sagen würden: ?Irgendwann, morgen, übermorgen, heute, ziehen wir aus Afghanistan ab?, dann würden wir die Menschen in großer Sorge und Unsicherheit zurücklassen, Menschen, die nicht wissen, auf wen sie sich verlassen können und damit rechnen müssen, dass die Taliban zurückkommen und sie sich nicht wehren können. Wir wissen doch - davon haben Sie keinen Ton gesagt -, dass Taliban-Kämpfer nachts Dörfer überfallen und Menschen hinmetzeln. Das darf nicht mehr passieren. Deswegen muss die Sicherheit in Afghanistan für die Menschen dort und für uns in unserem Land gewährleistet werden.
Deutschland ist an einer Aktion beteiligt - dies hat Herr Gabriel völlig richtig gesagt -, die von der UNO beschlossen worden ist.
Nach den bitteren Erfahrungen im vergangenen Jahrhundert mit Weltkriegen war eine der zentralen Forderungen, eine Einrichtung zu schaffen, die Terror, Ungerechtigkeit und Kriege verhindern kann. Diese haben wir in der UNO gefunden. Die UNO selber hat aber kein einziges Instrument, um das, was sie beschließt, auch durchzuführen und umzusetzen. Deswegen ist die UNO darauf angewiesen, dass ihre Mitglieder das, was dort beschlossen worden ist, auch vollziehen. Die Bundeswehr macht im Verein mit 40 anderen Armeen nichts anderes als das, was in der UNO beschlossen worden ist - dafür zu sorgen, dass kein Terror mehr von Afghanistan ausgeht -, umzusetzen.
Wir haben in Afghanistan, wie ich finde, viel erreicht. Es bleiben aber noch Fragen offen; darauf hat die Bundeskanzlerin hingewiesen. Afghanistan hat Grenzen zu Pakistan und zum Iran. Es ist, wie ich glaube, unbestritten - wahrscheinlich auch bei Ihnen, Herr Gysi; das möchte ich Ihnen unterstellen -, dass vom Iran eine Gefahr für die Sicherheit in Europa und in Deutschland ausgeht, wenn dieses Land Atomwaffen hat. Wir sehen jetzt, wie schwer es ist, mit den Mitteln der Diplomatie und der Verhandlung das Ziel zu erreichen, das die UNO formuliert hat: dass der Iran auf Atomwaffen verzichtet. Wir sehen, wie schwer das ist, obwohl alle in der Welt sagen: Wir wollen nicht, dass der Iran Atomwaffen hat. - Wenn wir sehen, wie schwer dies ist, haben wir allen Grund, zu verhindern, dass sich in Afghanistan etwas etabliert, was diese Gefahr, die vom Iran ausgeht, vergrößert und nicht verkleinert.
Deswegen würde ich dringend raten, die Sache ein bisschen strategischer und auch unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit der eigenen Bevölkerung zu sehen.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben in Afghanistan keine Ausbildungslager mehr. Von diesen Ausbildungslagern ging aber die Gefahr aus. Wir haben jetzt das eine oder andere Ausbildungslager noch im benachbarten Pakistan, aber bei weitem nicht mehr in dieser Dichte und Qualität. Trotzdem haben wir noch immer Wanderungsbewegungen von Europa in Ausbildungslager nach Pakistan. Dies ist eine Bedrohung für unser Land. Nicht umsonst haben wir unter Strafe gestellt, wenn jemand bewusst in ein solches Lager geht, um sich ausbilden zu lassen und dann terroristische Anschläge auszuführen.
Dies alles würde sich weiter verstärken, wenn wir in Afghanistan nicht eine Regierung hätten, die dies unterbindet, sondern eine Regierung, die dies zulässt und fördert. Die Taliban sind im Augenblick vielleicht nicht die Gefahr, aber al-Qaida ist von der Terrorlandkarte nicht verschwunden.
Dass al-Qaida nur darauf wartet, dass sie wieder bessere Möglichkeiten bekommen, ihre ?terroristischen Aufgaben? zu erfüllen, ist doch völlig klar.
Deswegen muss noch einmal klar und deutlich formuliert werden, worum es geht und was die jungen Menschen als Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan machen. Es geht darum, Sicherheit herzustellen, zu verhindern, dass der Terrorismus eine neue Aufmarschbasis und einen neuen Nährboden bekommt. Es geht schlicht und ergreifend darum, dass diese jungen Menschen einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass wir uns in unserem Land sicher fühlen und sicher bewegen können, Herr Gysi. Darum geht es: um die Sicherheit der Menschen in unserem Land.
Ich bin sicher, dass wir mit unserer Arbeit zusammen mit den 40 anderen Nationen erreichen können, dass eine demokratisch gewählte Regierung in Afghanistan Sicherheit herstellt. Junge Menschen bei der Polizei auszubilden, braucht auch bei uns mehr als ein Jahr. Wir bilden in Afghanistan mit großer Intensität Polizeibeamte aus. Wir bilden aber auch Soldatinnen und Soldaten aus, damit sie ihrer Aufgabe gewachsen sind. Wenn dies gelingt, wenn eine gut ausgebildete und gut ausgerüstete afghanische Armee dem Land Sicherheit bringen und aufrechterhalten kann, dann haben Terroristen in Afghanistan keine Chance mehr. Genau das ist das Ziel. Wenn wir das erreicht haben - wir gehen mit ganzer Kraft heran -, dann können wir die Aufgabe der Sicherheit verantwortungsvoll in die Hand der afghanischen Sicherheitskräfte legen.
Die afghanische Bevölkerung soll wissen: Wir lassen sie nicht im Stich. Wenn die Sicherheit gewährleistet ist und die Bevölkerung keine Angst davor haben muss, dass die Taliban mit ganzer Macht und Brutalität wie vor diesem Einsatz wieder zurückkommen, dann haben wir unser Ziel erreicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, klar ist auch, dass wir alles zur Verfügung stellen müssen, was unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen, um ihre gefährliche Aufgabe zu erfüllen. Deswegen sagen wir als Regierungskoalition zu, dass wir das, was die militärische Führung und der Bundesverteidigungsminister an Ausrüstung für die Soldaten im Einsatz und für die Ausbildung für notwendig halten, auch zur Verfügung stellen werden. Darauf dürfen sich Bundeswehr und unsere Soldatinnen und Soldaten verlassen.
Wir können heute feststellen, dass der tragische Tod der Soldaten, der jungen Menschen, die in diesem Einsatz in Afghanistan fallen, für alle Betroffenen, auch für uns, furchtbar ist. Keine Entscheidung im Deutschen Bundestag fällt uns Kolleginnen und Kollegen so schwer wie die Entscheidung, junge Menschen in den Krieg, in den Einsatz nach Afghanistan zu schicken; denn bei dieser Entscheidung sehen wir alle die Gesichter aus unserer Heimat, aus unseren Wahlkreisen, und wir alle hoffen, dass die Soldatinnen und Soldaten wieder aus dem Einsatz zurückkommen. Zur gleichen Zeit müssen wir aber auch sagen: Es dient einem großen Ziel: der Sicherheit der Menschen in unserer Heimat.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir alle hätten es schön gefunden, wenn diese Regierungserklärung aus diesem Anlass nicht nötig gewesen wäre. Unsere Gedanken, unsere Trauer gehören den getöteten und verletzten Soldatinnen und Soldaten und ihren Angehörigen.
Vor dem Hintergrund dieser Eskalation, der wir hier ins Auge sehen, wäre es allerdings auch Zeit für eine wahrhaftige Bestandsaufnahme gewesen: Was machen wir in Afghanistan? Haben wir einen Stabilisierungseinsatz, oder machen wir da Aufstandsbekämpfung? Was ist eigentlich jetzt das politische Ziel? Wofür halten unsere Soldatinnen und Soldaten den Kopf hin? Wie lange müssen sie das noch tun?
Ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört. Die Antwort auf diese Fragen, Frau Merkel, sind Sie leider weitgehend schuldig geblieben. Sie haben die Tradition fortgesetzt, die Ihre Afghanistan-Politik der letzten Zeit geprägt hat. Sie sind nicht für Transparenz und Wahrhaftigkeit. Sie haben uns hier am 8. September 2009, obwohl Sie es besser wussten, nichts über die zivilen Opfer bei Kunduz gesagt. Ihre Fraktion ist nicht länger gewillt, das, was dort passiert ist, aufzuarbeiten. Sie möchte den Deckel der Akten zumachen. Von einer lückenlosen Aufklärung kann nicht die Rede sein.
Manchmal sagen Sie als Bundesregierung schlicht und ergreifend auch die Unwahrheit. Sie dokumentieren das auch. Sie haben in Ihrem Afghanistan-Konzept geschrieben, die neue Afghanistan-Strategie sei eine Schwerpunktverlagerung von einem eher offensiven Vorgehen hin ?zu einer grundsätzlich defensiven Ausrichtung?. Wir haben gestern im Ausschuss sehr genau zugehört, was General McChrystal gesagt hat. Auf die Frage, was dort in den nächsten Wochen und Monaten passieren soll, hat er trocken gesagt: It?s classical counterinsurgency. Also klassische Aufstandsbekämpfung. Das nennen Sie ?grundsätzlich defensiv?? Es kann ja sein, dass Sie diese Aufstandsbekämpfung machen müssen, aber dann sollten Sie das auch so benennen. Sie praktizieren aber das Gegenteil.
Die übergroße Mehrheit meiner Fraktion hat diesem Mandat nicht zugestimmt, weil wir in dem Partnering, das übrigens in dem Mandat steht, die Gefahr gesehen haben, dass man sich auf die Rutschbahn hin zu einer offensiven Aufstandsbekämpfung begibt. Wir haben davor gewarnt, dass das mit erheblichen Risiken verbunden ist.
Was sagte Ihr Bundesverteidigungsminister Herr zu Guttenberg - ich zitiere ihn aus der FAZ vom 25. Januar 2010 -: Dieses Konzept sei nicht automatisch mit mehr Risiken für die Soldaten verbunden. Das ist schon keine Beschönigung mehr, das ist schlicht und ergreifend die Unwahrheit gewesen, die Herr zu Guttenberg da gesagt hat.
Partnering - auch hier zitiere ich Stanley McChrystal - ist gefährlich und mit extremen Risiken verbunden. - Das kann man heute nachlesen. Er führt weiter aus: Da nützt es nichts, um den heißen Brei herumzureden. - Ja, der General hat recht, und ich hätte mir gewünscht, eine Bundesregierung zu haben, die bei ihrer Afghanistan-Politik endlich aufhört, um den heißen Brei herumzureden.
Stattdessen klopfen Sie sich selber auf die Schulter, weil Sie sich jetzt trauen, das Wort ?Krieg? in den Mund zu nehmen.
Als Konsequenz auf Ihre Hilflosigkeit, in die Sie da reingestolpert sind - Sie tun so, als ob Sie hineingestolpert sind -,
fordern Sie jetzt die Ausrüstung mit Haubitzen. Mir muss erst einmal jemand erklären, wie Sie mit Haubitzen die Gefährdung durch Sprengfallen - durch sie sind die Soldaten gestorben - vermindern wollen. Das ist einfach nur Rhetorik, um die Heimatfront zu beruhigen, aber hilft den Soldatinnen und Soldaten überhaupt nicht.
Wenn Sie jetzt das Wort Krieg verwenden, Frau Bundeskanzlerin, dann müssten Sie eigentlich auch den Mut haben, zu sagen, was das Ziel dieses Krieges ist. Sie haben sich dabei etwas leichtfertig, wie ich finde, auf Peter Struck berufen. In Afghanistan sind wir im Auftrag der Vereinten Nationen mit 43 anderen Nationen. Der Auftrag lautet: Unterstützung der gewählten afghanischen Regierung. Was tut diese Regierung zurzeit? Sie bereitet sich intensiv auf die Zeit nach dem Abzug der internationalen Gemeinschaft vor. Dafür sucht sie Verbündete. Das ist verständlich.
Ich hätte von Ihnen eine Einschätzung erwartet, was Sie von diesen Bündnisbemühungen halten, die Herr Karzai unternimmt. Herr Karzai hat ja Verbündete gefunden: Indien auf der einen Seite, der Iran auf der anderen Seite und die Nordallianz, die schon heute in seiner Regierung ist. Und er trifft sich mit weiteren potenziellen Unterstützern. Mitten in Kabul trifft er sich mit Hekmatjar, einem von der UN und den USA gesuchten Kriegsverbrecher, um auf diese Weise einen internen Ausgleich in Afghanistan herbeizuführen.
Es kann zwar sein, Frau Merkel, dass es eine Befriedung und Stabilisierung Afghanistans nur mit solchen schmutzigen Deals gibt, aber warum haben Sie dann nicht den Mut, zu sagen: ?Das ist der Preis für die Stabilisierung Afghanistans?? Warum drücken Sie sich vor diesen unangenehmen Wahrheiten?
Sie setzen Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan tödlichen Gefahren aus. Sie sollen im Zweifelsfall selber töten. Sollen sie das tun, damit Herr Karzai eine bessere Verhandlungsposition mit Herrn Hekmatjar hat? Das ist doch die Frage, die Sie an dieser Stelle beantworten müssen, und es geht nicht um Kriegsrhetorik. Ich bin sehr vorsichtig mit diesem Wort. Es gibt Regionen in Afghanistan, in denen kriegerische Zustände herrschen. Es gibt andere Regionen, wo dies nicht der Fall ist. Aber eines weiß ich gewiss: Einen Stabilisierungseinsatz führen Sie nicht mit Kriegsrhetorik zu einem Erfolg. Sie führen ihn damit zwangsläufig zu einem Misserfolg.
Wenn es das Ziel des Bundeswehreinsatzes ist, eine Verhandlungslösung zu erreichen, dann muss man auch Verhandlungsziele und einen Zeitrahmen haben. Der Bundesaußenminister pflegt bei solchen Gelegenheiten immer zu sagen, man dürfe den Taliban nicht sagen, wann man abzieht. Das haben, glaube ich, weder die Holländer noch die Kanadier gemacht, und auch die USA haben das nicht vor.
Die Taliban wissen sehr wohl, dass die Präsenz nicht auf Dauer sein wird. Wir alle wissen, dass die Präsenz in Afghanistan keine weiteren zehn Jahre andauern wird. Aber wenn man das alles weiß und klar ist, dass es eine Verhandlungslösung geben muss, dann muss denen, die verhandeln sollen, auch klar sein, in welchem Rahmen und bis wann sie die Verhandlungen zu Ende zu führen haben und dass sie die Präsenz internationaler Truppen nicht auf Dauer in ihren Verhandlungspoker einkalkulieren können. Auch dazu haben Sie nichts gesagt.
Ich glaube, die Soldatinnen und Soldaten haben Anspruch darauf, zu wissen, für welche Ziele und wie lange sie Leib und Leben zu riskieren haben. Diese Antwort sind Sie heute schuldig geblieben.
Afghanistan ist aber kein Einzelfall. Globale Risiken wie Aufrüstung, Armut, Klimaentwicklung und Ressourcenwettkampf erzeugen Staatszerfall, Bürgerkriege, das, was Sie zu Recht asymmetrische Konflikte genannt haben. Friedenssicherung in dieser unsicher gewordenen Welt setzt dann handlungsfähige Vereinte Nationen voraus. Staatszerfall entgegenzuwirken, wird auch in Zukunft Stabilisierungseinsätze erfordern.
Ich sage in dieser Situation: Deutschland wird sich dem nicht entziehen können. Ich sage auch: Deutschland wird sich dem nicht entziehen dürfen. Aber gerade deshalb müssen wir aus den Erfolgen und aus den Defiziten dieses Einsatzes in Afghanistan lernen. Das ist der Grund, warum wir eine Evaluierung dieses Einsatzes von unabhängiger Stelle brauchen, und zwar eine Evaluierung des gesamten Einsatzes, also der jetzigen Afghanistan-Politik, der Afghanistan-Politik der Großen Koalition und auch der Afghanistan-Politik von Rot-Grün. Die Bereitschaft, sich in dieser Frage überprüfen zu lassen, gehört zu der notwendigen Wahrhaftigkeit aus diesem Hause, auf die die Zivilisten und die Soldatinnen und Soldaten, die sich in Afghanistan um Stabilisierung bemühen, einen Anspruch haben.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, weise ich darauf hin, dass es ausweislich des Stenografischen Protokolls während der Rede des Kollegen Gysi nach seinem Hinweis auf die Notwendigkeit von mehr Fachärzten für Psychiatrie in der Bundeswehr einen Zwischenruf des Kollegen Martin Lindner gegeben hat, den ich ausdrücklich als unparlamentarisch rüge. Ich verbinde dies noch einmal mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass wir auch und gerade bei einer natürlich kritischen Auseinandersetzung auf persönlich herabsetzende, polemische Bemerkungen verzichten sollten.
