38. Sitzung
Berlin, Freitag, den 23. April 2010
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auf Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion sollen der Kollege Jens Spahn und auf Vorschlag der SPD-Fraktion die Kollegin Bärbel Bas in den Stiftungsrat der Stiftung ?Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen? gewählt werden. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind der Kollege Spahn und die Kollegin Bas gewählt.
Die FDP-Fraktion schlägt als Nachfolger für den Kollegen Carl-Ludwig Thiele den Kollegen Frank Schäffler als neues ordentliches Mitglied im Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht vor. Neues stellvertretendes Mitglied soll der Kollege Björn Sänger werden. Sind Sie auch damit einverstanden? - Dem ist offenkundig so. Dann sind auch diese beiden Kollegen gewählt.
Nachfolger der Kollegin Michaela Noll im Wahlprüfungsausschuss soll nach Mitteilung der Fraktion der CDU/CSU der Kollege Michael Grosse-Brömer werden. Können wir uns auch darauf verständigen? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Grosse-Brömer zum ordentlichen Mitglied des Wahlprüfungsausschusses gewählt.
Schließlich schlägt die Fraktion der CDU/CSU den Kollegen Andreas G. Lämmel als Nachfolger für die ausgeschiedene Kollegin Dr. Martina Krogmann als neues ordentliches Mitglied im Beirat bei der Bundesnetzagentur vor. Sind Sie damit einverstanden? - Auch das ist offenkundig einvernehmlich. Dann ist der Kollege in den Beirat gewählt.
Die Kollegin Dr. Maria Böhmer feiert heute einen runden Geburtstag. Dazu möchte ich ihr im Namen des ganzen Hauses herzlich gratulieren.
Es lässt sich für solche informellen Geburtstagsveranstaltungen schwerlich ein schönerer Platz als die Regierungsbank denken. Auch unter diesem Gesichtspunkt meine besondere Gratulation.
Nun können wir in unsere Tagesordnung eintreten. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
Eine Wirtschaftspolitik für Wachstum und Arbeitsplätze
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Rainer Brüderle.
Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschlands Wirtschaft wächst wieder, dieses Jahr mit knapp 1,5 Prozent, nächstes Jahr mit gut 1,5 Prozent. Der Vulkanausbruch auf Island hat die Wirtschaft kurzzeitig abgebremst. Wenn sich die Lage im Laufe der nächsten Tage wieder voll normalisiert hat, wird sich zeigen, dass sich die volkswirtschaftlichen Schäden in Grenzen halten. Wir können zuversichtlich sein, dass wir diesen exogenen Schock, wie Ökonomen es nennen, gut wegstecken. Wir sind gut aufgestellt. Deutschland ist zurück auf dem Wachstumskurs.
Lassen Sie mich eine kurze Bemerkung zu Griechenland machen. Wir beobachten die Lage dort genau. Wir nehmen die Signale ernst. Wir verfallen aber nicht in Aktionismus; Aktionismus wäre genau die falsche Reaktion. Deutschland als exportorientierte Volkswirtschaft hat ein besonderes Interesse an Währungsstabilität. Die Regierungschefs haben einen ganz klaren Fahrplan vereinbart. Die Mitglieder der Währungsunion stehen gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds dann bereit, wenn sich Griechenland nicht mehr selbst helfen kann. Das ist sozusagen die Ultima Ratio. Bislang ist diese Situation nicht eingetreten. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, dass dies so bleibt. Innen- oder gar wahlkampfpolitisch motivierte Äußerungen sind völlig fehl am Platz.
Meine Damen und Herren, vieles von dem, was sich in diesem Jahr als Wachstum zeigt, ist die Folge staatlicher Stabilisierungsmaßnahmen. Angesichts der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit brauchte die Wirtschaft Impulse. Worum es aber letztlich gehen muss, ist die Rückkehr zu einem selbsttragenden, nachhaltigen Wachstumsprozess, der nicht auf den Staat zählt, sondern auf Marktkräfte und Eigeninitiative vertraut.
Im Kern geht es dabei um das richtige Verhältnis zwischen dem Staat auf der einen und der Wirtschaft und den Bürgern auf der anderen Seite. Nicht Bevormundung und Gängelung, sondern Freiheit, Eigenverantwortung und Chancengerechtigkeit sind die Quellen, aus denen tragfähiges Wachstum und echter Wohlstand entstehen.
Diese Regierung hat einen klaren ordnungspolitischen Kompass.
Dauersubventionen, staatliche Bürokratie und Markteingriffe sind keine Grundlagen für eine wirklich wettbewerbsfähige Wirtschaft. Was wir unterstützen wollen sind Lernen, Kreativität, Engagement, die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, und den Willen, die Dinge selbst zu gestalten.
So gesehen sind Deutschlands Wachstumspotenziale noch längst nicht ausgeschöpft. Unser Wachstumspfad liegt noch immer deutlich unter seinen Möglichkeiten.
Wenn wir diese Potenziale heben wollen, müssen wir an drei zentralen Stellen ansetzen. Erstens. Wir brauchen Innovation und technischen Fortschritt. Zweitens. Wir brauchen wirksame Steuervereinfachungen und -entlastungen. Drittens. Wir brauchen offene und flexible Märkte.
Innovation und technischer Fortschritt sind für die christlich-liberale Bundesregierung Schüsselthemen. Wir haben hier schon wichtige Weichen gestellt: Allein der Bund wird in dieser Legislaturperiode zusätzlich 12 Milliarden Euro für Forschung, Entwicklung und Bildung bereitstellen.