Nun erteile ich der Kollegin Elke Hoff für die FDP-Fraktion das Wort.
Elke Hoff (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Trittin, entgegen der Auffassung, die Sie hier vertreten haben, bin ich sehr wohl der Meinung, dass die Bundeskanzlerin heute die Ziele des Afghanistan-Einsatzes sehr klar dargestellt hat. Wenn Sie es aber nicht hören und dem auch nicht Folge leisten wollen, dann kann ich mir vorstellen, dass Sie ein Problem damit haben, dass hier heute angeblich nicht klar über die Ziele dieses Einsatzes berichtet und diskutiert worden ist.
Herr Kollege, ich sehe auch keinen Widerspruch zwischen einem Stabilisierungseinsatz und einer Counterinsurgency, einer Aufstandsbekämpfung. Eine wesentliche Voraussetzung, um eine erfolgreiche Counterinsurgency durchführen zu können, ist natürlich die Stabilisierung der Region. Es gibt keinen militärischen Führer in der Nato, der bisher behauptet hätte, dies könne allein mit militärischen Mitteln gemacht werden. Aber es ist eine Voraussetzung zur Herstellung der Stabilisierung in einem völlig zerstörten Land, in dem sämtliche staatlichen Strukturen vernichtet worden sind. Das ist die Aufgabe, die die Nato und auch die Bundesrepublik Deutschland übernommen haben.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, tun wir gut daran, unseren Soldatinnen und Soldaten, die jeden Tag für dieses Ziel und für diesen Auftrag, den wir erteilt haben, ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren, auch an dieser Stelle die größtmögliche Unterstützung zu gewähren.
Lieber Herr Kollege Gysi, Sie haben eben mit Recht darauf hingewiesen, dass wir, egal welcher unterschiedlichen politischen Auffassung wir sind, den Soldatinnen und Soldaten den Respekt zollen. Daher bitte ich Sie, in Ihrer Fraktion auch dafür zu sorgen - auch, wenn es sehr junge Kolleginnen sind -, dass im Deutschen Bundestag keine Plakate gezeigt werden, auf denen ?Beim Bund ist alles doof? steht und ein Schwein mit einem Stahlhelm abgebildet ist,
hinter dessen Rücken Rauchwolken zu sehen sind, als gebe es eine Explosion. So etwas geht einfach nicht.
Wenn Sie sich hier für Respekt aussprechen, dann sorgen Sie bitte in Ihrer Partei dafür, dass der nötige Respekt gezollt wird.
Ich war bei der Trauerfeier für unsere gefallenen Soldaten anwesend. Ich gebe zu, dass auch ich mich in diesen schweren Stunden gefragt habe, ob der Auftrag, den wir erteilt haben, richtig ist und ob wir diesen Auftrag gegenüber den Angehörigen rechtfertigen können. Die gleiche Frage habe ich mir auch bei der Debatte gestellt, die wir eben geführt haben. Mehr denn je bin ich der Überzeugung, dass es gerade in diesen schweren Zeiten unsere Aufgabe ist, unserer Bevölkerung unsere Entscheidung zu erklären und hier im Parlament den jungen Männern und Frauen, die wir in den Einsatz geschickt haben, deutlich zu machen, dass wir diesen Einsatz mittragen. Ich persönlich habe mir die Frage gestellt, ob wir es im Nachhinein den Angehörigen der Kameradinnen und Kameraden, die bereits jetzt ums Leben gekommen sind, erklären können, wenn wir die Sinnhaftigkeit dieses Einsatzes infrage stellen. Alle Fraktionen in diesem Deutschen Bundestag bis auf eine haben diesen Einsatz gewollt.
Selbstverständlich müssen wir die Benchmarks neu setzen. Auch General McChrystal hat sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es notwendig ist, flexibel in diesem schwierigen Umfeld zu sein, militärisch flexibel, aber auch politisch flexibel. Herr Trittin, zu erwarten, dass man in dieser Lage schon heute ein fertiges politisches Drehbuch für eine Lösung hat, wird der Komplexität dieses Konflikts nicht gerecht. Das wissen auch Sie. Dafür sind Sie viel zu sehr mit der Region vertraut. Wir müssen neben der Unterstützung unserer Soldatinnen und Soldaten dafür sorgen, dass die internationale Gemeinschaft auch den zweiten Teil ihrer Verpflichtung erfüllt, nämlich es dem souveränen Staat Afghanistan zu ermöglichen, zu einer politischen Lösung zu kommen, damit wir der afghanischen Bevölkerung, gegenüber der wir uns verpflichtet haben, aber auch der eigenen Bevölkerung am Ende sagen können: Wir haben gemeinsam eine Mission zum Erfolg gebracht. - Dafür kämpfen wir. Ich bitte Sie noch einmal, an dieser Stelle unseren Soldaten die notwendige Rückendeckung nicht zu entziehen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Ströbele das Wort.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Danke, Herr Präsident. - Mir liegt daran, klarzumachen, dass ich mich nicht für eine verhängnisvolle Kriegspolitik in Afghanistan vereinnahmen lasse. Wenn beispielsweise vonseiten der FDP hier betont wird, der Deutsche Bundestag steht hinter dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, dann sage ich: Ich stehe nicht hinter diesem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, und, was vielleicht noch wichtiger ist als die Haltung des Abgeordneten Ströbele, die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung steht nicht hinter dem Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen.
Die deutsche Bevölkerung hat recht mit ihrer Ablehnung dieses Einsatzes in Afghanistan. Es ist nicht ein Vermittlungsproblem, wie das offenbar aufseiten der Union gedacht wird. Gestern wurde der Herr General McChrystal in der Ausschusssitzung geradezu angefleht, doch zu sagen, wie man der deutschen Bevölkerung die Notwendigkeit des Afghanistan-Einsatzes vermitteln könne. Der General hat dazu gar nichts gesagt, weil es ganz offensichtlich nicht seine Aufgabe ist. Sie können das auch nicht vermitteln, weil die Auffassung der Mehrheit der Bevölkerung richtig ist. Ein Einsatz, der, wie wir inzwischen von General McChrystal, aber auch vom Bundesverteidigungsminister wissen, in diesem Jahr aus Großoffensiven im Süden, im Osten und auch im Norden Afghanistans besteht, aus Großeinsätzen der Bundeswehr und Großeinsätzen der Alliierten, bei denen unzählige Menschen getötet und bei denen unzählige Menschen wie jetzt in Helmand in die Flucht getrieben werden, ist nicht der richtige Weg, um in Afghanistan zu deeskalieren und um Verhandlungen vorzubereiten. Wir können den Soldaten in Afghanistan deshalb guten Gewissens nicht sagen, dass sie im Namen des deutschen Volkes in Afghanistan ihren Dienst tun; vielmehr müssen wir ihnen sagen, dass sie das zwar im Auftrag einer Mehrheit des Deutschen Bundestages tun, aber gegen den erklärten Willen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zur Erwiderung Frau Kollegin Hoff.
Elke Hoff (FDP):
Herzlichen Dank, Herr Präsident! - Sehr geehrter Herr Ströbele, sind Sie bereit, anzuerkennen, dass der überwiegende Teil der zivilen Opfer in Afghanistan nicht dem Einsatz von NATO-Soldaten zu schulden ist, sondern den Aufständischen, den Taliban, der al-Qaida, und dass die Zivilbevölkerung in Afghanistan einen Anspruch darauf hat, dass wir ihr, die sich gegen Anschläge nicht wehren kann, weil die Heimtücke dieser Anschläge durch nichts zu überbieten ist, diesen Schutz geben? Ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns an der Zivilbevölkerung in Afghanistan genauso schuldig machen, wenn wir ihr diesen Schutz verweigern.
Auch Sie wissen, dass General McChrystal gestern sehr klar und deutlich zum Ausdruck gebracht hat, was der Wunsch der afghanischen Zivilbevölkerung ist: Sicherheit, Gerechtigkeit. Dies kann der afghanische Staat zurzeit noch nicht allein gewährleisten. Der überwiegende Teil des Deutschen Bundestages steht Gott sei Dank hinter diesem Einsatz.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Tod unserer Soldaten in Afghanistan in den letzten drei Wochen, aber auch der Tod unserer Soldaten in den letzten Jahren ist ein Beleg dafür, wie gefährlich dieser Einsatz ist. Unsere Gedanken in unserer Trauer sind bei den Angehörigen der Gefallenen; aber sie sind auch bei denen, die tagtäglich den Einsatz dort leisten und wissen, dass die Gefahr stets real ist, auch jetzt, in dieser Stunde, wo wir hier gemeinsam über dieses Thema reden.
Jeder, der diesem Mandat zugestimmt hat - es war die große, überwältigende Mehrheit dieses Hauses -, kannte diese Gefahr, kannte dieses Risiko. Wir sehen mit großer Bewunderung, mit Respekt und mit Hochachtung, wie unsere Soldaten vor Ort entschlossen und gewillt sind, ihren Auftrag auszufüllen, was sie in ganz hervorragender Weise tun.
Wichtig ist ein Aspekt, auf den heute mehrfach hingewiesen worden ist: Es handelt sich nicht um eine Aktion Deutschlands und der Bundeswehr, sondern um eine Aktion der internationalen Staatengemeinschaft. Die internationale Staatengemeinschaft hat beschlossen, gemeinsam ein Problem, das für alle zur Bedrohung geworden ist, aus der Welt zu schaffen. Deswegen, lieber Herr Gysi, denke ich, sollten Sie sich schon einmal fragen, wer der politische Geisterfahrer ist, ob es die Mehrheit der Staaten rund um den Globus ist oder ob Sie es sind.
Die Mehrheit der Staaten rund um den Globus hat von 2001 bis 2009 in zehn Mandaten der Vereinten Nationen - das letzte ist im Dezember vergangenen Jahres verabschiedet worden - die Grundlage dafür gelegt, dass dieser Einsatz in Afghanistan stattfinden kann. 16 Nationen stehen im Norden Afghanistans zusammen mit unseren deutschen Soldaten. Insgesamt sind 44 Nationen in Afghanistan vertreten. Die Staatengemeinschaft hat sich darauf verständigt, ein Problem zu lösen, das alle bedroht. Dieses Problem heißt: Fanatiker haben sich auf den Weg gemacht, unsere Kultur, unsere Freiheit, unsere Lebensart zu zerstören.
Der 11. September 2001 ist das Symbol für den Kampf dieser Terroristen und dieser Fanatiker. Sie wollen eine Welt zerstören, die ihren Bürgern Toleranz, Lebensfreude, Freiheit, Gleichberechtigung und Menschenwürde gibt.
Sie wollen eine Welt zerstören, die nicht in ihr persönliches Weltbild passt. Deswegen haben vor acht Jahren die Völker dieser Erde beschlossen, daran etwas zu ändern. Deshalb, Herr Trittin, wundert es mich, dass Sie als ehemaliges Mitglied einer Regierung, die damals dieses Mandat mitgetragen und mit auf den Weg gebracht hat, jetzt sagen, man sei da hineingestolpert. Man ist mit dem klaren Auftrag nach Afghanistan gegangen, dort mitzuhelfen, ein Regime zu beseitigen, Terroristen zu entwaffnen und mitzuhelfen, dass dieses Land in einen stabilen Zustand gebracht wird.
Nun ist dieser Zustand in der Kürze der Zeit nicht so stabil geworden, wie man sich das vorgestellt hat. Man hat sich vorgestellt, dass das schneller gehen könnte. Meine Damen und Herren, aber ist das Ziel, auch wenn man es nicht kurzfristig erreichen konnte, deshalb falsch? Nein, das Ziel der Weltgemeinschaft bleibt richtig, einen neuen Aufmarschraum für Terrorismus und Gewalt zu verhindern. Nur, den Preis dafür zahlen die Soldaten: unsere Soldaten, die Soldaten unserer Verbündeten. Das ist der Preis, den sie zahlen, um eine Region zu stabilisieren. Ich bin dankbar dafür, dass die Frau Bundeskanzlerin heute sehr ausführlich auf diesen Aspekt hingewiesen hat.
Es geht darum, eine Region zu stabilisieren, in der es Atomwaffen gibt. Es geht nicht nur um Afghanistan, sondern es geht um die Stabilität einer gesamten Region. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn es al-Qaida gelingen würde, Macht - sei es direkt, sei es nur indirekt - über atomare Sprengköpfe in dieser Region zu erlangen.
Meine Damen und Herren, es ist das Ziel, in Afghanistan eine sich selbst tragende Ordnung zu schaffen, eine Stabilität, die es auch möglich macht, dass man dort einen Ansprechpartner hat, der für das ganze Volk, für den ganzen Staat sprechen kann, eine Ordnung, die eine gewisse Rechtsstaatlichkeit gewährleistet, eine Ordnung, die es ermöglicht, dass es Schulen gibt, dass die Bevölkerung versorgt wird.
Natürlich wissen wir, dass man all das auch mit zivilen Kräften erreichen muss. Aber, Herr Gysi, glauben Sie allen Ernstes, dass es möglich sein könnte, dass diese zivilen Kräfte nach einem sofortigen Abzug der internationalen Soldaten weiterarbeiten? Wir alle wissen doch, was passieren würde, wenn die Soldaten sofort abziehen würden. Die zivilen Aufbauhelfer hätten keine Chance. Überall dort, wo die Lage unsicher geworden ist, wo die militärischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, ist bisher die zivile Hilfe der staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsorganisationen zusammengebrochen. Deswegen ist es heuchlerisch, zu sagen: Wir sind zwar für den zivilen Aufbau, aber wir sind gegen einen militärischen Einsatz. - Es wird und es kann keinen zivilen Aufbau ohne eine militärische Absicherung geben. Das ist die Lage.
Die Bundesregierung hat eine klare Strategie - nicht sich selbst und allein ausgedacht, sondern wesentlich mitgestaltet - zusammen mit den Verbündeten, eine Strategie, die seit der Londoner Konferenz unter dem Titel ?Übergabe in Verantwortung? zusammengefasst wird. Sie setzt voraus, dass wir die Sicherheitskräfte der Afghanen handlungsfähig und kampffähig machen. Auch dafür müssen unsere Soldaten ausgebildet und ausgerüstet sein.
Ich bin dem Bundesverteidigungsminister sehr dankbar dafür, dass er persönlich vor Ort das Gespräch mit den Soldaten sucht, auf ihre Wünsche, auch was Ausrüstung betrifft, eingeht und sofort anordnet, dass das eine oder andere, was aus ihrer Sicht notwendig ist, auch sogleich erfolgt. Wir alle wissen allerdings, dass es in einer solchen Auseinandersetzung keine hundertprozentige Sicherheit geben kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben der Ausrüstung brauchen die Soldaten aber etwas anderes ebenso dringend, nämlich die klare Rückendeckung des Deutschen Bundestages und die klare Rückendeckung der Menschen in unserem Lande.
Die jungen Soldatinnen und Soldaten stehen jeden Morgen auf und riskieren Leib und Leben. Jeden Tag laufen sie Gefahr, ihr Leben zu verlieren. Sie befinden sich in einer psychischen Ausnahmesituation. Sie brauchen die Gewissheit, dass wir an ihrer Seite stehen und zumindest erahnen können, was täglich von früh bis spät in ihnen vorgeht.
Wenn wir hier über Begriffe streiten, über den Begriff ?Krieg? und wer wo was gesagt und interpretiert hat, dann wird das dem nicht gerecht, was unsere Soldaten fühlen. Es gibt für jeden Begriff eine juristische Dimension. Es gibt auch eine umgangssprachliche Dimension. Aber es gibt für den Begriff ?Krieg? vor allem eine emotionale Dimension. Richtig ist natürlich, dass ?Krieg? im klassischen völkerrechtlichen Sinn traditionell für die Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Staaten steht. Aber emotional ist ?Krieg? das Synonym für Zerstörung, für Tod und für den Kampf ums nackte Überleben. Die Frau Bundeskanzlerin hat in einem Beispiel sehr plastisch geschildert, welche Situation allzu oft vorkommt: Er oder ich - wer wird überleben? In dieser Situation fühlen viele, dass es sich um Krieg handelt.
Wie oft wurde nach dem 11. September 2001 gesagt: ?Die Terroristen haben uns den Krieg erklärt?? Ja, die Terroristen haben der klassischen Definition von Krieg eine neue Bedeutung hinzugefügt. Sie haben unserer freien Welt den Krieg erklärt. Deswegen haben wir Soldaten geschickt, die wir jetzt nicht allein lassen dürfen. Es ist richtig, dass dieser Staat Oberst Klein in diesem Krieg nicht allein gelassen hat.
Unsere Hochachtung und unser Respekt gilt dem Mut der Soldaten, ihrem Können, ihrer Professionalität. Es ist ein gefährlicher Einsatz, den die Soldaten an der Seite unserer Verbündeten führen. Es ist ein Einsatz für unsere Freiheit. Wir danken ihnen dafür.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Ruprecht Polenz für die CDU/CSU-Fraktion.
Ruprecht Polenz (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als die erste Entscheidung über einen Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan fiel, waren Sie, Herr Trittin, genauso Minister einer Bundesregierung wie Sie, Frau Künast. Einer der wesentlichen Gründe, der damals in der Debatte angeführt wurde, war: Wir dürfen den Fehler, den die internationale Staatengemeinschaft nach dem Abzug der Sowjetunion 1989 gemacht hat, nämlich Afghanistan sich selbst zu überlassen, im Jahre 2001/02 nicht wiederholen.
Wir haben in den 90er-Jahren gesehen - rückblickend hat es sich als ein Fehler herausgestellt -, dass es nach dem Abzug der Sowjetunion zum Bürgerkrieg kam. Die Taliban haben sich durchgesetzt und in weiten Teilen des Landes eine Schreckensherrschaft errichtet. Sie haben al-Qaida die Zufluchtsräume ermöglicht, die diese Terrororganisation brauchte, um die Anschläge auf das World Trade Center, auf das Pentagon und auch in anderen Teilen der Welt vorzubereiten und durchzuführen.
Wegen der Einschätzung, wir dürfen Afghanistan nicht sich selbst überlassen, weil das eine Gefahr für die internationale Sicherheit ist, beteiligen sich seitdem über 40 Nationen an dem ISAF-Einsatz. Die Gedanken, die wir heute zum Ausdruck gebracht haben - beginnend mit der Würdigung durch den Bundestagspräsidenten am Anfang unserer Sitzung -, machen sich doch auch die Angehörigen von 1 550 Soldaten aus Australien, von 220 Soldaten aus Neuseeland sowie auch beispielsweise Angehörige von Soldaten aus Norwegen, Dänemark und Schweden. Natürlich wäre die Entscheidung in diesen Ländern für einen solchen Einsatz nicht gefallen, wenn die Politiker in Singapur, in den Arabischen Emiraten und in Aserbaidschan - ich will jetzt nicht die über 40 Länder alle aufzählen - nicht zu der gleichen Einschätzung gekommen wären, die heute die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung wiederholt hat. Es ist die internationale Sicherheit, die in Afghanistan auf dem Spiel steht. In einer globalisierten Welt heißt das: Es ist auch die deutsche Sicherheit, die dort auf dem Spiel steht. Deshalb ist der Satz von Peter Struck, dass unsere Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird, nach wie vor richtig.
Wir sind in Afghanistan, um Schlimmeres für die Menschen dort, insbesondere für die Frauen, zu verhüten. Ich empfehle Ihnen, einmal auf Google unter den Stichwörtern ?Taliban? und ?Frauen? nachzuschauen. Herr Ströbele, Sie finden dann Listen afghanischer Frauenorganisationen, in denen aufgeführt wird, was den Frauen alles verboten war und welche Strafen sie zu erleiden hatten, wenn sie gegen die Bekleidungsvorschriften oder etwa gegen die Vorschrift, sich nicht die Fingernägel zu lackieren, verstoßen hatten. In diesen Fällen wurden ihnen unter Umständen die Finger abgeschnitten. Auch daran müssen wir erinnern. Das ist ein wichtiger Aspekt in Bezug auf diesen Einsatz.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Ruprecht Polenz (CDU/CSU):
Ja.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege Polenz, Sie haben mich angesprochen und gefragt, ob mir das bekannt sei. Mir ist das bekannt. Es ist schrecklich. Ich will auch viel dafür tun, dass das nie wieder passiert.
Aber man darf keinen Krieg führen. Denn die Frauen sind diejenigen, die am allermeisten unter dem Krieg leiden.
Herr Kollege, ich habe vorgestern mit zwei Organisationen, mit dem Afghanischen Frauenverein und mit Medica Mondiale, gesprochen. Diese sagten mir: Die Situation der Frauen ist heute unter der Regierung Karzai und unter dem Schutz der internationalen Gemeinschaft in weiten Teilen des Landes noch so schlecht, dass sich jedes Jahr 200 Frauen verbrennen. Diese Frauen können den Zustand der Erniedrigung und der körperlichen Qualen - des Geschlagenwerdens usw. - nicht ertragen. Das heißt, wir haben es leider überhaupt nicht geschafft, diese Strukturen, in denen diese schlimme Gewalt gegenüber Frauen vorkommt und zur Tagesordnung gehört, zu beseitigen - auch unter dieser Regierung nicht. Es ist also nicht schwarz-weiß, wie Sie versuchen es darzustellen.
Ruprecht Polenz (CDU/CSU):
Herr Ströbele, jedem, der sich mit Afghanistan und der Entwicklung dort beschäftigt, ist bekannt, dass es nach wie vor erschreckende Ausmaße häuslicher Gewalt gibt und dass die patriarchalischen Strukturen der afghanischen Gesellschaft in vielen Teilen vor allen Dingen im ländlichen Raum nach wie vor zu einer sehr schlimmen Situation für Frauen führen. Aber jedem ist auch bekannt, dass seit dem internationalen Einsatz Mädchen in die Schulen gehen können, Frauen studieren können und Berufschancen haben und dass sich, ausgehend von den städtischen Zentren, die Lage der Frauen im Land verbessert.
Wenn Sie sagen, Sie wollten etwas in dieser Richtung beitragen, dann müssen Sie von Ihrer Rhetorik bei der Kritik des Mandats etwas Abstand nehmen. Denn die von mir genannten Effekte hätten Sie nicht, wenn die Taliban in Kabul wieder herrschen würden.
Ich möchte noch etwas zu den Zielen der Taliban sagen. In dem Strategiepapier von McChrystal ist das sehr präzise beschrieben:
The insurgents have two primary objectives: controlling the Afghan people and breaking the coalition?s will. Their aim is to expel international forces ...
Den Willen der Koalition zu brechen, ist also das Ziel.
Deshalb ist es wichtig, wie wir nach solchen schrecklichen Anschlägen diskutieren. Wenn wir den Eindruck erwecken, es brauche vielleicht nur noch fünf oder zehn weitere Anschläge und dann sei unser Wille gebrochen und dann würden wir uns aus Afghanistan zurückziehen, gefährden wir die Sicherheitslage unserer Soldaten und laden geradezu zu weiteren Anschlägen ein.
Wir dürfen im Hinblick auf einen Taliban nicht nur die Assoziation ?Turban, langer Mantel, barfuß oder mit Sandalen, Kalaschnikow? haben, sondern müssen auch an den Laptop denken. Über diesen Laptop erfährt Spiegel Online zehn Minuten nach einem Anschlag, welche Ziele die Taliban zur Brechung des Willens der deutschen Bevölkerung und der deutschen Politiker verfolgen. Das müssen wir in unsere Diskussion einbeziehen. Deshalb ist auch der eine oder andere Vorwurf an die Art und Weise zu richten, wie die Linke in Deutschland die Diskussion führt.
Meine Damen und Herren, die Soldaten dürfen sicherlich erwarten, dass wir uns ein realistisches Bild von der Gefährlichkeit ihres Einsatzes machen und dieses Bild auch in unseren Reden vermitteln.
Deshalb ist es richtig, wenn die Bundeskanzlerin, der Außenminister und der Verteidigungsminister - sie alle tun es in der gleichen Weise - von kriegsähnlichen Zuständen oder von Krieg sprechen, um das Geschehen zu charakterisieren. Damit ändert sich aber die völkerrechtliche Lage nicht; das ist damit auch nicht intendiert. Es ist und bleibt, Herr Ströbele, ein Einsatz nach Kap. VII der Charta der Vereinten Nationen. Sie vermischen diese beiden kommunikativen Ebenen absichtsvoll,
um gegen einen Krieg zu polemisieren, den Sie als völkerrechtlichen Krieg darstellen, wobei Sie genau wissen, dass Deutschland diese Art der Kriegsführung verboten wäre. Auch Herr Trittin hat in seinen Beiträgen leider Ähnliches anklingen lassen, Herr Gysi sowieso.
Wir müssen uns also gegen diese absichtsvolle Vermengung der beiden Ebenen wehren. Eine realistische Beschreibung der Zustände muss erfolgen. Aber wir müssen klar festhalten: Es bleibt ein völkerrechtlicher Einsatz nach Kap. VII der Charta der Vereinten Nationen. Die Vereinten Nationen führen, völkerrechtlich gesehen, keinen Krieg.
Noch eine Bemerkung zur Politik. Herr Trittin, Sie haben kritisiert, dass zu wenig zum innerafghanischen Aussöhnungsprozess gesagt worden sei. Ich stimme Ihnen zu; das ist ein ganz wichtiger Punkt. Denn wenn wir uns im Rahmen der Strategie der Übergabe in Verantwortung zurückziehen wollen, dann muss nach 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg, die in Afghanistan geherrscht haben, ein Zustand erreicht werden, in dem die afghanischen Stämme ihre Interessengegensätze möglichst gewaltfrei austragen und auf das Faustrecht verzichten. Sie wissen aber sehr genau - deshalb war Ihr Vorwurf unredlich -, dass bei den Gesprächen, die Karzai führt, und angesichts der Grenzen, die er versucht einzuhalten, Voraussetzung für diesen Versöhnungsprozess und die Beteiligung daran ist, dass erstens die afghanische Verfassung die Grundlage dessen sein soll, worauf man sich zu verständigen hat, zweitens auf Gewalt verzichtet wird und drittens eine scharfe Abgrenzung gegenüber al-Qaida erfolgt. Das sind die drei roten Linien, innerhalb deren sich der Versöhnungsprozess abspielen muss.
Eine letzte kurze - meine Redezeit ist gleich zu Ende - Bemerkung zur Einbeziehung der Nachbarn. Wir sprechen meines Erachtens zu wenig darüber, dass wir Afghanistan nicht dauerhaft stabilisieren können, wenn wir die Nachbarn nicht in diesen Prozess einbeziehen. Über Pakistan wird inzwischen glücklicherweise mehr geredet. Wir reden aber zu wenig über den Iran. Ohne den Iran wird es nicht gehen. Wir haben ebenso wie der Iran ein Interesse an einem stabilen Afghanistan ohne Drogenanbau. Nur bei Stabilität können die Iraner die Flüchtlinge wieder nach Afghanistan zurückschicken; es sind über 1 Million im Iran. Die Iraner sind keine Freunde der Taliban, und sie bekämpfen auch al-Qaida.
Es gäbe also genügend Anknüpfungspunkte. Derzeit haben wir natürlich mit dem Iran das Nuklearproblem zu lösen. Ich glaube aber, dass sich das Nuklearproblem möglicherweise leichter besprechen und lösen lassen würde, wenn wir das Spielfeld im Zusammenhang mit einer konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Iran im Hinblick auf Afghanistan erweitern würden und dem Iran zeigen würden, welche Rolle wir ihm in der Region zubilligen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ernst, Jutta Krellmann, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Mit guter Arbeit aus der Krise
- Drucksache 17/1396 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erneut müssen wir uns hier aufgrund der Realitäten in unserem Land über die Frage unterhalten, wie es um die Arbeitsbedingungen, die Löhne, die Situation der Menschen, die ihr Geld durch Arbeit verdienen müssen, steht. Vor allen Dingen weil es veränderte Gewinnerwartungen der Unternehmen gab, die von der Politik entsprechend unterstützt wurden, war die Situation in den letzten Jahren von einer sinkenden Lohnquote geprägt, verbunden mit drastischen Veränderungen in der Arbeitswelt. Ich erinnere an das Zitat von Gerhard Schröder vom Februar 1999:
Wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen, der die Menschen, die jetzt Transfer-Einkommen beziehen, wieder in Arbeit und Brot bringt.
Ich möchte dazu feststellen: Das mit der Arbeit hat im Einzelfall geklappt; allerdings ist das Brot ausgeblieben.
Menschen müssen zunehmend in Beschäftigungsverhältnissen arbeiten - Sie wissen das -, von denen man nicht mehr leben kann. Die Politik hat die Voraussetzungen dafür geschaffen: für die Erosion der regulären und gut abgesicherten Beschäftigung in den Unternehmen unseres Landes. Das Ergebnis sind Leiharbeit, Minijobs, die Befristung von Arbeitsverhältnissen und der Abbau des Kündigungsschutzes. Hartz IV und Leiharbeit haben bei den Löhnen und bei der Zahl der regulären Arbeitsverhältnisse zu einem Erdrutsch geführt. Der Steuerzahler ist in der Situation, dass er dies jährlich mit Zuschüssen in Milliardenhöhe finanzieren muss, um die Menschen überhaupt am Leben zu halten.
- Herr Kollege, das mag aus Ihrer Sicht so sein. Ich weiß, dass Ihr Satz immer ist: Sozial ist, was Arbeit schafft.
Ich sage Ihnen: Die Arbeitsplätze, die Sie geschaffen haben, sind unsozial. Deshalb ist es falsch, zu sagen: Sozial ist, was Arbeit schafft. Herr Kollege, Sie müssen schon ein bisschen hinschauen, um zu sehen, wie die Menschen wirklich arbeiten.
Ich sage Ihnen: Die Situation der Frauen, der jungen Menschen und der Menschen mit Migrationshintergrund - das mag nicht Ihre Klientel sein - ist dramatisch. Wir müssen uns den Fakten zuwenden. Wir müssen uns der Realität zuwenden, dass die Menschen nach einer Umfrage des DGB zu 92 Prozent ein verlässliches und festes Einkommen wünschen. Für sie ist genau das entscheidend, was von Ihnen zunehmend infrage gestellt worden ist, auch durch Ihre Politik. Es ist Fakt: 2008 waren 7,7 Millionen Menschen entweder in Teilzeit oder in befristeten Arbeitsverhältnissen oder als Leiharbeitnehmer beschäftigt. Es ist auch Fakt, dass 6,5 Millionen Arbeitnehmer - das ist fast ein Viertel der Beschäftigten in unserem Lande - nur noch mit Niedriglöhnen abgespeist werden und kein vernünftiges Einkommen mehr bekommen.
- Wenn Sie glauben, dass das nicht stimmt, müssen Sie die Statistik lesen. Ich weiß nicht, wie Sie die Statistik fälschen; das sind jedenfalls Zahlen der Bundesagentur für Arbeit aus dem Jahr 2009.
1,37 Millionen Menschen müssen ihr Gehalt aufstocken lassen, weil es nicht mehr ausreicht, um ihr Leben zu bedienen. In der Altersgruppe der 15- bis 20-Jährigen haben nur noch 40,7 Prozent der Beschäftigten eine unbefristete Stelle, in der Altersgruppe der 20- bis 25-Jährigen sind es nur noch 25 Prozent. Mit diesem Zustand dürfen wir uns nicht abfinden.
Ich möchte, weil es der eine oder andere vielleicht nicht den Linken glaubt, zur Kenntnis geben, was die Süddeutsche Zeitung am 14. April 2010 dazu geschrieben hat. Die Überschrift des Artikels lautete: ?Teilzeit und Leiharbeit fressen Demokratie auf?. In dem Artikel über die veränderten Arbeitsbedingungen heißt es:
Es ändert sich zum Beispiel die Art, in der die solchermaßen Beschäftigten ihr Leben planen können (oder auch nicht). Es ändert sich das Maß, in dem Arbeitnehmer ihre Rechte in Anspruch nehmen - und, um es leicht pathetisch zu formulieren: Mit den Beschäftigungsverhältnissen erodieren auch Institutionen, die einst in der Erkenntnis eingeführt wurden, dass es Demokratie nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft geben muss.
In dem Artikel heißt es weiter - das finde ich nun wirklich sehr bemerkenswert -:
Wer nur für sechs oder zwölf Monate beschäftigt ist, wird auf die Gründung einer Familie vorerst verzichten.
Frau von der Leyen ist bei diesem Thema nicht mehr anwesend. Es ist zwar nett und schön, dass sich Frau von der Leyen um die Fortpflanzungsmöglichkeiten in der Bundesrepublik sorgt und die Familien in den Vordergrund stellen will; das ist richtig. Aber man muss auch in den Vordergrund stellen, wie es denn einem 25-Jährigen oder 22-Jährigen überhaupt noch möglich sein soll, eine Familie zu gründen, wenn er weiß, dass er seinen Job bloß noch einen Monat hat, oder wenn er als Leiharbeiter beschäftigt ist und weiß, dass er in einer Krise als Erster seinen Job verliert. Das ist der Ansatz für Familienpolitik.