Innovation ist aber nicht nur eine Frage des Geldes in den Taschen, sondern vor allem auch des Denkens und der inneren Einstellung. Neue Technologien brauchen einen positiven Resonanzboden in Politik und Gesellschaft. Nur wenn wir Innovation als Chance sehen, hat Innovation hierzulande auch eine Chance.
Deshalb brauchen wir den Beitrag der Genforschung zur Linderung von Hunger und Krankheiten.
Deshalb ist für uns eine CO2-Speichertechnologie ein möglicher Schlüssel für mehr Klimaschutz am Industriestandort Deutschland.
Deshalb brauchen wir eine Offenheit für neue Technologien wie die Elektromobilität,
um das Auto des 21. Jahrhunderts in Deutschland neu zu erfinden. Am 3. Mai 2010 bringt die Bundeskanzlerin dafür alle wichtigen Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik an einen Tisch. Von diesem Treffen wird das Signal ausgehen: Deutschland wird der Leitmarkt für Elektromobilität sein.
Derzeit läuft die Versteigerung der Mobilfunkfrequenzen. Es wird bei weitem nicht so viel Geld in den Bundeshaushalt fließen wie bei der UMTS-Versteigerung im Jahr 2000. Aber dieser Bundesregierung geht es nicht - wie damals Rot-Grün - darum, Kasse zu machen.
Uns geht es um die Infrastruktur des 21. Jahrhunderts. Uns geht es darum, das schnelle Internet in ganz Deutschland zu ermöglichen.
Deshalb gibt es in den Versteigerungsbedingungen die Auflage an die Bieter, zunächst die noch unterversorgten Räume zu erschließen.
Wir brauchen Breitband überall. Ein Industriegebiet braucht heute beides: gute Straßen und ein leistungsfähiges Internet. Kein Unternehmen darf ?offline? sein.
Strukturell genauso wichtig wie das Breitband ist eine saubere, eine sichere und eine bezahlbare Energieversorgung. Heute brauchen wir einen dynamischen Energiemix aus Erneuerbaren, Kernenergie und sauberer Kohle. Für morgen und übermorgen wollen wir die erneuerbaren Energien stark ausbauen.
Dafür brauchen wir verlässliche Übergänge. Ein Übergang ist der Ausbau der Netze. Ein weiterer Übergang ist die Entwicklung von Speichertechnologien. Als Brücke ins regenerative Zeitalter brauchen wir die Verlängerung der Laufzeiten für Kernkraftwerke.
Sie gibt uns die Zeit und die finanziellen Mittel, den Übergang vernünftig zu gestalten.
Mein Kollege Röttgen und ich werden im Herbst ein Energiekonzept vorlegen, übrigens das erste seit elf Jahren. Wir haben einen vernünftigen Kompass, der uns bei dem Konzept leitet.
Im globalen Wettbewerb müssen wir besser sein als die anderen. ?Besser? heißt hier: innovativer. Ein wichtiges Thema ist dabei die steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung. Sie kommt allen innovativen Unternehmen zugute, auch denjenigen, die bisher vor den Anträgen für die Projektförderung zurückgeschreckt sind. Das wäre ein gutes Mittel, um die Forschungsleistung der Wirtschaft generell anzukurbeln. In Zeiten knapper Kassen macht es sicherlich Sinn, eine solche Maßnahme zunächst auf den Mittelstand zu fokussieren.
Das gilt auch für die von dieser Bundesregierung konzipierten Innovationsgutscheine, die ich Anfang Mai vorstellen werde. Mittelständler erhalten durch diese Gutscheine eine Art technologisches Fitnesstraining ohne viel Bürokratieaufwand.
Die erfreuliche Wirtschaftsentwicklung bekommen die Bürgerinnen und Bürger direkt in ihrem Geldbeutel zu spüren.
Die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte steigen spürbar. Wir haben einen Zuwachs bei den Nettolöhnen. Sie steigen so stark wie seit fast einem Jahrzehnt nicht mehr. Die Bundesregierung hat hierzu ihren Beitrag geleistet.
Sie wird einen weiteren Beitrag leisten. Wir werden die Wirkung der kalten Progression vermindern, die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen weiter entlasten.
Die Effekte für den Arbeitsmarkt wollen wir maximieren.
Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag auch einen Stufentarif vereinbart.
Im Bundeswirtschaftsministerium haben wir das kürzlich durchrechnen lassen.
Ein Tarif mit fünf Stufen und einem Entlastungsvolumen von 16 bis 17 Milliarden Euro würde 130 000 neue Arbeitsplätze schaffen.
Als Wirtschaftsminister ist mir dabei etwas besonders wichtig. Neben der Entlastung der unteren und mittleren Einkommen zur Stärkung der Kaufkraft geht es um 80 Prozent der deutschen Betriebe. Sie sind nämlich Personengesellschaften. Für sie ist die Einkommensteuer die Unternehmensteuer. Wir wollen also den Mittelstand entlasten. Das stärkt die Eigenkapitalbasis, die Substanz jedes Unternehmens.
Die Stärkung der Unternehmenssubstanz ist übrigens ein roter Faden unserer Steuerpolitik. Das haben wir bei der Zinsschranke gezeigt. Das haben wir bei der Erbschaftsteuer gezeigt. Dagegen will Rot-Rot-Grün mit seinen Vermögensteuerplänen den Unternehmen an die Substanz.
Es ist nicht glaubwürdig, wenn die SPD auf der einen Seite die Abschreibungsbedingungen aus den Konjunkturpaketen dauerhaft verlängern, aber auf der anderen Seite die Eigenkapitalbasis der Unternehmen durch die Vermögensteuer dauerhaft schmälern will.
Ein weiterer zentraler Schlüssel für mehr Wachstumspotenzial sind flexiblere Märkte.
Das gilt mehr denn je. Der Staat war in der Krise gefordert. Nun ist der Staat gefordert, sich in Schritten wieder zurückzuziehen; denn das beste Entdeckungsverfahren bleibt der Wettbewerb. Er ist Garant für Dynamik und Innovation.
Wir haben das bei der Telekommunikation gesehen. Der Markt wurde in den 90er-Jahren von der damaligen christlich-liberalen Regierung geöffnet. Davon profitiert unsere Gesellschaft bis heute. Statt trister Telefonzellen und horrender Fernsprechrechnungen gibt es heute einen boomenden Telekommunikationsmarkt mit vielfältigen Techniken und niedrigen Tarifen.
Wir wollen solche Erfolgsgeschichten auch in anderen Sektoren, etwa im Postmarkt. Wir machen Schluss mit dem Mehrwertsteuerprivileg der Post. Dazu hatten sozialdemokratische Finanzminister elf Jahre nicht die Kraft. Die neue Regierung sorgt für gleiche Wettbewerbsbedingungen im Postsektor.
Wir werden die Gasmärkte in den nächsten Monaten weiter öffnen. Die Gasnetzzugangsverordnung, die wir in Kürze vorlegen werden, wird dafür ein erster Baustein sein.
Für den Stromgroßhandel werden wir eine Markttransparenzstelle einrichten, die die Preisbildung dort dauerhaft unter die Lupe nimmt. Wir werden für alle Branchen als Ultima Ratio ein Entflechtungsinstrument in das GWB aufnehmen.
Offene und flexible Märkte brauchen wir auch im weltweiten Maßstab. Das gilt zum Beispiel für die Rohstoffversorgung. Ich sehe mit großer Sorge, wie sich etwa bei der Eisenerzgewinnung monopolartige Strukturen herausbilden, die die Preise nach oben treiben.
Bei den anderen Rohstoffen, wie den sogenannten seltenen Erden, gibt es wichtige Ausfuhrstaaten, die starke protektionistische Tendenzen zeigen, ja sogar wie China Exportzölle eingeführt haben.
Ich werde in Kürze die deutsche Wirtschaft zu einem Rohstoffdialog einladen.
In meiner Außenwirtschaftspolitik ist das Thema Rohstoffe zentral. Ganz konkret werde ich nächste Woche in Brasilien die Eisenerzfrage mit meinem Amtskollegen erörtern.
Wichtig ist, dass wir die Markttransparenz im Rohstoffbereich deutlich erhöhen. Dazu werden wir die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe zur zentralen Rohstoffagentur für die deutsche Wirtschaft ausbauen. Wir wollen die Wirtschaft unterstützen, jedoch die Wirtschaft nicht aus ihrer Verantwortung entlassen.
Flexible Märkte sind widerstandsfähig. Das verdeutlicht der erstaunlich robuste Arbeitsmarkt. Angesichts von 3,4 Millionen Arbeitslosen nach der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit kann man schon von einem kleinen Jobwunder sprechen. Die düsteren Prognosen der letzten Zeit haben sich jedenfalls nicht bewahrheitet. Von Horrorszenarien aus rot-grünen Zeiten mit 4,5 bis 5 Millionen Arbeitslosen sind wir weit entfernt.
Die Bürger erinnern sich genau: Rot-Grün war die Regierung des Nullwachstums und der Massenarbeitslosigkeit. Schwarz-Gelb ist die Regierung von Wachstum und Beschäftigung.
Es waren immer die bürgerlichen Parteien, die auf flexible Arbeitsmärkte gedrängt haben.
Wir wissen genau: Die gute Entwicklung verdanken wir den vielen Bündnissen für Arbeit in den Betrieben, mit Lohnzurückhaltung und Arbeitszeitkonten, die das kleine Jobwunder erst möglich gemacht haben.
Der Flächentarif ist zwar von den Tarifpartnern nicht aufgegeben worden, aber die zentralen Abmachungen lassen viel mehr Flexibilität als früher zu. So konnte reguläre Beschäftigung über die Krise hinweg gehalten werden. Von dieser Flexibilität haben letztlich alle profitiert.
Zwei Drittel der positiven Arbeitsmarkteffekte gehen auf das Konto von Arbeitszeitflexibilisierung und Lohnzurückhaltung. Im Krisenjahr 2009 ist etwa ein Drittel auf die Kurzarbeiterregelung zurückzuführen. Mit der Ausweitung der Kurzarbeiterregelung hat die Bundesregierung die Rahmenbedingungen für die Flexibilität der Unternehmen verbessert.
Facharbeiter konnten gehalten werden. Mit dem Abflauen der Krise wird das Kurzarbeitergeld wieder an Bedeutung verlieren. Die am Mittwoch beschlossene Verlängerung ist eine Vorsichtsmaßnahme. Die sogenannte Konzernklausel wurde nicht verlängert. Die Kurzarbeitergeldregelung ist damit ein Stück mittelstandsfreundlicher geworden.
Kollegin von der Leyen und ich sind uns völlig einig: Die Maßnahmen zur Krisenbekämpfung können kein Dauerzustand sein. Dauerhafte Subventionen stehen im Widerspruch zum christlich-liberalen Verständnis vom Verhältnis zwischen Mensch und Staat.