Der Artikel von Herrn Detlef Esslinger ist auch aus folgendem Grund so interessant:
Wer auf einen Anschlussvertrag hofft, wird auf die Bezahlung von Überstunden keinesfalls bestehen. Kündigungsschutz kennt ein befristet Beschäftigter allenfalls als Vokabel. Er wird keinen Betriebsrat konsultieren, und schon gar nicht wird er (oder sie) auf die Idee kommen, selber dafür zu kandidieren.
Angesichts der realen Arbeitsbedingungen in unserem Land geht es nicht nur um einen Abbau der unmittelbaren Leistungen und um eine Verschlechterung der unmittelbaren Situation der Beschäftigten. Es geht auch um einen Abbau von Demokratie in den Betrieben. Den müssen wir doch wohl gemeinsam verhindern.
Wir sind nicht damit einverstanden, wenn Sie ausweislich Ihres Koalitionsvertrages nichts gegen Leiharbeit unternehmen wollen; denn wir wissen, dass Leiharbeit eben nicht dem Abbau von Spitzen dient, sondern letztendlich eine Methode ist, vernünftige Arbeitsplätze abzubauen und schlecht bezahlte Jobs in den Betrieben zu schaffen. Wir sind nicht damit einverstanden, dass Sie in Ihrem Koalitionsvertrag schreiben:
Wir werden die Möglichkeit einer Befristung von Arbeitsverträgen so umgestalten, dass die sachgrundlose Befristung nach einer Wartezeit von einem Jahr auch dann möglich wird, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein Arbeitsverhältnis bestanden hat.
Sie sagen, Sie wollten den Kündigungsschutz nicht verschlechtern. Faktisch machen Sie mit dem, was Sie im Koalitionsvertrag schreiben, den Kündigungsschutz obsolet. Den Menschen muss gar nicht mehr gekündigt werden, weil ihr Vertrag ausläuft und sie dann aus den Betrieben entfernt werden.
Wir fordern deshalb: Wir brauchen eine klare Regelung für die Leiharbeit. Es muss gelten: gleicher Lohn bei gleicher Arbeit.
- Richtig, das steht im Gesetz. Aber Sie wissen genauso gut wie ich, dass dieses Gesetz umgangen wird, unter anderem durch gelbe Gewerkschaften, die niedrige Tarife abschließen. Wir brauchen einen Ausschluss der Möglichkeit, von diesem Prinzip abzuweichen. Dem muss sich die FDP anschließen.
Wenn Sie dauernd die Einführung eines Mindestlohns verweigern und gleichzeitig sagen, Leistung müsse sich lohnen, dann belügen Sie die Leute. Das ist die Realität, Herr Kolb; der sollten Sie sich zuwenden.
Ich fahre fort. Wir brauchen eine klare Regelung, dass befristete Arbeitsverhältnisse nicht in der Weise verwendet werden, wie es gegenwärtig geschieht. Ein Arbeitsvertrag darf nur wegen eines Sachgrundes befristet werden. Es kann nicht sein, dass Regelungen, die der Schaffung vernünftiger Arbeitsbedingungen dienen, ausgehebelt werden. In unserem Antrag fordern wir unter anderem, dass der Kündigungsschutz gestärkt wird und dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf dadurch verbessert wird, dass zum Beispiel Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die im Schichtbetrieb arbeiten müssen, die Möglichkeit haben, aus dem Schichtsystem herauszukommen, wenn sie kleinere Kinder haben. Oft arbeiten beide Elternteile im Schichtbetrieb und müssen sich abwechselnd um ihre Kinder kümmern. Da schaut das Familienleben so aus, dass der eine auf einen Zettel schreibt: Ich komme heute Abend später. - Wenn er wiederkommt, hat seine Partnerin auf dem Zettel geschrieben: Ja, ich habe es gemerkt. - Das ist nicht der Zustand, den wir wollen. Wir wollen, dass Familie und Beruf besser vereinbart werden können.
Ich komme zum Schluss. Ich möchte, dass die in unserem Antrag formulierte Forderung, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I auf 24 Monate zu verlängern, realisiert wird, weil wir wissen, dass Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer besonders von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Die Verlängerung der Geltungsdauer der Kurzarbeitregelungen hat nicht geholfen. Wenn die Betroffenen keine Arbeit mehr haben, müssen sie von Arbeitslosengeld II leben. Das müssen wir ändern.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Johann Wadephul.
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland ist gemäß Art. 20 ihrer Verfassung ein sozialer Rechtsstaat. Die soziale Marktwirtschaft ist wahrscheinlich unser bester Exportartikel. Deswegen ist es in der Tat richtig, dass wir immer wieder - besonders in Zeiten einer Wirtschaftskrise, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben - über die Neujustierung unserer Sozialpolitik diskutieren, dass wir Fehlentwicklungen aufgreifen und überlegen, ob es in der Tat Missbrauch oder ein Überhandnehmen der Befristung von Arbeitsverhältnissen gibt. Gibt es zu viel Leiharbeit? Gibt es Missbrauch von Leiharbeit? Über den Fall Schlecker haben wir bereits kritisch diskutiert. All das ist notwendig.
Herr Kollege Ernst, zu Ihrer Rede und zu dem Antrag Ihrer Fraktion muss ich sagen: Wir brauchen kein sozialistisches Wünsch-dir-was. Was Ihrer Partei eingefallen ist, lässt Maß und Mitte völlig vermissen. Es wird versucht, das sozialpolitische Miteinander, das wir in Deutschland zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften haben, zu diskreditieren. Das haben weder die Tarifvertragsparteien noch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verdient. Das leistet auch keinen Beitrag dazu, dass das soziale Klima in Deutschland besser wird.
Bemerkenswerterweise sind Sie auf viele Punkte Ihres Antrags nicht eingegangen. Vielleicht sind sie Ihnen peinlich gewesen; vielleicht waren Sie auch etwas zu schnell. Als Porschefahrer lieben Sie die Geschwindigkeit.
Ich möchte mich zunächst kurz mit den Punkten befassen, die Sie angesprochen haben, insbesondere mit dem Befristungsrecht. Wir werden das genau prüfen. Falls wir auf der Grundlage des Koalitionsvertrages gesetzlich nachsteuern müssen, dann werden wir das maßvoll tun. Die Forderung, die Sie aufstellen - in Ihrer Rede war das etwas missverständlich; im Antrag ist es eindeutig -, die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen völlig abzuschaffen, macht das Übermaß deutlich, das ich eingangs kritisiert habe.
Betriebe brauchen in bestimmten Situationen die Möglichkeit, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem Sachgrund - damit haben Sie recht - befristet einzustellen. Klassische Fälle sind eine Schwangerschaftsvertretung, ein hoher Auftragseingang mit der Folge, dass die Aufträge schnell abgearbeitet werden müssen, oder der Fall, dass man eine besonders qualifizierte Arbeitskraft nur für ein bestimmtes Projekt braucht, danach aber nicht mehr. Das alles sind Fälle, in denen wir den Betrieben ermöglichen müssen, befristet einzustellen. Man würde das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn man auch die sachgrundlose Befristung völlig abschaffen würde. Das hilft den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht, Herr Kollege Ernst. Deswegen lehnen wir das schlicht und ergreifend ab.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? - Herr Kollege Ernst möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
Bitte.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Danke für die Möglichkeit, nachzufragen. - Sie haben verschiedene Gründe für eine Befristung genannt. Sie haben erklärt, warum eine Befristung für einen Betrieb möglicherweise sinnvoll sein kann. Am Ende Ihrer Ausführungen kommen Sie zu dem Ergebnis, dass man eine sachgrundlose Befristung braucht. Es tut mir leid, aber das kann ich nicht nachvollziehen. Können Sie mir bitte erklären, warum Sie trotz der vorgetragenen Sachgründe, die möglicherweise richtig sind, zu dem Ergebnis kommen, dass der Arbeitgeber die Möglichkeit haben muss, ohne jeden Grund befristet einzustellen? Können Sie meiner Behauptung zustimmen, dass die Möglichkeit, sachgrundlose Befristungen in den Betrieben durchzuführen, zu dem Ergebnis geführt hat - ich habe es vorhin angesprochen -, dass inzwischen fast die Hälfte der jungen Menschen ohne festen Arbeitsvertrag in den Betrieben eingestellt wird?
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
Herr Kollege Ernst, Ihre Rede war an dieser Stelle missverständlicher als der Antrag. In Ihrer Rede haben Sie auch die Sachgrundbefristung infrage gestellt. Deshalb habe ich dazu etwas gesagt. Das ist der erste Punkt.
Zweitens. Die Betriebe haben seit Mitte der 80er-Jahre, eingeführt durch Norbert Blüm, die Möglichkeit, ohne einen Sachgrund für maximal zwei Jahre befristet einzustellen. Das ist ein Erfolgsmodell. Aus vielen befristeten Verträgen sind Dauerarbeitsverhältnisse geworden. Weil man den Arbeitnehmer kennengelernt hat, weil man gemerkt hat, was er kann, hat man ihn dauerhaft übernommen.
Ein solches Erfolgsmodell werden wir nicht infrage stellen. Diese Regelung ist seit 1986 im deutschen Recht verankert. Dabei bleiben wir. In der Sache bin ich mit Ihnen vielleicht sogar einer Meinung: Das darf natürlich nicht der Regelfall sein. Der Regelfall soll natürlich ein unbefristetes Arbeitsverhältnis sein. Deshalb habe ich gesagt: Wenn wir hier modifizieren, schauen wir uns ganz genau an, was wir modifizieren.
Ich möchte zu einem weiteren Punkt kommen, der mich wirklich umtreibt, zu dem Sie aber gar nichts gesagt haben, nämlich zu den massiven Eingriffen in die Tarifautonomie. Diese ist Ihnen - das wissen wir aus der Mindestlohndebatte - ohnehin nicht so wahnsinnig viel wert. Jetzt wollen Sie in das Tarifvertragsgesetz eingreifen. Sie wollen vorschreiben, dass Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern hergestellt wird.
Mit einer gewissen Empörung stelle ich fest, dass Sie den Gewerkschaften unterstellen, dass sie genau darauf nicht schon seit Jahrzehnten achten. Das geschieht. Zeigen Sie mir einen Tarifvertrag, den Gewerkschaften, die dem DGB angehören, unterschrieben haben, in dem von vornherein eine Diskriminierung von Frauen stattfindet! So etwas gibt es nicht. Das möchte ich im Namen der Einzelgewerkschaften des DGB zurückweisen. Das ist das Erste.
Das Zweite ist: In Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes ist die Tarifautonomie verankert. Sie ist eines der Erfolgsmodelle der Bundesrepublik Deutschland und der Nachkriegszeit. Manch einer in Ihrer Fraktion kennt das aus FDGB-Zeiten noch etwas anders. Das mag einigen als Modell der Zukunft vorgeschwebt haben. Ich sage Ihnen nur: Das ist ein Holzweg. Wir wollen freie Gewerkschaften und freie Arbeitgeberverbände, die im freien Spiel der Kräfte miteinander das Beste für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für die Betriebe aushandeln. Da greift der Gesetzgeber nicht ein. Das ist nicht Aufgabe des Staates. Das ist die Lehre, die wir aus Fehlentwicklungen in der Weimarer Republik und der DDR ziehen. Dabei bleiben wir.
Mein dritter Punkt ist: Der Antrag zeigt, dass die Linken teilweise noch in einer utopischen politischen Welt leben und noch immer nicht begriffen haben, dass die DDR nicht nur finanz- und wirtschaftspolitisch, sondern auch sozialpolitisch gescheitert ist.
- Vieles von dem, was Sie vorschlagen, stammt möglicherweise nicht aus Ihrer Feder. Sie müssen das aber vertreten, weil Sie Vorsitzender werden wollen. Das müssen Sie miteinander aushandeln.
Das weiß ich nicht so genau. Aber vieles von dem, was Sie vorschlagen - auf einige Einzelregelungen werden die nachfolgenden Redner noch zu sprechen kommen -, lehnt sich an das Wirtschaftssystem an, das im ehemals unfreien Teil Deutschlands gescheitert ist. Das darf kein Zukunftsmodell für Gesamtdeutschland sein.
Das bedeutet im Ergebnis - das möchte ich Ihnen klar sagen -: Ich sehe hier einige Gefahren. Sie nutzen das soziale Klima - Sie sprechen von sozialer Kälte - für eine populistische öffentliche Propaganda, die gefährlich ist. Der Kollege Hunko hat schon im vergangenen Sommer in Nordrhein-Westfalen Unruhen wie in Frankreich heraufbeschworen und für sinnvoll gehalten. Das ist in der Tat eine Entwicklung - das sage ich insbesondere im Hinblick auf den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen -, die wir mit Sorge sehen.
- Wenn Sie ernsthaft suggerieren wollen, dass die Unruhen der Jugendlichen in den französischen Vorstädten ein Vorbild für Deutschland sind, dann kann ich nur sagen: Das zeigt ganz klar, wohin Sie wollen. Sie wollen nicht sozialen Frieden, sondern sozialen Unfrieden.
Dass das in der Debatte deutlich wird, ist vielleicht ganz gut.
Das heißt im Ergebnis: Die Linke darf keine politische Verantwortung tragen, erst recht nicht in Nordrhein-Westfalen.
Möglicherweise dient der Antrag der Profilierung vor der dortigen Wahl. Wir brauchen klare Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger. Sie müssen wissen, worum es geht und vor welchen Alternativen sie stehen. Wir brauchen keine sibyllinischen Auskünfte, insbesondere von Frau Kraft nicht, die in einem Slogan ihren Vor- und Nachnamen wiederholen lässt. Wir brauchen klare Aussagen, nicht von einer Sibylle Kraft, sondern von einer Frau Kraft. Sie muss klar sagen, welche politische Konstellation sie anstrebt und welche sie definitiv - hoffentlich mit einem größeren Aussagewert und mit Glaubwürdigkeit - ausschließt. Ich ziehe daraus den Schluss, dass vernünftige Sozialpolitik in einer sozialen Marktwirtschaft dann gemacht wird, wenn die Union Verantwortung trägt. Jürgen Rüttgers ist dafür der beste Garant.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Ottmar Schreiner für die SPD-Fraktion.
Ottmar Schreiner (SPD):
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Wadephul, ich weiß nicht genau, was der Antrag der Linkspartei mit Jürgen Rüttgers zu tun hat. Sie haben da einen sehr weiten Bogen gespannt.
Sie haben zunächst - wie ich finde: zu Recht - kritisiert, dass der Antrag der Linkspartei eine sehr breite Palette von unterschiedlichsten Vorstellungen enthält. Man könnte auch sagen: Er ist ein Sammelsurium, über das man in der kurzen Debattenzeit nicht seriös diskutieren kann. Sie haben insgesamt circa 40, 45 Vorschläge unterschiedlichster Art zusammengeschrieben. Das macht eine vernünftige parlamentarische Debatte fast unmöglich. Deshalb werde ich versuchen, mich auf einige wenige Punkte zu konzentrieren, die jedenfalls ich für besonders wichtig halte.
Zunächst einmal wird im Antrag gefordert, gute Arbeit zu fördern. Das ist auch zentrales Anliegen der Sozialdemokraten. Wir wollen gute Arbeit fördern. Viele Arbeitnehmer wurden gefragt, was für sie gute Arbeit sei. Die Ergebnisse sind eindeutig. Alle Befragungen zeigen, dass der überwiegende Teil der bundesdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter guter Arbeit ein auf Dauer angelegtes, stabiles sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis versteht, von dem die Menschen einigermaßen vernünftig leben können.
Das ist das zentrale Anliegen bei guter Arbeit. Wenn ich dies als Messlatte nehme, dann lässt sich überhaupt nicht bestreiten, dass wir es in Deutschland mit mindestens zwei zentralen Fehlentwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zu tun haben, die es in diesem Ausmaß möglicherweise in keinem anderen europäischen Land gibt. Diese Fehlentwicklungen sind teilweise von der Politik gefördert und befördert worden.
Also können sie von der Politik auch wieder korrigiert werden. Ich sage in aller Deutlichkeit, dass ich es für eine Schande halte, dass in einem der reichsten Länder der Erde immer mehr Menschen so wenig verdienen, dass sie von ihrem Einkommen nicht mehr leben können. Das ist nicht christlich.
Das mag liberal sein; aber christlich ist es nicht.
Die schlecht bezahlten Jobs werden immer mehr zum Armutsrisiko. Inzwischen ist die Entwicklung so, dass auf zehn Arbeitslose im Hartz-IV-System bereits sechs Hartz-IV-Empfänger kommen, die erwerbstätig sind, von ihrem Lohn aber nicht leben können und über Hartz-IV-Leistungen aufstocken müssen.