Sie verzerren den Wettbewerb. Sie stehen einem effizient funktionierenden Marktmechanismus im Wege. Letztendlich sind dauerhafte Subventionen schlichtweg nicht zu finanzieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die aktuellen Konjunkturprognosen und die Zahlen vom Arbeitsmarkt zeigen: Seitdem diese Regierung angetreten ist, ist Deutschland endlich wieder auf Wachstumskurs.
Die Sofortmaßnahmen der letzten Monate haben gewirkt. Viele Unternehmen sind weiterhin am Markt; viele Jobs konnten gerettet werden. Jetzt geht es um eine Wirtschaftspolitik, die Wachstum und Arbeitsplätze auch für die Zukunft sichert. Dafür müssen wir verschüttete Wachstumspotenziale heben. Dafür müssen wir Freiräume schaffen. Dafür steht diese Koalition.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Dr. Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Brüderle, ich weiß nicht, wer Ihnen den Rat gegeben hat, hier und heute eine Zwischenbilanz der Regierung zur Wirtschaftspolitik zu ziehen.
Auf denjenigen, der diesen Rat gegeben hat, würde ich jedenfalls nicht allzu häufig hören.
Das, was wir heute gehört haben, ist keine Leistungsbilanz, verehrter Herr Brüderle. Das grenzt an einen wirtschaftspolitischen Offenbarungseid.
Sie fordern, dass die Unternehmen online sein sollen, Herr Brüderle. Dazu kann man nur sagen: Diese Regierung ist es nicht. Das, was Sie eben vorgetragen haben, lässt doch klar erkennen: Da ist kein Kompass, da ist keine Richtung, da ist keine Idee. Diese Regierung und Sie, Herr Brüderle, warten mit gefalteten Händen, bis der Aufschwung kommt, bis Manna vom Himmel fällt. Sie haben nichts auf der Kante; es besteht ein Rekordschuldenstand. Diese Regierung und auch Sie eben fabulieren weiterhin von Steuersenkungen und machen uns vor, dass alles schöner, heller und bunter wird und die Leute am Ende sogar noch ein bisschen Geld herausbekommen. Man muss schon bereit sein, Herr Brüderle, Realität und gesunden Menschenverstand weit hinter sich zu lassen, um daran zu glauben.
Ich versichere Ihnen: Wir glauben nicht daran. Sie werden es am 9. Mai erleben: Auch die Menschen glauben es Ihnen nicht.
Sie können mir glauben, Herr Brüderle: Niemand in diesem Hause würde sich mehr als ich freuen, wenn Sie recht hätten
und wir wirtschaftlich wirklich schon über dem Berg wären. Sie sprechen doch mit denselben Unternehmen wie ich. Auch Sie hören und sehen doch: Es gibt einen ganz eklatanten Unterschied; da klafft etwas auseinander zwischen dem, was sich in Umfragen über Hoffnungen und Erwartungen über die zukünftige Wirtschaftsentwicklung dokumentiert, und dem, was sich im Augenblick in konkreten Auftragszahlen in Unternehmen niederschlägt. Das ist doch ein eklatanter Unterschied. Sie hören wie ich in den gleichen Gesprächen die Beurteilung, dass die Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung, in der wir uns befinden, keineswegs gesichert ist, dass wir uns bei weitem noch nicht in einem nachhaltigen Aufschwung befinden.
Über das, was gut ist, darüber darf man - da haben Sie recht - auch gut reden. Schlechtreden ist gefährlich; auch das stimmt. Ich reihe mich da nicht ein. Aber wirklich gefährlich, Herr Brüderle, ist das, was Sie tun. Sie ignorieren einfach, dass dies die tiefste Krise der Nachkriegszeit ist, dass uns das mehr als nur Prozente beim Wachstum gekostet hat, dass wir eine tiefe Verunsicherung über die Stabilität unseres Wirtschaftssystems haben. Ob wir in der Politik es wollen oder nicht: Damit geht ein weiterer Verlust an Vertrauen in die Steuerungsfähigkeit von Politik einher. Ich sage Ihnen: Wenn die Demokratie wirklich stabil bleiben soll, dann müssen wir vor allen Dingen an der Wiederherstellung dieses Vertrauens arbeiten.
Deshalb ist es sehr gefährlich, wenn Sie sich wie am vergangenen Mittwoch einfach hinstellen und mit strahlender Miene verkünden: Leute, macht euch keine Sorgen! Die Wirtschaft brummt wieder. Es gibt sogar zusätzlich etwas zu verteilen, immerhin 8 Milliarden Euro. - Ganz Deutschland, Herr Brüderle, reibt sich verwundert die Augen. Herr Brüderle, Sie wissen, dass die Wirklichkeit eine andere ist. Sie selbst glauben nicht daran, und deshalb halte ich solche Pressekonferenzen wie die am Mittwoch für unverantwortlich.
Wenn man im Land unterwegs ist, und zwar nicht nur im Wahlkampf, trifft man den einen oder anderen. Die Menschen begreifen nicht so recht, worüber Sie sich am Mittwoch gefreut haben. Dort haben Sie - das ist Ihr gutes Recht - für die Bundesregierung ein Wachstum von 1,4 Prozent prognostiziert. In derselben Woche hat der IWF für Deutschland ein Wachstum von 1,2 Prozent prognostiziert. Worüber sollen sich die Menschen dann eigentlich genau freuen? Darüber, dass Sie fröhlich vor die Kameras treten und mit Verweis auf einige wenige Quartalszahlen von Unternehmen - unter anderem von Goldman Sachs - sagen: ?Es geht uns gut?? Goldman Sachs hat im ersten Quartal einen Gewinn von 3,5 Milliarden Dollar erzielt. Das ist beeindruckend. Die Frage, die Sie als Wirtschaftsminister zu beantworten haben, ist doch nur: Ist diese Zahl ein Beleg für eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung? Oder ist sie nicht eher ein Beleg dafür, dass die Zockerei, die uns in diese Krise gebracht hat, wieder an Fahrt gewinnt?
Wenn in derselben Woche, in der Sie eine Pressekonferenz geben und vor die Kameras treten, von betrügerischen Spekulationen in schier unfasslichem Ausmaß berichtet wird, dann dürfen Sie als Wirtschaftsminister nicht dazu schweigen. Dazu müssen Sie doch Sprache haben.
Sie haben sie nicht; denn Ihnen fehlt der Mut, zu sagen, wie Sie damit umgehen wollen.
Wenn ich bei dem Thema bin: Ich glaube, diese Bundesregierung muss eines begreifen: Es kann keinen nachhaltigen Aufschwung geben - davon bin ich zutiefst überzeugt -, solange wir den Finanzmärkten keinen wirklich klaren Rahmen geben, für mehr Transparenz und mit klaren Grenzziehungen.
Ich darf daran erinnern, dass wir mit Peer Steinbrück an der Spitze der weltweiten Diskussion über eine neue internationale Finanzarchitektur standen. Jetzt sind wir allenfalls Zaungast dieser Entwicklung. Das ist die bittere Wahrheit, nicht das, was Sie uns hier vorgetragen haben.
Herr Brüderle, mir ist ein Weiteres bei Ihrer Rede eben aufgefallen: Das Wachstum, über das wir alle uns gefälligst miteinander zu freuen haben, ist im Grunde genommen ein Wachstum gegen jede Ordnungspolitik. Die Hälfte des Wachstums - Sie haben es nur angedeutet - fußt auf staatlicher Konjunkturpolitik. Das kleinere Problem ist jetzt: Hätten Sie damals, bei Ausbruch der Krise, regiert, dann gäbe es diese Hälfte des Wachstums gar nicht, dann krebsten Sie jetzt bei 0,6 oder 0,7 Prozent Wachstum herum.
Das größere Problem ist - das nehme ich viel ernster -: Die Wirkungen dieser Konjunkturmaßnahmen werden schwächer und laufen aus. Darauf haben Sie, Herr Brüderle, keine Antwort; wir haben eben keine Antwort gehört. Das ist in einer solchen Lage wirklich dramatisch.
Ich sage das nicht einfach so dahin, sondern mit Blick auf Ihre Pressekonferenz; ich habe da genau zugehört. Da sagten Sie, es gehe jetzt
? um einen sich selbst tragenden Aufschwung. Wir müssen ? die richtigen Anreize für Kreativität und Innovationen setzen.
Das stimmt. Herr Brüderle, umso erstaunlicher ist Ihr nächster Satz:
Einen ersten Schritt in diese Richtung hat die Bundesregierung mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz getan.
Daran glauben Sie doch selber nicht.
Dieses Wachstumsbeschleunigungsgesetz - ich sage es hier noch einmal - beschleunigt alles außer Wachstum. Es ist ein Dankeschöngesetz, ein Klientelgesetz für ein paar Hoteliers. Es verursacht Milliardenausfälle bei den Städten und Gemeinden. Da wird Geld verpulvert, das wir, das auch Sie an anderer Stelle dringend brauchten. Das soll der Beitrag der Bundesregierung zu einem selbsttragenden Aufschwung sein? Ich sage Ihnen: Ganz Deutschland, auch die deutsche Wirtschaft, lacht darüber. Verschonen Sie uns also mit solchen Experimenten!
Wir haben es eben gehört: Weil es so schön ist, machen Sie einfach weiter. Ihre steuerpolitischen Vorschläge vom vergangenen Montag haben im Grunde genommen dasselbe Strickmuster: eine Steuerreduzierung um 16 Milliarden Euro - eben haben Sie gesagt: um 16 bis 17 Milliarden Euro -, und das jedes Jahr, obwohl der deutsche Staat schon jetzt mit 1,7 Billionen Euro verschuldet ist. 70 Prozent unserer gesamten Wirtschaftsleistung sind Staatsschulden, Herr Brüderle. Das werfen wir Ihnen nicht gänzlich vor, wahrlich nicht. Aber man kann doch nicht die Augen davor verschließen - auch die FDP nicht -, was das bedeutet, was es für Folgen hat im Hinblick auf die völlig geschrumpften Handlungsspielräume von Regierungen und von Politik. Da ist eben andere Politik vonnöten als das, was Sie hier abgeliefert haben: Heilsversprechen, Steuersenkungspläne, Allgemeinplätze.
Wenn Sie uns das nicht glauben, dann glauben Sie wenigstens der OECD oder dem IWF oder glauben Sie es wenigstens den Menschen; denn die ahnen doch: Wachstumspolitik auf der einen Seite und leere Kassen auf der anderen Seite, Konsolidierung und gleichzeitig Steuersenkungen - das kann nicht gehen, das wird es nicht geben. Verehrter Herr Brüderle, tun Sie uns deshalb einen Gefallen: Verkaufen Sie die Menschen nicht für dumm!
Die Menschen ahnen noch etwas. Das Stück, das im Moment auf der Bühne aufgeführt wird, heißt: ?Im Himmel ist Jahrmarkt?. Im vierten Akt läuft jetzt die Steuersenkungskomödie. Nach dem 9. Mai 2010 wird die Bühne dann umdekoriert. Das neue Stück, das dann gegeben wird, heißt: ?Die Kassen sind leer?. Dann kommt die Wahrheit auf die Menschen zu. Ehrlich ist etwas anderes, Herr Brüderle; aber auch das werden Sie am 9. Mai 2010 merken.