- Es geht jetzt im Wesentlichen nicht darum, darüber zu diskutieren, woher es kommt, sondern darum, wie wir es ändern wollen.
- Lieber Kollege von der FDP, Sie haben all den Regelungen, die Sie kritisieren, zugestimmt und zu erheblichen Teilen weitere Verschärfungen hier im Deutschen Bundestag angestrebt.
Wenn Sie sich jetzt hier als Rächer der Enterbten darstellen, ist das pure Heuchelei. Sie sollten den Mund halten, zumindest für die nächste halbe Stunde; danach sehen wir weiter.
Von Ihnen sollten bei diesen Themen nun wirklich keine Zwischenrufe gemacht werden.
- Sind Sie immer noch nicht ruhig? Reicht es nicht?
Das Problem ist, dass die Koalition diese Entwicklung noch verschärfen will. Sie überlegen, die Hinzuverdienstgrenzen für Hartz-IV-Empfänger noch großzügiger auszugestalten. Das heißt, dass die Armutslohnproblematik weiter zunehmen wird. Es ist meine feste Überzeugung und die feste Überzeugung der SPD-Fraktion, dass es nicht Aufgabe der Steuerzahler ist, Unternehmen, die Armutslöhne zahlen, zu subventionieren,
dass es aber Aufgabe der Politik ist, die Steuerzahler davor zu schützen, Armutslöhne subventionieren zu müssen. Wir wollen kein staatlich subventioniertes Lohndumping.
Deshalb fordern wir die Koalition auf, entsprechende Bestrebungen unverzüglich einzustellen und sich unseren Überlegungen zum Thema Mindestlohn anzuschließen.
Herr Kollege Wadephul, ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie den Mindestlohn in Verbindung mit einer möglichen Beschädigung der Tariffreiheit bringen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat auf seinem letzten Bundeskongress vor vier Jahren mit einer Mehrheit von 96 Prozent die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne beschlossen. Die Gewerkschaften sind eine zentrale Säule des Tarifsystems. Wenn die Gewerkschaften der Auffassung sind, dass es der politischen Unterstützung bedarf, um zu gewährleisten, dass zumindest im untersten Einkommensbereich halbwegs menschenwürdige Löhne gezahlt werden, dann sollte sich die Politik diesem Ansinnen nicht verweigern. Das hat mit Eingriffen in die Tarifautonomie überhaupt nichts zu tun.
Was die Höhe des Mindestlohns betrifft, wird man debattieren müssen, ob der Vorschlag der Linkspartei - 10 Euro brutto die Stunde - angemessen ist. Ich plädiere sehr dafür, die Kirche im Dorf zu lassen. Dieser Vorschlag ist meiner Meinung nach ein bisschen arg populistisch. Es gibt vernünftige, objektive Kriterien, anhand derer man eine Mindestlohngrenze festlegen kann. Man könnte zum Beispiel die Pfändungsfreigrenze, die Arbeitnehmern im Fall der Überschuldung einen angemessenen Lebensunterhalt sichert, heranziehen. Dann hätten wir einen Mindestlohn von etwa 1 000 Euro netto bei Vollzeitbeschäftigung. Das würde ungefähr unseren Vorstellungen von einem Einstiegsmindestlohn in Höhe von 8,50 Euro brutto die Stunde entsprechen. Ich bin einigermaßen sicher, dass die Gewerkschaften auf ihrem anstehenden Bundeskongress ähnliche Überlegungen anstellen werden. Ich plädiere sehr nachdrücklich dafür, in dieser Frage einen möglichst engen Schulterschluss mit den Gewerkschaften zu suchen, weil sie in besonderem Maße betroffen sind.
Die zweite zentrale Fehlentwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist die systematische Ausbreitung ungeschützter, prekärer oder atypischer Beschäftigungsverhältnisse. Die Arbeitsmarktflexibilisierung zielt, was die Instrumente betrifft, in die völlig falsche Richtung. Es geht in vielen Bereichen nicht mehr um die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, sondern um den nackten Missbrauch der Instrumente zum Zweck des Lohndumpings. Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden. Die Koalition tut auch hier das Gegenteil.
Sie wollen die Regelungen betreffend die zeitliche Befristung noch stärker lockern. Das ist ein Schritt in die falsche Richtung.
2009 waren fast 50 Prozent der mit jungen Leuten neu geschlossenen Arbeitsverträge zeitlich befristet. Die Union behauptet von sich, eine Familienpartei zu sein. Ich sage Ihnen: Diese Entwicklung ist extrem familien- und kinderfeindlich. Wenn ein 28-jähriger Mann oder eine 30-jährige Frau - das ist übrigens unabhängig von der Ausbildung; es gibt auch sehr viele hochqualifizierte und sehr gut ausgebildete junge Menschen, denen Sie den Start ins Berufsleben massiv vermiesen - nicht wissen, ob sie ein Kind nach zwei Jahren zeitlicher Befristung noch angemessen kleiden und ernähren können, dann entscheiden sie sich nicht für ein Kind. Wir brauchen eine Wiederbelebung des Normalarbeitsverhältnisses. Auch junge Menschen müssen ihr Leben halbwegs vernünftig planen können. Wir brauchen also eine Stärkung und Ausweitung normaler, stabiler, auf Dauer angelegter Arbeitsverhältnisse und eine massive Eindämmung prekärer, sozial ungeschützter Beschäftigung. Alles andere wäre die Rückkehr in das 19. Jahrhundert im modernen Gewand der Tagelöhnerei. Das können Sie als christliche Partei nicht ernsthaft wollen.
Es gibt Alternativen zu dieser Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Es ist von einem Jobwunder in Deutschland die Rede, und es heißt, dass Deutschland bisher die tiefste Wirtschafts- und Finanzkrise seit über 80 Jahren jedenfalls auf dem Arbeitsmarkt einigermaßen gut überstanden hat. Das hat im Wesentlichen mit zwei Flexibilisierungsinstrumenten zu tun: zum einen mit der zeitgemäßen Ausgestaltung der Kurzarbeit in Verbindung mit Qualifizierung und zum anderen mit dem sehr verantwortungsvollen Umgang mit Arbeitszeitkonten. Das sind Flexibilisierungsinstrumente, die sowohl dem Arbeitnehmer als auch dem Unternehmen nutzen. Angesichts des anstehenden demografischen Wandels - ein Facharbeitermangel wird vorausgesagt - wäre es grottenfalsch, hochqualifizierte Arbeitskräfte zu entlassen. Es kommt jetzt darauf an - das ist die zentrale Aufgabe der Politik in der nächsten Zeit -, dass diese bewährten internen Flexibilisierungsinstrumente so ausgestaltet werden, dass sie auch dann zur Anwendung kommen, wenn die tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise vorbei ist, und dazu beitragen, die eben genannten arbeitnehmerfeindlichen Flexibilisierungsinstrumente - Leiharbeit, zeitliche Befristung, Praktikantenunwesen usw. usf. - zurückzudrängen.
Eine weitere Bemerkung zu dem Antrag der Linken, weil ich finde, dass auch da die Auslassungen des Kollegen Wadephul von der CDU/CSU zumindest unverständlich waren. Herr Kollege Wadephul, wir wissen aus Untersuchungen, dass Frauen in Deutschland trotz gleicher oder gleichwertiger Arbeit im Durchschnitt 23 Prozent weniger verdienen als Männer. Wenn das keine gigantische Diskriminierung von Frauen ist!
Da muss der Gesetzgeber handeln. Er muss einen rechtlichen Rahmen schaffen, auf den sich Frauen, die beim Lohn diskriminiert werden, berufen können.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ottmar Schreiner (SPD):
Ich will noch einen letzten Punkt kurz ansprechen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Sie sind am Ende Ihrer Redezeit.
Ottmar Schreiner (SPD):
Wenn ich diesen Punkt angesprochen habe, ist die Redezeit zu Ende, Frau Präsidentin.
Es geht - diesen Punkt werden Sie nachher wahrscheinlich noch angreifen - um die Positionierung zu politischen Streiks. Ich will dazu ganz kurz Klaus Wiesehügel zitieren, der lange Jahre Mitglied dieses Hohen Hauses gewesen ist und Vorsitzender der IG Bauen-Agrar-Umwelt ist. Klaus Wiesehügel hat auf dem Bundeskongress seiner Gewerkschaft ausgeführt:
Es ist völlig richtig, dieses Thema innerhalb der Gewerkschaften zu diskutieren. Völlig richtig wäre aber ein Antrag an den Deutschen Gewerkschaftsbund, dafür zu kämpfen ? , dass in der Bundesrepublik Deutschland genau wie in den anderen europäischen Ländern auch der politische Streik eine Selbstverständlichkeit ist. Das wäre völlig richtig ? Wir haben 2004 mit Hunderttausenden in verschiedenen Städten - Köln, Berlin und anderen - gestanden und gegen den Sozialabbau dieser Republik demonstriert. Da ging es ja auch um eine politische Demonstration. Das war ja nicht nur ein Streik. Der Streik kann ja auch durch eine Demonstration an einem bestimmten Tag herbeigeführt werden. Es hat niemand gesagt: Das dürft ihr nicht, das ist verboten.
Ich hoffe sehr, dass das auch weiterhin gilt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Reiner Deutschmann für die FDP-Fraktion.
Reiner Deutschmann (FDP):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem großen Sündenfall von Adam und Eva begann die Vertreibung aus dem Paradies. Die Einzelheiten dieser Geschichte kennen Sie; ich muss sie wohl nicht wiederholen. Ich will mir auch nicht den Zorn der Obstproduzenten zuziehen, indem ich die Rolle des Apfels in diesem Drama näher beschreibe. Fakt bleibt: Das Paradies war verloren. Adam und Eva waren fortan gezwungen, zu arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. So weit, so biblisch.
Paradiesische Zustände scheinen die Linken im Blick zu haben.
Diesen Eindruck muss man jedenfalls gewinnen, wenn man ihren Antrag betrachtet. Allein der Titel ?Mit guter Arbeit aus der Krise? bietet eine Steilvorlage für viele philosophische Diskussionen bei toskanischem Rotwein. Von deutschem Rotwein rede ich vorsichtshalber nicht; das würden Sie wahrscheinlich wieder Klientelpolitik nennen. Aber zum Thema: Wo es gute Arbeit gibt, muss es der Logik nach zwangsläufig auch schlechte Arbeit geben. Was ist gute Arbeit? Was ist schlechte Arbeit? Wenn es nur mit guter Arbeit einen Weg aus der Krise gibt: Wer macht dann die schlechte?
Der Fraktion Die Linke reichen ein bisschen mehr als sechs Seiten, um die Formel der Arbeitswelt quasi neu zu erfinden. Man fühlt sich wie bei einem der allseits beliebten Best-of-Alben der Musikbranche: Am Ende der Rockkarriere wird noch einmal ein zünftiges Album mit allen Hits aufgelegt. Genauso lesen sich die Evergreens dieses Antrags, die Sie wie mit einem Füllhorn über uns ausgießen.
Es gibt allerdings einen Unterschied: Das waren nie Hits. Es ist also wieder einmal Bescherung bei den Linken, und das mitten im Frühling. Schade ist nur, dass sie uns wieder verschweigen, woher das Geld für diese Wohltaten kommen soll. Selbst die SED-Millionen dürften dafür nicht ausreichen.
Schauen wir uns das einmal genauer an. Wenn man Ihren Antrag liest, könnte man den Eindruck bekommen, in Deutschland herrschten katastrophale soziale Zustände, die ein Fall für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wären. Sie sprechen von Erpressung gegenüber Erwerbslosen und Beschäftigten. Sie sprechen davon, dass auf Arbeitsuchende der Zwang ausgeübt wird, Arbeitsverhältnisse auch zu schlechteren Bedingungen als vorher anzunehmen. Sie sprechen von einem Klima der Angst, das in Deutschland herrscht. In Wahrheit spielen die Linken selbst mit den durchaus vorhandenen Sorgen der Menschen.
Die Linken wollen keine Anreize für Erwerbslose, sich um Arbeit zu bemühen. Sie setzen stattdessen auf den immer weiteren Ausbau staatlicher Sozialleistungen. Sie sind gegen die geringfügige Beschäftigung, ohne zu berücksichtigen, dass Tausende Menschen in Deutschland gerade auch diese Beschäftigungsform aus ganz unterschiedlichen Motiven heraus und ganz bewusst gewählt haben, und Sie verteufeln befristete Arbeitsverhältnisse und Zeitarbeitsfirmen mit der Folge, dass die Arbeitgeber dann überhaupt nicht einstellen und viele Arbeitsuchende weiter arbeitslos bleiben würden.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Linken, es ist schon erstaunlich, wie Sie versuchen, den Eindruck zu vermitteln, der Staat unternehme nicht genug für in Not geratene Bürgerinnen und Bürger. Dabei hilft eigentlich schon ein kurzer Blick in den Haushalt 2010, um zu erkennen, dass fast die Hälfte unserer Ausgaben für Sozialausgaben aufgewendet wird.
Wir haben eines der besten Sozialsysteme der Welt. Gerade gestern hat das Kabinett noch einmal Verbesserungen zum Schutz von Arbeitsplätzen und bei den Hinzuverdienstgrenzen von Hartz-IV-Empfängern beschlossen.
Durch das Kurzarbeitergeld konnten wir in der Wirtschaftskrise den Anstieg der Arbeitslosigkeit, den andere Länder erleben mussten, vermeiden. Jetzt verlängert die christlich-liberale Koalition diese Maßnahme noch einmal bis zum 31. März 2012. Wir werden den Schülerinnen und Schülern, die in einer SGB-II-Bedarfsgemeinschaft leben, ermöglichen, durch Sommerferienjobs 1 200 Euro anrechnungsfrei hinzuzuverdienen.
Das sind nur einige unserer Maßnahmen. Wir tun etwas für die Menschen in diesem Land, statt nur leere Versprechungen zu machen. Anders als den Linken ist es uns wichtig, dass sich Leistung wieder lohnen muss, anstatt Wohltaten bedingungslos mit der Gießkanne über diesem Land auszuschütten.
Für uns ist es ganz selbstverständlich, dass jeder, der dazu in der Lage ist, seinen Beitrag für die Gemeinschaft leistet, auch, indem er sich aktiv um Arbeit bemüht, anstatt darauf zu warten, dass der Staat kommt und ihm den Arbeitsplatz vor die Tür stellt, wie die Linken es gerne hätten.
Wir leben in einer Gesellschaft, die die Bereitschaft zur Leistung noch stärker honorieren muss. Die Abkehr vom Leistungsprinzip war einer der Sargnägel für die DDR-Wirtschaft und hat zu ihrem Niedergang geführt. Diese sollte hier heute nicht unser Maßstab sein.
Ich kann es immer nur wiederholen: Solidarität ist keine Einbahnstraße. Mit nicht finanzierbaren Plänen mindern die Linken die Leistungsbereitschaft der Menschen. Sie gefährden die Solidarbereitschaft derjenigen, die die Steuereinnahmen aufbringen, die Sie so großzügig verteilen wollen. Durch die Verschärfung des Kündigungsschutzes und die Einführung eines Mindestlohnes werden keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Das Gegenteil wäre vielmehr der Fall.
Wir können nicht die Augen vor der globalisierten Welt verschließen, wir dürfen bestehende Arbeitsplätze nicht mit massiven Eingriffen in den Arbeitsmarkt gefährden, und wir können nicht mit Steuergeldern Millionen neuer Arbeitsplätze an der Realität vorbei schaffen. Die paradiesische Arbeitswelt, die die Linken den Menschen vorgaukelt, ist ein einziges ?Wünsch dir was?.
Dagegen sind die Märchen der Gebrüder Grimm ein reines Sachbuch.
Deshalb sagen wir ein klares Nein zur Umverteilungspolitik der Linken, die auch in diesem vorliegenden Antrag wieder zum Ausdruck kommt. Das ist kein Konzept, mit dem man unser Land zukunftstauglich aus der Krise führen kann.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke das Wort.
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Wandel in der Erwerbsarbeit ist unübersehbar, und der Trend ist eindeutig. Die Vollzeitbeschäftigung nimmt ab, und sowohl die atypische als auch die prekäre Beschäftigung nimmt zu. In der Folge reichen die Angst und die Unsicherheit vor sozialem Abstieg bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft.
Die FDP und Teile der CDU/CSU wollen den Niedriglohnsektor dennoch noch weiter ausbauen.