Ein bisschen von der Wahrheit ist trotzdem herausgerutscht, wenn man das Kleingedruckte des steuerpolitischen Vorschlags vom Montag letzter Woche gelesen hat. Wir haben da etwas von Kürzungen bei den Mitteln für aktive Arbeitsmarktpolitik gelesen, von höheren Sozialabgaben und vielleicht auch der Besteuerung der Zuschläge für Nacht- und Schichtarbeit. Sie wollen auch an die Gewerbesteuer heran. Aber Sie wissen: Das wird bei weitem nicht reichen, wenn Sie wirklich bei diesem Steuersenkungsvorhaben bleiben. Deshalb sage ich: Sagen Sie den Menschen die Wahrheit! 16 Milliarden Euro Steuersenkungen bedeuten - zu den 1,6 Milliarden Euro, die den Städten und Gemeinden schon jetzt fehlen - noch einmal 2,5 Milliarden Euro weniger für die Städte und Gemeinden. Dafür werden nicht die Städte und die Oberbürgermeister bluten müssen, sondern die Bürgerinnen und Bürger in den Städten und Gemeinden. Da werden schon jetzt Gebühren erhöht, da werden auch Bibliotheken, Schwimmbäder und Schauspielhäuser geschlossen. Das raubt den Städten und Gemeinden nicht nur Lebensqualität, sondern bereitet den Ruin der kommunalen Selbstverwaltung vor. Das sage nicht nur ich Ihnen; das sagt auch die Präsidentin des Deutschen Städtetages, Petra Roth, die - jedenfalls bisher nicht - keine bekennende Sozialdemokratin ist. Nehmen Sie das bitte ernst, und brechen Sie mit dieser Politik, die Sie da auf den Weg gebracht haben!
Sie reden immer von Steuersenkungen. Es sind immer noch die Fragen unbeantwortet, wofür die eigentlich sind und welche Wirkung sie haben. Das haben wir uns einmal sehr genau angeschaut. Die Alleinerziehende mit 16 000 Euro Jahresgehalt spart nach Ihrem steuerpolitischen Vorschlag genau 73 Euro im Jahr.
Das Ehepaar mit 200 000 Euro Jahreseinkommen bekommt nach Ihrem steuerpolitischen Vorschlag zusätzlich über 3 000 Euro. Meine Damen und Herren, ist das wirklich das, was Sie wollen, diese Umverteilung, diese Ungerechtigkeit? Wenn das die Leistung ist, die sich wieder lohnen soll, dann haben wir Herrn Westerwelle doch alle richtig verstanden.
Ein Letztes zum Thema Ehrlichkeit und damit auch zu dem Thema, das Sie, Herr Brüderle, angesprochen haben: Griechenland. Das ist ein ernstes Thema, von dem ich überzeugt bin, dass es uns alle miteinander hier noch lange beschäftigen wird und beschäftigen muss. Vorab: Wir verweigern uns nicht dem Nachdenken darüber, wie man Griechenland helfen kann. Aber unter dem Gesichtspunkt der Ehrlichkeit: Frau Merkel, Sie haben sich als ?Madame Non? - Seite 2 der Bild-Zeitung - auf den Bismarck-Sockel stellen lassen. Sie haben das nicht selbst gemacht, aber sich draufstellen lassen.
Wie zu erwarten war, wird nun doch gezahlt. Zu welchen Bedingungen und in welcher Größenordnung, das wissen wir zwar noch nicht; aber das Entscheidende ist - deshalb spreche ich es heute an -: Das, was auf dieses Parlament und auf die deutschen Steuerzahler zukommt, soll dem Parlament nach Ihrer Zeitplanung offenbar auch erst nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen vorgelegt werden. Deshalb meine Bitte: Wenn Sie eine breite parlamentarische Zustimmung in diesem Parlament möchten - und das sollten Sie, wenn Sie das Thema Griechenland und die sich daraus ergebenden Folgen ernst nehmen -, dann ist unsere Erwartung, dass Sie das Parlament frühzeitig, noch in dieser Woche, darüber informieren, was auf den Weg gebracht werden soll. Das ist keine Kleinigkeit; es geht um Größenordnungen, die die Stabilität des gesamten Euro-Raums berühren dürften. Wir erwarten, dass für diese wichtige Frage, bei der wir bereit sind, mitzuhelfen, genügend Beratungs- und Diskussionszeit im Parlament zur Verfügung steht. Machen Sie bitte keine Nacht-und-Nebelaktion! Betreiben Sie keine Wählertäuschung mit Blick auf den 9. Mai! Seien Sie dem Parlament gegenüber offen, und sagen Sie, zu was Sie unsere Zustimmung erwarten. Dann können Sie auch erwarten, dass sich die SPD einer Mithilfe nicht verweigert.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Frau Dr. von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Wir haben die Krise noch lange nicht überwunden. Wir befinden uns aber in einer Phase, in der wir langsam, aber sicher sehen, wie wir Schritt für Schritt aus der Krise herauskommen. Wir befinden uns in einer Zeit, in der wir die Weichen neu stellen müssen.
Es ist nicht eine Zeit des Zauderns und Zurückblickens, sondern es ist eine Zeit des Vorwärtsschauens und eine Zeit des Mutes, zu handeln. Wir dürfen zum einen den auch international sehr beachteten Erfolg des robusten deutschen Arbeitsmarktes nicht auf den letzten Metern verspielen, aber ebenso müssen wir den Blick auf die nächste Etappe richten. Diese beiden Ziele sind im Beschäftigungschancengesetz enthalten.
Dass wir im Krisenjahr 2009 so gut gefahren sind, verdanken wir neben einem sehr klugen Krisenmanagement vor allem der Kurzarbeit. Die Kurzarbeit verhindert Arbeitslosigkeit. Das war nicht nur ein Beitrag der Arbeitgeber durch die Haltekosten, die sie getragen haben, und der Politik, die das Kurzarbeitergeld bewilligt hat; es ist vor allem ein Erfolg der Beschäftigten gewesen, die Lohneinbußen auf sich genommen haben, um ihre Arbeitsplätze zu halten. Das sollte in der Diskussion über die Kurzarbeit ausdrücklich honoriert werden.
Die Kurzarbeit wird vor allem vom Mittelstand genutzt. Die Kurzarbeit sichert den Unternehmen eine gut eingespielte Belegschaft, die sie für den nächsten Auftrag brauchen, sonst können sie ihn nicht annehmen. Die Unternehmen brauchen jetzt Planungssicherheit, vor allem für 2011. Deshalb ist es richtig, dass wir Ende des letzten Jahres nicht das Fallbeil haben runtersausen lassen und die konjunkturelle Kurzarbeit beendet haben,
sondern die Regelungen zur Kurzarbeit erst zum März 2012 auslaufen lassen. Das bedeutet Planungssicherheit für die Unternehmen. Das sichert den Mittelstand ab und vor allem die innovativen Belegschaften für den Aufschwung, den wir brauchen.
Wir stehen jetzt vor zwei großen Herausforderungen: Es geht nicht nur um die Beschäftigungssicherung in der Krise; wir müssen vor allem auch einen Blick auf den Arbeitsmarkt haben, wie er in der Zukunft aussehen wird. Der Arbeitsmarkt der Zukunft wird vor allen Dingen durch zwei Phänomene, durch zwei Fragen geprägt werden: Welche Fachkräfte brauchen wir für die Jobs der Zukunft, und vor allem, woher sollen sie kommen? Wenn wir das schlecht machen, wenn wir stur nach den bisherigen Mustern vorgehen, dann kann man vorhersehen, was kommt. Dann werden wir in 20 Jahren 5 Millionen Beschäftigte weniger haben. Wir werden einen dramatischen Fachkräftemangel haben, und wir werden gleichzeitig Massenarbeitslosigkeit erleben.
Das heißt, dass wir unabhängig davon, ob wir eine Krise haben oder nicht, wahrnehmen müssen, dass ein demografische Wandel und ein Strukturwandel stattfinden. Mit anderen Worten: Wenn wir es besser machen wollen, wenn wir jetzt Schritte in Richtung Zukunft gehen wollen, dann müssen wir auch anfangen, neu zu denken.
Niemand bestreitet mehr, dass sich in einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft der Arbeitsmarkt dramatisch verändert. Sie können das Monat für Monat an den Arbeitsmarktstatistiken erkennen. Auf der einen Seite muss man sehen, wer arbeitslos wird. Auf der anderen Seite muss man schauen, wer in die wachsende Zahl offener Stellen hineindrängt. Wenn man das auf den Punkt bringt, dann heißt das eigentlich, dass der Arbeitsmarkt, ob es uns passt oder nicht, weiblicher und internationaler wird und die Belegschaften älter werden. Deshalb ist es jetzt an der Zeit, dass wir die Chancen für diejenigen neu ausrichten, die ganz unabhängig davon, ob wir Boomzeiten oder eine Krise hatten, weit unter ihren Möglichkeiten bleiben mussten. Das bezieht sich übrigens nicht nur auf diejenigen, die im Arbeitsmarkt sind, sondern vor allem auf diejenigen, die draußen sind. Dafür stellen wir mit dem Beschäftigungschancengesetz die Weichen. Das ist ein Anfang. Das ist noch nicht die Antwort auf alles; aber wir stellen damit die Weichen, die wir jetzt stellen müssen. Deshalb ist es richtig, das Beschäftigungschancengesetz auf den Weg zu bringen.
Dieses Gesetz gibt uns die Möglichkeit, durch die Jobcenterreform erstens eine solide, eine verlässliche Basis für eine schnelle und gezielte Vermittlung in Arbeit herzustellen. Es ist allerhöchste Zeit. Alle hier im Hohen Haus wissen, dass Ende des Jahres das Fundament der Arbeitsvermittlung quasi gesprengt worden wäre.
Ich sage Ihnen: Zweieinhalb Jahre hat es Streit gegeben; aber jetzt hat sich eine Allianz der Vernünftigen im Bundesrat und im Bundestag zusammengefunden, eine Allianz der Vernünftigen,
die die Interessen des Landes, die Interessen der Menschen, die arbeitslos sind, und die Interessen einer Wirtschaft, die krisengeschüttelt ist, über ihre eigenen, kleinkarierten parteipolitischen Interessen gestellt hat. Deshalb gilt mein Dank stellvertretend Frau Homburger, Herrn Kauder und Herrn Steinmeier als Fraktionsvorsitzenden. Frau Künast, es tut mir leid, Sie sind nicht dabei. Das stört Sie, das merkt man; es sind genau die drei, die ich eben stellvertretend genannt habe.
- Man merkt an Ihrer Aufregung, wie sehr Sie das trifft. Das kann ich jetzt nicht ändern. - Mein Dank gilt den Ländervertretern, Herrn Beck und Herrn Tillich. Mein Dank gilt auch den unermüdlichen Unterhändlern dieser Reform in diesem Haus. Das waren Herr Kolb stellvertretend, Herr Schiewerling stellvertretend und Hubertus Heil stellvertretend. Diesen Dank sollten wir gemeinsam aussprechen.