Argumentiert wird ja wieder mit den Arbeitsplätzen. Ob die Beschäftigten von ihrem Lohn leben können oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Parallel gibt es ja auch noch die unsägliche Sozialstaatsdebatte der FDP. Die Ärmsten werden gegen die Armen ausgespielt. Dieser Weg kann nicht funktionieren, ohne den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft aufs Spiel zu setzen.
Das Thema heute ist also richtig und wichtig. Was macht die Linke? Sie legen ein als Antrag getarntes Positionspapier mit einem wilden Sammelsurium an radikalen Forderungen aus Ihrem Programm vor.
Dazu kann ich nur sagen: Die NRW-Wahl lässt grüßen.
Mit diesem Antrag versprechen Sie ein Märchenland, das es so nicht geben wird und das auch linksorientierte Bürgerinnen und Bürger so nicht wollen. Wir brauchen eine verlässliche sozialökologische Marktwirtschaft.
Ich finde, Sie gaukeln den Menschen etwas vor. Das macht mich wütend; denn ich nehme das Thema wirklich ernst.
So werden Sie ihm nicht gerecht.
Wir Grünen wollen Fairness in der Arbeitswelt und treten im Interesse der Beschäftigten für gerechte Löhne und gute Arbeitsbedingungen ein. In diesem Sinne gibt es in Ihrem Antrag viele Forderungen, die berechtigt sind und die wir auch unterstützen. Wir fordern eine stärkere Regulierung der Leiharbeit, damit die Schleckerisierung in unserer Arbeitswelt ein Ende hat. Wir wollen Mindestlöhne und eine Entfristung der Beschäftigung. Wir halten am Kündigungsschutz fest und wollen eine echte Mitbestimmung. Wir fordern die Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen.
Genau bei diesen Themen sehe ich sehr starken Handlungsbedarf.
Ich finde, die Linke überzieht aber viele wichtige Forderungen. Damit werden Sie die Regierung nicht in Bedrängnis bringen. Sie differenzieren auch nicht. Beispielsweise reden Sie immer von ?der Wirtschaft?. Damit werden Sie vielen Betrieben und vor allem dem Handwerk nicht gerecht.
Dort gibt es durchaus gute Arbeit. Die Probleme liegen häufig woanders.
Teilweise fehlt ein Konzept. Beispielsweise sollen die Minijobs nicht mehr subventioniert werden. Das fordern wir auch. Wir haben aber ein Konzept dafür, nämlich unser Progressivmodell.
In Ihrem Antrag werden einfach alle möglichen Forderungen aneinandergereiht. Ich finde das schwach. Ich habe einen höheren Anspruch an unsere parlamentarische Arbeit.
An einer anderen Stelle sind Sie übrigens ziemlich unehrlich, und zwar bei den Zumutbarkeitskriterien. Leider schaffen Sie es nicht, Tacheles zu reden. Statt eine Arbeitsvermittlung auf freiwilliger Basis zu fordern, schrauben Sie die Hürden derart hoch, dass eine auf Zwang beruhende Arbeitsvermittlung quasi unmöglich wird.
Fordern Sie doch einfach das Sanktionsmoratorium! Das fordern etliche Abgeordnete, darunter auch ich, ebenso wie die Initiative für ein Sanktionsmoratorium.
Das wäre ein klares und eindeutiges Zeichen an die Regierung, wenn die Opposition gemeinsam Verschärfungen bei den Sanktionen kritisiert und Veränderungen anmahnt.
Nun komme ich zu den Punkten in Ihrem Antrag, die ich durchaus als populistisch bezeichnen kann. Sie wollen die paritätische Unternehmensmitbestimmung auf alle Unternehmen ab 100 Beschäftigte ausdehnen und fordern, dass bei erheblichen Entscheidungen auch zwei Drittel des Aufsichtsrates zustimmen müssen. Mit dieser Forderung schießen Sie über das Ziel hinaus. Würden Ihre Forderungen umgesetzt, befände sich die Bundesrepublik im Stillstand. Unternehmerische Entscheidungen wären dann nicht mehr möglich.
Sie können mir glauben, dass ich hinter der Mitbestimmung stehe und noch mehr echte Mitbestimmung fordere. Sie sollte aber konstruktiv sein. Mir geht es um gleiche Augenhöhe und um den Interessenausgleich zwischen den Beschäftigten und den Unternehmen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Frau Kollegin Kipping möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie sie?
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja.
Katja Kipping (DIE LINKE):
Liebe Kollegin, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie Ihre Redezeit genutzt haben, um auf das Bündnis für ein Sanktionsmoratorium hinzuweisen und darüber zu informieren. Vor dem Hintergrund, dass mit dem Verweis auf das Bündnis ein bisschen der Eindruck erweckt wird, als ob ein Gegensatz zwischen dem Bündnis und unserem Antrag bestünde, frage ich Sie, ob Ihnen bekannt ist, dass sich die Linke bereits in einem früheren Antrag konkret für die Streichung des Sanktionsparagrafen ausgesprochen hat und dass wir alle unsere Vorschläge zu guter Arbeit nicht als Gegenmaßnahme zu dem Sanktionsmoratorium verstehen, sondern dass es im Gegenteil Hand in Hand geht? Denn alle unsere Vorschläge für gute Arbeit erfordern, dass die Erpressbarkeit von Erwerbslosen ein Ende hat. Darauf wollte ich an dieser Stelle gerne hinweisen.
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Kollegin Kipping, als ich Ihren Antrag und den Absatz über die Zumutbarkeitskriterien gelesen habe, habe ich mich gewundert. Es ist wirklich ein Herumeiern.
- Ja, aber ich finde es trotzdem unehrlich, wenn man herumeiert und über Zumutbarkeitskriterien redet, wenn man die Abschaffung der Sanktionen oder zusammen mit der bereits erwähnten Initiative ein Sanktionsmoratorium fordern kann. Dann braucht man Ihre ganzen anderen Forderungen einfach nicht. Eine Arbeitsvermittlung, die auf Freiwilligkeit beruht, reicht aus, und man muss keine anderen Forderungen stellen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Die Kollegin möchte erneut nachfragen. - Sie erlauben es? - Frau Kipping.
Katja Kipping (DIE LINKE):
Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass Sie sich jetzt auch für die komplette Abschaffung der Sanktionen aussprechen. Wie Sie wissen, ist dies noch nicht einmal bei den Grünen eine mehrheitlich vertretene Position. Die Linke ist bisher die einzige Fraktion, die sich eindeutig für die Abschaffung der Sanktionen ausgesprochen hat. Insofern halte ich es schon für sehr angemessen, dass man sich über weitere Zumutbarkeitskriterien vor dem Hintergrund verständigt, dass man auch Teilschritte auf dem Weg dahin braucht, bis der Sanktionsparagraf abgeschafft sein wird. Daher frage ich Sie, ob Ihnen bewusst ist, dass es Sanktionen nicht nur im SGB II gibt, sondern auch im SGB III - das heißt dann Sperrzeiten -, und dass es auch für diesen Bereich sehr sinnvoll ist, dass es geregelte Zumutbarkeitskriterien gibt.
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich muss noch einmal sagen, dass in dem Wahlprogramm der Grünen durchaus steht, dass wir ein Sanktionsmoratorium haben wollen und dass die Vermittlung in Arbeit bzw. in Maßnahmen natürlich den Wünschen, Fähigkeiten und Interessen der Menschen entsprechen soll. Von daher sind Sie nicht die einzige Partei, sondern es steht auch in unserem Wahlprogramm.
- Wie bitte?
- Okay, machen Sie das.
Ich komme nun zu Ihrer Forderung nach politischem Streik. Dazu hat Kollege Schreiner schon etliches gesagt. Für das Land Berlin, in dem Sie ja an der Regierung beteiligt sind, wäre ein solches Streikrecht natürlich schon eine Katastrophe. Auch Sie haben etliche unpopuläre Dinge durchgedrückt, sodass politische Streiks gerechtfertigt gewesen wären. Ich kann hier nur Kollege Schreiner unterstützen: Wir können jederzeit streiken und politische Demonstrationen machen. Daher braucht man so etwas in einem solchen Antrag nicht zu fordern.
Positiv in Ihrem Antrag ist aber, dass Sie wieder einmal gesetzliche bzw. branchenspezifische Mindestlöhne fordern. Wir wollen sie ja auch. Als sich Ihre Partei noch in den Kinderschuhen befand, haben wir schon einen gesetzlichen Mindestlohn gefordert. Ich kritisiere aber, dass Sie alle, auch die Gewerkschaften, mit der Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro überbieten. Nehmen Sie doch endlich zur Kenntnis, dass wir uns nicht in einem Wettrennen um den höchsten Mindestlohn befinden. Viel wichtiger wäre es, dass wir alle gemeinsam an einem Strang ziehen, weil dieses Thema momentan das wichtigste ist.
In Richtung Regierungsfraktionen sage ich: Stellen Sie sich endlich dem Thema Mindestlohn. Alle Menschen haben das Recht, dass sie für ihre Arbeit gerecht und fair entlohnt werden.
Ein letzter Punkt in Richtung der Linken ist mir jetzt noch wichtig: Sie gaukeln den Menschen vor, dass Sie in der Lage seien, schnell mal 2 Millionen Arbeitsplätze zu installieren. Wie Sie das schaffen und finanzieren wollen, sagen Sie aber nicht. Ich halte dies für unredlich, zumal Sie mit den Emotionen der Menschen spielen, die sich natürlich so schnell wie möglich einen sicheren und gut bezahlten Arbeitsplatz wünschen. Vor allem zeigt es einmal mehr, dass Sie das mit den Arbeitsplätzen nicht richtig verstanden haben, wie im Übrigen die Regierungsfraktionen auch. Sie versprechen die 2 Millionen Arbeitsplätze, aber Sie verbinden dies nicht mit Ihrem Spiegelstrich i). Hier fordern Sie zwar einen ökologischen Umbau der Wirtschaft, aber Sie führen nicht aus, dass überall im Land neue Arbeitsplätze geschaffen können, wenn man den Energiebedarf ausschließlich aus erneuerbaren Energien deckt und auf Atomkraft und Kohle verzichtet. Vielleicht sollten Sie endlich einmal innerhalb Ihrer Partei die Kohlediskussion führen.
Ich komme zum Schluss und appelliere an die Regierungsfraktionen: Denken Sie endlich an die Beschäftigten, denken Sie endlich an die soziale Balance in unserer Gesellschaft, und beschäftigen Sie sich endlich ernsthaft mit dem Thema ?gute Arbeit?.
In Richtung der Linken kann ich nur noch einmal sagen: Mich ärgert dieser Antrag; das haben Sie sehr wahrscheinlich auch gemerkt.
Mir ist dieses Thema wirklich wichtig. Ihr Antrag ist für mich zu überzogen; damit macht er dieses Thema kaputt. Es darf nicht nur um Profilierung gehen, und es macht auch keinen Sinn, einen Wettbewerb in allen Bereichen zu veranstalten. Vielmehr sollten wir gemeinsam diese wichtigen Themen aufgreifen und uns hier in diesem Hause ernsthaft mit dem Thema ?gute Arbeit? auseinandersetzen, und zwar im Interesse der Menschen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun die Kollegin Mechthild Heil für die CDU/CSU-Fraktion.
Mechthild Heil (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dem Antrag der Linken ?Mit guter Arbeit aus der Krise? trügt schon die Überschrift. Sie müsste eigentlich heißen: Mit primitivem Opportunismus immer weiter in die Krise.
Glauben Sie, dass das Volk das nicht merkt? Wenn sich der Sozialismus nicht offen zeigt, dann zieht er im Kleid des Neides durch die Gesellschaft.
Unter dem Punkt ?Zumutbarkeit verbessern, Qualität von Arbeit in den Mittelpunkt rücken? fordern Sie zum Beispiel, politische und religiöse Gewissensfreiheit müsste gewährleistet werden. Ein Blick in das Grundgesetz würde Ihnen diesbezüglich sicherlich Auskunft geben. Daran sehen Sie, dass Ihr Antrag rein populistisch ist. Es gibt keine Forderung von Ihnen, ohne dass Sie vorher in den dunkelsten Farben ausmalen, in welch schlechtem Zustand sich unser Land und der Arbeitsmarkt vermeintlich befinden. Ihr Blick auf die Welt ist grau in grau vernebelt. Das mag in Berlin so sein, wo Sie mitregieren.
Aber die Realität ist anders. Unser Konzept der Kurzarbeit ist zwischenzeitlich ein Exportschlager. Die Menschen im Betrieb können sofort durchstarten, wenn die Konjunktur anspringt. Das führt zu wirklich guter Arbeit.
Sie von der Linken beziehen sich heute auf Angaben des Statistischen Bundesamts, wonach die Reallöhne um 0,4 Prozent gesunken sind. Keine Frage, die Zahl stimmt. Sie ist korrekt. Die Verdienstentwicklung in 2009 hat unter dem Einfluss der Weltwirtschafts- und Finanzkrise gelitten. Ja, das ist in Ordnung. Nicht in Ordnung sind aber die Schlüsse, die Sie daraus ziehen. Sie verschweigen, dass die Statistiker festgestellt haben, der Rückgang um 0,4 Prozent bei den Reallöhnen hänge vor allem von den starken Einbrüchen bei den Sonderzahlungen ab. Besonders hohe Verluste bei Sonderzahlungen mussten zum Beispiel Beschäftigte des Bankensektors, der Versicherungen oder der Automobilindustrie hinnehmen. Die ganze Wahrheit ist also: Die Grundvergütungen, also die Bruttoverdienste ohne die Sonderzulagen, sind letztes Jahr sogar um 1,2 Prozentpunkte gestiegen. Es ist traurig, dass Sie nicht die Kraft haben, das positiv zu kommentieren.
Einen weiteren Zusammenhang verschweigen Sie. Der Rückgang der Reallöhne um 0,4 Prozent liegt neben dem Einbruch bei den Sonderzahlungen für Banker vor allem an der Kurzarbeit. Sie drückt den statistischen Schnitt, weil nur der reduzierte Lohn in dieser Statistik erfasst wird, nicht aber das gesamte tatsächliche Einkommen der von Kurzarbeit Betroffenen. Also: Die Reallöhne sanken geringfügig um 0,4 Prozent, weil hier das allseits für gut befundene Mittel des Kurzarbeitergeldes statistisch durchschlägt, aber die Grundvergütung stieg um 1,2 Prozent. Ihre Methoden der Verdrehungen haben Väter, von denen Deutschland mit dem Abriss der Mauer befreit wurde.
Ich finde es unerträglich, dass Sie keine Verantwortung für die unterschiedlichen Gruppen in unserer Gesellschaft übernehmen. Sie säen Misstrauen und Hass unter den verschiedenen sozialen Gruppen. Sie ziehen falsche Schlüsse und blenden einen Teil der Wahrheit aus.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer stehen für Sie unversöhnlich gegeneinander. Meine Wirklichkeit ist da wirklich eine andere.
- Herr Ernst hat schon genug für Sie geschrien. - Vielleicht empfinde ich dies nicht so sehr als Gegensätze, weil ich in meinem Leben schon sowohl auf der Arbeitgeber- als auch auf der Arbeitnehmerseite gestanden habe.
Sie schreiben weiter in Ihrem Antrag, dass nur 12 Prozent der Beschäftigten ihre Arbeit als eine gute Arbeit bezeichnen. 55 Prozent bezeichneten ihre Arbeit als mittelmäßig und 33 Prozent sogar als schlecht. Ich kenne diese Zahlen; sie stammen aus dem ersten Quartal 2009. Ich kenne aber auch den aktuellen Arbeitsmarktindex des Emnid-Instituts. Die Daten wurden ganz aktuell, im Januar und Februar dieses Jahres, erhoben, und sie sprechen eine ganz andere Sprache: Die Befragten fühlen sich an ihrem Arbeitsplatz wohl. Der ermittelte Zufriedenheitsindex von 7,5 ist ein guter Wert. Er ist zuletzt sogar gestiegen, zum ersten Mal seit 2008 - trotz der von Ihnen als ?katastrophal? bezeichneten Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Mein Fazit: Sie haben das Ohr nicht bei unseren Arbeitnehmern, sondern frönen ideologischer Fiktion.
Bemerkenswert finde ich insbesondere, dass diejenigen, die am wenigsten in der von Ihnen geforderten Weise vom Staat abgesichert werden, also die Selbstständigen, die Freiberufler oder die Landwirte, mit einem Wert von 8,6 ganz besonders zufrieden sind. Auch das passt nicht in Ihr Weltbild; ich weiß.
Sie sollten einmal über Folgendes nachdenken: Auf dem Höhepunkt der Krise gingen einige Experten sogar von einem Anstieg der Arbeitslosenzahl auf 4,5 Millionen aus. Dies hat sich nicht bewahrheitet, zum Glück. Die Forschungsinstitute gehen für dieses Jahr von 3,4 bis 3,5 Millionen Erwerbslosen aus. Das wäre ungefähr das Niveau des vergangenen Jahres. Das sind immer noch viel zu viele Arbeitslose. Um jeden einzelnen wollen und müssen wir uns kümmern. Das ist Teil unseres christlich-liberalen Selbstverständnisses.
Wir sind durch die Krise noch nicht durch. Wir als Regierungskoalition verschließen nicht die Augen vor der Realität. Wir sind uns der demografischen Herausforderung bewusst. Wir wissen, dass ein Schlüssel zur positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt darin liegt, wie es uns gelingen wird, Ältere länger in das Arbeitsleben zu integrieren, Alleinerziehenden einen besseren Zugang zur Arbeit zu ermöglichen und Menschen mit Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wir führen so die Menschen zum Einstieg in gute Arbeit. Schreiben Sie weiter Anträge voller Textbausteine. Wir packen die Probleme an.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Josip Juratovic für die SPD-Fraktion.
Josip Juratovic (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Unsere Gesellschaft befindet sich in einer Krise, und das ist eine viel tiefere Krise als nur eine Wirtschafts- und Finanzkrise. Wir befinden uns in einer tiefgreifenden Gesellschaftskrise. Die Menschen haben den Wunsch nach Zielen und Orientierung. Das spiegelt sich wider in Familien, in der Freizeit und in der Arbeitswelt. Das Fundament der fortschrittlichen Entwicklung unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft waren lange Jahre unsere Werte und Tugenden. Wir fuhren auf der Hauptstraße der Werte und Tugenden. Von dieser Hauptstraße des Erfolgs sind wir irgendwann rechts in eine Sackgasse abgebogen.
Diese Sackgasse heißt: reine Wachstumslogik.
Wenn wir uns einmal anschauen, wie unsere heutige Wirtschaft funktioniert, wird diese Sackgasse deutlich: Unsere Wirtschaft ist gekennzeichnet vom Kampf um die Eroberung der Märkte und von einem knallharten Wettbewerb, der nicht auf Innovation, sondern auf Produktionskostensenkung beruht. Es gibt vor allem zwei betriebswirtschaftliche Herangehensweisen, wie die Kosten zu senken sind:
Erstens. Es bestehen komplizierte Zusammenhänge zwischen dem Stammunternehmen, den Zulieferern, Subunternehmen und Auslandsverlagerungen der Firmen. Das ist die sogenannte Mischkalkulation. Es wird großer Druck aufgebaut, und von jedem Teil dieses Systems werden Kostensenkungen erwartet.
Zweitens. Die Arbeit in diesen Unternehmen ist geprägt durch eine Leistungsverdichtung an jedem Arbeitsplatz sowie durch Leiharbeit, Befristungen und Minijobs.
Der übertriebene Wettbewerb wird auf die Arbeitnehmer übertragen. Alle leiden unter der Leistungsverdichtung, auch ältere Arbeitnehmer müssen oft olympiareife Leistungen vollbringen. Daher haben wir bei den Arbeitnehmern, aber auch bei den Arbeitgebern eine steigende Unzufriedenheit, eine Entsolidarisierung und eine steigende Zahl psychischer Erkrankungen. In den Betrieben ist nur noch Platz für die Menschen, die bei der Leistungsoptimierung mithalten können. Menschen, die diese Normen nicht erfüllen können, fallen hinten runter oder erhalten einen Armutslohn.
Zum Schluss werden die von den Arbeitnehmern mühsam erwirtschafteten Gewinne, die durch die Leistungsverdichtung eingefahren werden, auf dem Finanzmarkt Spekulationen ausgesetzt und vernichtet.
Unsere heutige Wirtschaft ist durch dieses System rein wachstums- und gewinnorientiert. Das geht völlig an den Bedürfnissen der Menschen vorbei.
Wenn ich mich mit den Menschen in meinem Wahlkreis unterhalte, dann spüre ich eine tiefe Ratlosigkeit. Zahlreiche Menschen, die Probleme mit ihrer Arbeit haben, kommen in meine Sprechstunden. Zu mir kommen Familienväter, die es entwürdigend finden, dass sie, obwohl sie Vollzeit arbeiten, Probleme haben, ihren Kindern die Teilnahme an einer Klassenreise zu ermöglichen. Zu mir kommen alleinerziehende Mütter, die so viel es geht arbeiten und nebenher ihre Kinder betreuen. Sie erzählen mir, wie schwierig es ist, als junge Mutter überhaupt einen Arbeitsplatz zu bekommen. Ich unterhalte mich mit den Hauptschülern, die zahlreiche Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz abschicken. Sie zeigen ein hohes Maß an Engagement und kümmern sich um ihre Zukunft. Trotzdem flattern immer nur Absagen ins Haus, wenn sie überhaupt eine Antwort bekommen.
Die Menschen haben die Orientierung verloren. Niemand weiß, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt. Niemand weiß, wie unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem in zwei, in fünf oder in zehn Jahren aussieht. Die Menschen interessieren sich nicht nur für das Hier und Jetzt, sondern vor allem für die entscheidende Frage: Wie geht es weiter? Wie kommen wir aus dieser Sackgasse wieder heraus?
Meine Kolleginnen und Kollegen, es wird zwar fraktionsübergreifend gesagt, dass es nach der Krise kein ?Weiter so? geben darf. In den Sonntagsreden sprechen alle von Ethik in der Wirtschaft. Leider finden unsere Sitzungen nicht sonntags, sondern donnerstags oder freitags statt, und unter der Woche zählen die schönen Reden vom Sonntag, die man allerorten hört, leider nicht viel.
Wir müssen eine Antwort auf die Frage finden, wie wir aus dieser Sackgasse herauskommen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land wieder wissen, wohin die Reise geht. Derzeit suchen wir den Ausweg am Ende der Sackgasse. Aus der Sackgasse kommen wir aber nicht vorwärts heraus. Wir müssen umdrehen, um zurück auf die Hauptstraße der Werte und Tugenden zu kommen. Wir müssen Einsicht üben: Ein Schritt zurück von der Wachstumslogik ist kein Rückschritt! Er bietet vielmehr die Grundlage dafür, danach wieder volle Fahrt aufzunehmen und dabei alle in unserer Gesellschaft mitzunehmen.
Eine neue Kultur des Anstands in der Arbeitswelt, eine Ethik in der Wirtschaft, hilft allen. Sie hilft nicht nur den Arbeitnehmern, sondern auch vielen, vor allem kleinen und mittleren Unternehmen in unserem Land, die sich dem System der Kostensenkung und der Leistungsoptimierung nicht beugen wollen. Diese anständigen Unternehmer haben recht. Wir müssen sie darin unterstützen, wir müssen zu ihrem Schutz in diesem knallharten Wettbewerb die für sie richtigen Rahmenbedingungen schaffen.
In der gesamten Diskussion müssen wir weiter denken als in unseren bisherigen Debatten. Wir müssen über den Gegensatz zwischen Gewinnmaximierung und Umverteilung hinausdenken. Wir brauchen ein neues Konzept, in dem die Lebensqualität an erster Stelle steht und bei dem diejenigen, die Arbeit verrichten, an der Wertschöpfung beteiligt werden. Faire Arbeitsbedingungen müssen Grundlage unseres Wirtschaftserfolges sein und nicht Lohndrückerei und Spekulationen.
Eine neue Ethik und Qualität in der Wirtschaft schaffen wir Politiker nicht alleine. Dazu brauchen wir unsere ganze Gesellschaft. Wir müssen gemeinsam mit Gewerkschaften und Unternehmen, Kirchen und vielen weiteren Menschen aus der Gesellschaft zusammenkommen. Wir müssen unseren Anspruch und unser Verhalten grundlegend auf den Prüfstand stellen mit dem Ziel, wieder eine gemeinsame Orientierung und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen. Deswegen brauchen wir Einrichtungen wie die Fortschritts-Enquete-Kommission, die SPD und Grüne diese Woche vorgestellt haben. Eine solche Kommission dient uns als Stadtplan, den wir in die Hand nehmen, um den Weg aus der Sackgasse zu finden.
Wir beraten hier den Antrag der Linken: ?Mit guter Arbeit aus der Krise?. Meine Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das, was Sie mit diesem Antrag vorlegen, zeugt nicht davon, dass Sie tatsächlich verstanden haben, wo die gegenwärtigen Probleme liegen.
Sie verharren beim Gegensatz von Umverteilung und Gewinnmaximierung. Mit Ihren geballten Forderungen zeigen Sie keinen Ausweg aus der Sackgasse auf. Ich frage mich bei Ihrem Antrag: Wollen Sie dabei helfen, ein Zukunftskonzept mit gesellschaftlicher Tragfähigkeit zu schaffen, oder wollen Sie diesen Antrag kurz vor dem 1. Mai nur einbringen, um dafür billigen Applaus zu bekommen?
Wir müssen den Menschen in unserem Land nicht nur am 1. Mai zeigen: Wir nehmen ihre Sorgen und Probleme ernst. Wir müssen ihnen zeigen, welchen Weg wir in unsere gemeinsame Zukunft gehen wollen: einen Weg, der uns aus der Krise herausführt und ein lebenswertes Leben für alle ermöglicht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun der Kollege Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
Pascal Kober (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast auf den Tag genau vor einem Jahr, am 23. April 2009, haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, einen Antrag in den Deutschen Bundestag mit dem vielversprechenden Titel eingebracht: ?Gute Arbeit - Gutes Leben?. Auch wenn Sie in Ihrem heutigen Antrag mit der Formulierung Ihres Titels nicht mehr ganz so anmaßend auftreten, als könne die Politik ein gutes Leben garantieren, haben Sie sich inhaltlich überhaupt nicht fortentwickelt. Nüchternen und sachlich gebotenen Realismus sucht man in Ihrem Antrag vergeblich. Der Titel mag sich geändert haben, der Geist ist bedauerlicherweise noch immer derselbe.
Der Duktus Ihrer Analyse der Wirtschafts- und Arbeitsmarktsituation in Ihrem Antrag - darauf haben sogar Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsparteien hingewiesen - zielt allein darauf ab, ein Zerrbild der Wirklichkeit zu formulieren und die Menschen zu verunsichern. Wenn Sie, lieber Herr Ernst, von einem erdrutschartigen Einbruch bei der Lohnhöhe durch Hartz IV sprechen, konstruieren Sie ein Zerrbild der Wirklichkeit, das allein darauf abzielt, die Menschen zu verunsichern.
Meiner Auffassung nach aber steht Politik in der Verantwortung, Probleme nüchtern zu benennen, die Ursachen zu klären, den Menschen Probleme zu erklären und Lösungen für Probleme zu suchen, die Menschen auf Herausforderungen vorzubereiten und ihnen Mut für die Zukunft zu machen. Verunsicherung und Angstpädagogik sind nicht der Stil einer verantwortungsvollen Politik.
Inhaltlich, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, versprechen Sie den Menschen wieder einmal das Blaue vom Himmel. Darauf im Einzelnen einzugehen, dafür fehlt an dieser Stelle leider die Zeit. Aber auf einer grundsätzlichen und allgemeinen Ebene möchte ich doch einige Anmerkungen machen, damit die unterschiedliche Geisteshaltung zwischen Ihnen und dieser christlich-liberalen Koalition deutlich wird.
Im Kern beruhen all Ihre Forderungen auf der Idee eines Idealarbeitsverhältnisses: angestellt, gewerkschaftlich organisiert, sozialversicherungspflichtig, hoch entlohnt. Dass das erstrebenswert ist, ist auch für uns keine Frage, wobei wir die selbstständige und unternehmerische Tätigkeit in keiner Weise geringschätzen. Der Unterschied zwischen uns und Ihnen ist: Wir wissen, dass diese Arbeitsverhältnisse am effektivsten und stabilsten im System der sozialen Marktwirtschaft entstehen und glücklicherweise für die überwiegende Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegenwärtig Wirklichkeit sind, ganz egal, was Sie dagegen sagen. Sie versuchen - das ist ein weiterer Unterschied -, diese Arbeitsverhältnisse per Gesetz festzulegen. Dabei übersehen Sie, dass Sie zugleich um diese Arbeitsverhältnisse herum eine Mauer errichten, die gerade für diejenigen, die draußen sind, die keine Arbeit haben, also die Arbeitslosen, unüberwindbar ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, was wir aber brauchen, um auch denjenigen Menschen gerecht zu werden, die einen Arbeitsplatz suchen, sind stabile und gangbare Brücken in den Arbeitsmarkt. Wir als christlich-liberale Regierungskoalition wollen diese gangbaren und stabilen Brücken für diese Menschen bauen. Wir werden verhindern, dass Langzeitarbeitslose dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt heraus gehalten werden. Das wäre nämlich die Konsequenz aus den Forderungen Ihres Antrages.
Ich möchte aus Zeitgründen nur ein Beispiel für das herausgreifen, was Sie in Ihrem Antrag formulieren. Sie fordern,
dass Eltern von Kindern unter zwölf Jahren auf Verlangen von Schichtarbeit befreit werden können, ohne dass der Arbeitgeber dagegen betriebliche Gründe geltend machen kann.
Auch hier ist deutlich zu erkennen, dass Sie die Folgen Ihrer Politik nicht im Blick haben. Wäre es denn dann nicht so, dass Unternehmen, in denen in Schichten gearbeitet wird, weniger oder keine Arbeitnehmer mit Kindern mehr einstellen würden? Ist das Ihr Ziel?
Ihren Lösungsvorschlag auf dieses Problem kann ich mir leicht vorstellen: Er wäre bestimmt, eine Quote von Beschäftigten mit Kindern festzulegen, die die Unternehmen dann erfüllen müssten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, es ist doch bemerkenswert - das sollte zum Nachdenken anregen -, dass gerade in denjenigen Bundesländern die Anzahl an Arbeitsplätzen und an Ausbildungsplätzen am höchsten ist, wo man sich am hartnäckigsten einer solchen Politik, wie Sie sie hier vorschlagen, enthalten hat.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst? - Das Wort hat der Kollege Ernst.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Herr Kollege Kober, vielleicht freuen Sie sich über die Verlängerung Ihrer Redezeit. - Menschen mit kleinen Kindern fällt es schwerer, ihre Kinder vernünftig zu betreuen, wenn beide Elternteile in Schichtarbeit eingesetzt werden. Sie haben aber Folgendes gesagt: Wenn diese Menschen das Recht hätten, vorübergehend aus der Schichtarbeit auszusteigen, dann würde das dazu führen, dass sie von Betrieben im Schichtbetrieb nicht mehr eingestellt würden. Glauben Sie tatsächlich, dass Menschen auf Kinder gänzlich verzichten würden, nur um eingestellt zu werden? Oder glauben Sie nicht, dass die Arbeitgeber, wenn wir eine solche Regelung hätten, gezwungen wären, Eltern mit Kindern einzustellen, weil es sonst keine anderen Bewerber mehr gibt?
Ich muss Ihnen auch noch diese Frage stellen: Was ist denn das für eine Herangehensweise, wenn man nicht akzeptiert, dass es gerade Eltern, die sich in Schichtarbeit befinden, massiv erschwert wird, ihre Kindererziehung vernünftig zu organisieren und Familie und Beruf zu verbinden? Sind Sie tatsächlich der Auffassung, dass man dies dem freien Spiel der Kräfte überlassen sollte, was dazu führen würde, dass viele Menschen auf Kinder verzichten? Es gibt doch schon jetzt einen Geburtenrückgang, weil es sich Menschen unter diesen Voraussetzungen organisatorisch und finanziell nicht mehr leisten können, Kinder zu haben.
Pascal Kober (FDP):
Lieber Herr Ernst, ich glaube vor allen Dingen, dass wir die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf verbessern müssen. Wir können als Gesetzgeber und als Politiker auf allen Ebenen etwas dafür tun, die Betreuung von Kindern zu verbessern.
Wenn die Forderung aus Ihrem Antrag per Gesetz umgesetzt würde, dann würde es dazu führen, dass sich Unternehmen bei der Einstellung von Menschen mit Kindern zurückhalten würden. Damit würde auf die Menschen ein zusätzlicher Druck ausgeübt werden, keine Kinder mehr zu bekommen. Deshalb glaube ich, dass diese Forderung in der Tat nicht richtig ist. Deshalb wehre ich mich dagegen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Ulrich Lange.
Ulrich Lange (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Schreiner, ich muss Ihnen zum ersten Mal recht geben - aber nur in folgendem Punkt -: Worüber wir heute diskutieren, ist ein unseriöses Sammelsurium.
Dies ist eine Tatsache. Wir haben es gehört: Dies ist populistisch der NRW-Wahl geschuldet. Der vorliegende Antrag ist eine Verkürzung des sogenannten Parteiprogramms der Linken, besser ausgedrückt und zusammengefasst unter dem Stichwort: Lafontaine?sches Manifest.
Er ist zum Glück bloße Theorie. Würde Ernst daraus, würden wir ihn umsetzen, wir hätten eine beispiellose Rezession in Deutschland. Es gäbe sehr viele Arbeitslose mehr, und Sie hätten Probleme, sie zu zählen. Das muss man ganz deutlich sagen.
Wenn diese Bundesregierung - ich nehme die Vorgängerregierung hinzu - etwas bewiesen hat, dann ist es das, dass wir seit Beginn der Krise erfolgreiche Arbeitsmarktstrategien gefunden haben. Wir hatten in der Spitze fast 5 Millionen Arbeitslose und liegen jetzt trotz Krise aufgrund der eingeführten Mechanismen bei circa 3,5 Millionen.
- Herr Ernst, jetzt bin ich an der Reihe. Sie haben heute genug gebrüllt. Jetzt darf ich das.
- Das werden wir schon sehen.
Ihr Antrag ist letztlich nichts anderes als eine Jobvernichtung. Die Konjunkturlokomotive Deutschland in Europa würde zum Bremser. Nachdem Sie mit Ihrer letzten Wahlkampfparole ?Reichtum für alle? bei der Bundestagswahl gescheitert sind, versuchen Sie es jetzt mit einem neuen Antrag. Herr Ernst, Kollegen von der Linken, die Bevölkerung ist viel zu intelligent, um auf diese Thesen hereinzufallen und zu glauben, dass man in Deutschland damit wirklich weiterkommt.
- Wir werden sehen, worauf es am 9. Mai hinausläuft. Ich bin mir sicher, dass die christlich-liberale Koalition in Nordrhein-Westfalen ein gutes Ergebnis erhalten und weiterregieren wird, damit wir die Krise erfolgreich meistern können.
Lassen Sie mich noch zu einigen Punkten in Ihrem Antrag etwas sagen. Im vorliegenden Antrag sehen Sie letztlich vor, die Zeitarbeit zu beenden.
- Dann geben Sie es endlich zu und schreiben Sie nicht irgendetwas von Equal Pay usw. Sagen Sie einfach, dass Sie sie beenden wollen. - Sie ignorieren den 11. AÜG-Bericht. Sie ignorieren den Bericht der Bundesagentur, in dem dargelegt wurde, dass Zeitarbeit inzwischen ein erheblicher Faktor ist. Über deren Brückenfunktion und die damit verbundene Flexibilisierung haben wir in diesem Hause schon mehrfach gesprochen.
Zu Ihrer Forderung eines Kündigungsschutzes für alle. Populistischer geht es nicht mehr. Ihnen sollte klar sein, dass Sie damit gerade kleinen Familienbetrieben bzw. Handwerksbetrieben jeglichen Handlungsspielraum nehmen. Das ist das Ende solcher Betriebe. Ich kann nur sagen: Sie wollen das wohl so. Diese Forderung ist schlicht und ergreifend nicht realistisch.
Zu Ihrer Forderung eines Mindestlohns. Über die Höhe rede ich gar nicht. Nehmen wir uns ein Beispiel am Pflegedienst. Dies ist eine Sache der Tarifparteien.
Sie wollen die Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden begrenzen. Wir haben ein sehr gutes Arbeitszeitgesetz. Weniger Flexibilität bei der Arbeitszeit können wir uns mit Sicherheit nicht leisten.
Sie schreiben in Ihrem Parteiprogramm, dass Sie am Ende eine Wochenarbeitszeit von 30 Stunden bei vollem Lohnausgleich wollen. Wie soll das funktionieren? Ich sage ganz offen: Das ist unseriös.
Zur sachgrundlosen Befristung. Ich habe heute eines gelernt: Die sachgrundlose Befristung hängt mit Fortpflanzung zusammen. Über dieses Wort, Herr Ernst, bin ich ein bisschen erschrocken. Ich freue mich jeden Tag an meinen Kindern. Ich empfinde sie nicht als Fortpflanzung, sondern als ein ganz großes Glück; das muss ich Ihnen in dieser Deutlichkeit sagen.
Wenn man Kinder nur in einen finanziellen Kontext stellt, dann zeigt das - -
- Ich lasse keine Zwischenfrage zu, auch wenn Sie sich fünfmal melden. Sie bekommen von mir keine Redezeit mehr. Da können Sie machen, was Sie wollen.
Wir halten an der sachgrundlosen Befristung fest. Sie hat eine positive Wirkung und ist Türöffner für dauerhafte Arbeitsplätze in den Betrieben. Sie ist - darum geht es in diesem Zusammenhang - im Teilzeit- und Befristungsgesetz geregelt. Das Gesetz beinhaltet den Rechtsanspruch auf Teilzeitbeschäftigung, der die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert.
Zum politischen Streikrecht kann ich nur sagen: Wir haben eine hervorragend funktionierende Sozialpartnerschaft, die wir nicht riskieren sollten. Belegschaftsabstimmungen über wesentliche Betriebsentscheidungen bedeuten letztendlich Enteignung. Ich möchte an dieser Stelle klar festhalten: Das ist mit wahren Demokraten nicht zu machen.
Sie wollen mithilfe von Förderprogrammen insgesamt 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen. Sagen Sie doch einmal, wo Sie das Geld hernehmen wollen!
Frau Kollegin, Sie haben mir wirklich aus der Seele gesprochen - das kommt nicht allzu oft vor -: Es ist wirklich ärgerlich, dass wir uns heute mit Ihren unrealistischen Forderungen beschäftigen müssen.
Herr Ernst, Sie haben vorhin die Süddeutsche Zeitung zitiert; auch ich möchte das tun. Dort heißt es über den Entwurf Ihres neuen Parteiprogramms, er sei ?Sozialismus in Neuauflage?. Letztendlich geht es in Ihrem Programm um nichts anderes. Sie polarisieren: hier der ausgebeutete Arbeitnehmer, dort der böse Arbeitgeber. So ist jedoch die Realität nicht. Wir haben Unternehmergeist, Ideen, Mut, das Eigentum der Unternehmer, das sie zusammen mit engagierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in fairer Partnerschaft einbringen. Genau das wollen wir: soziale Marktwirtschaft. Sie ist ein Erfolg für gute Arbeit, nichts anderes. Daran wollen wir festhalten.
Nehmen Sie sich ein Beispiel: Nehmen Sie Nachhilfeunterricht bei unserer Bundesarbeitsministerin! Ich nenne nur den Titel des Gesetzentwurfes, der gestern vom Kabinett verabschiedet wurde: Gesetz für bessere Beschäftigungschancen am Arbeitsmarkt - Beschäftigungschancengesetz.
Es geht hier letztlich um die Grundsatzfrage: soziale Marktwirtschaft oder Sozialismus? Sie wollen den Sozialismus. Damit haben Sie einen Teil Deutschlands schon einmal vor die Mauer gefahren. Wir werden uns dagegenstellen. Wir glauben an das Miteinander von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Wir stehen zur sozialen Marktwirtschaft, die ein Erfolgskonzept für gute Arbeit ist.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Ernst.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Herr Kollege Lange, Sie sagen, es sei ärgerlich, dass wir uns mit diesem Thema beschäftigen. Ich kann mir vorstellen, dass das für Sie ärgerlich ist; denn dabei werden die Defizite dieser Regierung deutlich vor Augen geführt.
Ich möchte auf das Beispiel der Menschen mit Kindern eingehen. Können Sie sich vorstellen, dass sich ein junger Mensch, der nach der Ausbildung nur befristet übernommen wird, tatsächlich überlegt, ob er zusammen mit seiner Partnerin Kinder in die Welt setzt oder ob er es angesichts der Tatsache, dass er bei einem befristeten Arbeitsplatz möglicherweise nur ein halbes Jahr oder ein Jahr beschäftigt ist, vielleicht gar nicht verantworten kann, weil er gegebenenfalls Probleme hat, seine Familie zu ernähren? Herr Lange, können Sie sich vorstellen, dass sich jemand, der sich in einem Leiharbeitsverhältnis befindet, angesichts der Tatsache, dass Leiharbeitnehmer die ersten sind, die aus den Betrieben entfernt werden - das war auch in dieser Krise so -, überlegt, ob er Kinder in die Welt setzt, weil er sie kaum noch ernähren kann, wenn er den Job verliert und auf Sozialleistungen dieses Staates angewiesen ist? Können Sie sich vorstellen, dass die Familienpolitik auch Ihrer früheren Familienministerin unter diesen Umständen konterkariert wird? Sie sollte dazu führen, dass man lustvoll dazu beiträgt, dass dieses Land nicht ausstirbt.
Können Sie sich vorstellen, dass wir unter diesen Bedingungen tatsächlich darüber nachdenken müssen, ob wir Regelungen wieder einführen, die wir in diesem Land schon gehabt haben? Die Regelungen galten im Westteil, nicht im Ostteil des Landes; es handelte sich also nicht um irgendeine Form des Sozialismus. Herr Lange, wenn Sie all das verneinen, dann kann ich Ihnen sagen: Sie haben sich von der Realität der Menschen, insbesondere der jungen Menschen und der Menschen, die in schlechten Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind, vollkommen verabschiedet. Das werden wir den Menschen auch sagen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Zur Erwiderung Herr Kollege Lange.
Ulrich Lange (CDU/CSU):
- Gut, also ich antworte lustvoll.
Herr Kollege Ernst, ja, ich kann mir das vorstellen, weil ich nicht davon ausgehe, dass ein Kinderwunsch einzig und allein an der materiellen Situation einer Familie, einer Partnerschaft, der Mütter und Väter hängt. Das ist mir zu wenig. Ich kenne viele damalige Kommilitoninnen und Kommilitonen, die mitten im Studium Kinder bekommen haben.
- Das gab es, und das gibt es natürlich heute noch.
Ich kenne viele Familien, die Hartz IV empfangen und interessanterweise auch viele Kinder haben. Ich kenne viele Familien von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern, die sehr wohl Kinder haben. Herr Ernst, Kinder sind etwas anderes, Kinder sind ein Glück und nicht nur eine Frage des Geldbeutels. So sollten wir wieder denken.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach diesem beinahe lustvollen und - zumindest von einer Seite des Hauses - an die Grenze des Kabarettistischen gehenden Austausches über die Familienpolitik fällt es schwer, sich wieder in die Niederungen dessen zu begeben, was wir in dem Antrag der Linken vor uns liegen haben.
Der Antrag versammelt alles, was es an Monstrositäten und Skurrilitäten aus dem linken Lager so gibt, Herr Ernst, eine beachtenswerte Gesamtschau sozialistischer Irrungen und Wirrungen, ein Kompendium wirtschaftlichen und sozialpolitischen Kompetenzdefizits.
Ich will es mir ersparen, auf die einzelnen Vorschläge einzugehen. Da ist viel Richtiges gesagt worden. Aber ich will einige Punkte hervorheben, an denen sich die Differenz zwischen unseren politischen Ordnungsvorstellungen sehr deutlich konkretisiert.
Da ist zunächst einmal der Begriff der Solidarität. Der wird ja in der Geschichte - auch der Arbeiterbewegung - groß geschrieben, auch wenn diese Solidarität zunächst einmal transnational organisiert werden sollte. Solidarität bedeutet gegenseitiges Einstehen in einer Rechtsgemeinschaft, also ein gegenseitiges Hilfeversprechen. Dieser Anspruch auf gegenseitige Hilfe entsteht auf der Grundlage von Leistung und Gegenleistung. Davon ist bei Ihnen aber nichts zu spüren, denn der solidarischen Leistung der Unterstützung bei Arbeitslosigkeit entspricht bei Ihnen keine Gegenleistung.
Das machen Sie dadurch deutlich, dass Sie sagen: Wir wollen eine sanktionsfreie Mindestsicherung. Das heißt nichts anderes als ein Abschied vom Prinzip der Solidarität. Die sanktionsfreie Mindestsicherung ist die dauerhafte Subventionierung der Arbeitsunwilligen durch die Arbeitswilligen.
Es ist der Abschied vom Prinzip der Solidarität zugunsten einer Alimentierung der Privatisierung Einzelner auf Kosten der Allgemeinheit.
Logisch zu Ende gedacht führt aber dieser Abschied von der Solidarität nicht zum allgemeinen gesellschaftlichen Reichtum, sondern zu einer Entsolidarisierung in der Gesellschaft und zu einer materiellen und geistigen Verarmung.
Aber mit der materiellen und geistigen Verarmung haben Sie ja historisch schon Ihre eigenen Erfahrungen gemacht.
Herbert Wehner hat vor 40 Jahren gesagt: Das sozialistische Experiment in der DDR kann nur in einem großen Katzenjammer enden. Und das ist noch das Höflichste, was sich darüber sagen ließ.
Der zweite Punkt: Ich habe den Eindruck, dass Sie den Arbeitsmarkt mit Ansprüchen auf gesellschaftliche Änderungen überlasten. Sie begehen damit etwas, was André Comte-Sponville in einem sehr lesenswerten Buch über die Frage, ob der Kapitalismus moralisch sein kann, als Verwechslung der Ordnungen bezeichnet - also etwa das Koalitionsrecht in einem Generalstreik zur Durchsetzung politischer Forderungen zu missbrauchen oder die Auftragsvergabe der öffentlichen Hand an gesellschaftliche Reformziele zu koppeln, die an sich für den Zweck der Auftragsvergabe systemfremd sind. Mit diesen teilweise massiven Eingriffen in das Wirtschaftsleben wird die Wirtschaft zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele feingesteuert. André Comte-Sponville nennt das die Tyrannei der höheren Ordnung. Wir meinen allerdings: Der Staat soll einen Ordnungsrahmen für die Wirtschaft setzen, aber nicht versuchen, gesellschaftliche Utopien durch wirtschaftliche Prozesse zu verwirklichen.
Mit dieser Zurückhaltung sind wir in den 60 Jahren der sozialen Marktwirtschaft gut gefahren, mehr noch: Wir haben das konkurrierende Modell einer sozialistischen Planwirtschaft abgehängt. Wir brauchten es weder einzuholen noch zu überholen, wir haben es einfach abgehängt. Es ist zu Recht in der Asservatenkammer der Geschichte gelandet. Dass Sie als Verlierer der Geschichte die Stirn haben, uns zu sagen, dass wir ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem brauchen,
zeigt nur eines: Aus der Geschichte haben Sie nichts gelernt.
Ein dritter Punkt. Für Sie kommt alles Heil vom Staat. Für uns ist es zunächst der Einzelne, der in Freiheit und Selbstverantwortung handelt. Für uns gilt der Grundsatz der Subsidiarität, der gesellschaftlichen Selbstorganisation. Deshalb ist auch der Staat subsidiär, also nachrangig gegenüber der Selbstverantwortung des Einzelnen und der Selbstorganisation der Gesellschaft. Dass Sie mit diesem Konzept Probleme haben, erstaunt mich nicht. Ihre Tradition ist die Tradition staatlicher Gängelung, staatlicher Bevormundung und staatlicher Planung. Damit haben Ihre geistigen und politischen Ahnen die Biografien von Millionen Menschen zerstört.
In einem seltenen Anfall von partieller Selbsterkenntnis schreiben Sie in Ihrem Programm über die DDR:
Die Demokratie blieb auf der Strecke, und eine ökologische Orientierung hatte keine Chance. Die Zentralisation der ökonomischen Entscheidungen und die bürokratisierte Form der Planung und Leitung der Volkswirtschaft sowie die weitgehende Einschränkung betrieblicher Selbstständigkeit führten langfristig zu einem Zurückbleiben der Innovations- und Leistungsfähigkeit.
Das ist alles richtig. Ich frage mich, wie Sie mit dem alten Wein der Denkungsart, den Sie lediglich in einen neuen Schlauch einer Partei gegossen haben, eine Wiederholung dieses nationalen Unglücks verhindern wollen. Die Probe aufs Exempel will ich nicht machen, weil ich der Meinung bin: Es gilt, den Anfängen zu wehren. Mit ihrem Konzept der guten Arbeit wird kein Weg aus der Krise gewiesen. Im Gegenteil: Das Konzept zeigt nur auf, wie die Krise politisch verstärkt werden kann.
Wir werden Ihr Konzept ablehnen, was Sie sicherlich nicht überraschen wird.
Danke schön.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1396 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 15. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 23. April 2010,
auf der Website des Bundestages unter ?Dokumente & Recherche?, ?Protokolle?, ?Endgültige Plenarprotokolle? veröffentlicht.]