Wir schaffen mit dieser Jobcenterreform zweitens ein lernendes System, nicht ein System, das zurückschaut, sondern ein lernendes System, das zeitnah überall in Deutschland Transparenz herstellt, sodass wir sehen können: Wer macht es gut? Was können wir von denen vor Ort lernen? Wer macht es schlecht? Wer muss von den besten Beispielen lernen, wie man die Menschen, die es besonders schwer haben, in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt?
Es geht nicht um irgendein Produkt, sondern um Menschen, die Hilfe suchen. Die Arbeitsvermittlung hat in den vergangenen Jahren einen deutlichen Modernisierungskurs eingeschlagen; das ist unbestritten. Der Erfolg ist messbar. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist gesunken. Aber wir alle wissen: Wir wollen und müssen besser werden. Das betrifft vor allem die drei Gruppen, die bislang auch in konjunkturell guten Zeiten nicht vom Aufschwung profitieren konnten. Wir wollen uns nicht mit der Tatsache abfinden, dass fast jede zweite Alleinerziehende in Langzeitarbeitslosigkeit ist. Das sind 660 000 Alleinerziehende mit 1 Million Kindern; diese machen rund die Hälfte der Kinder in Hartz IV aus. Wir wollen uns nicht mit der Tatsache abfinden, dass rund 200 000 arbeitslose Jugendliche schon am Lebensanfang keine Chance haben, mitzukommen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Ministerin, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil zu?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
Gerne.
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Frau Ministerin, erst einmal herzlichen Dank für die schöne Danksagung. Vielleicht sollten wir auch noch Staatssekretär Hoofe danken, der die Verhandlungen an Ihrer statt geführt hat.
Ich möchte nur eine Frage stellen, Frau Ministerin.
- Herr Kauder, bleiben Sie an dieser Stelle geschmeidig!
Herr Präsident, darf ich die Frage stellen, oder soll ich abwarten, bis Herr Kauder fertig ist?
Frau Ministerin, Sie haben drei Zielgruppen genant: Alleinerziehende, Jüngere und Ältere, die es als Langzeitarbeitslose am Arbeitsmarkt sehr schwer haben. Es ist richtig, in diesen Kategorien weiterzudenken. Aber können Sie mir einmal erklären, wie Sie all die Überschriften, die Sie jetzt produzieren, nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen durchsetzen wollen? Sie brauchen eine bessere Betreuungsrelation. Sie brauchen gute Maßnahmen, die auch finanziert werden müssen. Der haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sagt, für die Haushaltskonsolidierung in 2011, die auf ungefähr 10 Milliarden Euro taxiert wird, müsse Frau von der Leyen aus ihrem Etat ein Drittel bis zur Hälfte Beitrag leisten. Kann es sein, dass Sie vor der NRW-Wahl schöne Überschriften produzieren, aber nichts in der Tasche haben, um diese großen Sprünge zu realisieren, weil Sie die Unterstützung Ihrer Fraktion nicht haben?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
Herr Heil, gerade von Ihnen hätte ich eigentlich nicht erwartet, dass Sie von schönen Überschriften reden; denn Sie gehörten bei der Jobcenterreform zu der Allianz der Vernünftigen.
- Ja, ich meine das aufrichtig. Ich finde, man muss sich nicht immer nur im kleinkarierten Parteienstreit verhaken; es ist auch wichtig, Gemeinsamkeiten zu benennen.
Sie haben den Prozess selber mitbekommen. Die Politik hat sich aus unterschiedlichen Gründen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene auseinanderdividiert und konnte keinen gemeinsamen Nenner finden, wie wir die Arbeitslosenvermittlung vor Ort regeln.
- Nein, ich muss keine Frage stellen, sondern ich beantworte die Frage von Herrn Heil.
Wenn Sie mir Fragen stellen, dann müssen Sie ertragen, dass ich sie so beantworte, wie ich es für richtig halte.
Mir ist wichtig, dass wir bei diesem Punkt klarstellen: Zweieinhalb Jahre hat es diese Auseinandersetzung gegeben. Dass sich jetzt die Richtigen zusammengefunden haben und die richtige Reform auf den Weg gebracht wurde, betrachten wir mit hohem Respekt. Das war unabhängig von Wahlen. Hier haben sich Menschen zusammengetan, um den richtigen Weg zu gehen.
Sie wissen ganz genau, dass sie aus wahltaktischen Gründen eigentlich kein großes Interesse daran gehabt haben, dies zu machen. Wir haben es gemeinsam - darauf lege ich Wert - geschafft,
für die Menschen, die Hilfe brauchen, eine Lösung zu finden.
Nächster Punkt. Sie wissen, dass die Unterhändlergruppe gute Arbeit geleistet hat; das habe ich eben anerkannt.
Herr Heil, ich glaube nicht, dass ein Erfolg möglich gewesen wäre - das wissen auch Sie -,
wenn sich nicht diejenigen, die die Entscheidung zu vertreten haben, zusammengetan und Ja zu dieser Reform gesagt hätten.
- Na ja, ich beantworte alle Fragen, die mir gestellt wurden.
Jetzt komme ich zu der Frage nach dem Geld. Wir haben die Reform gemacht, weil wir für eine gute Vermittlung aus der Langzeitarbeitslosigkeit nicht nur die aktive Arbeitsmarktpolitik brauchen, sondern auch und vor allem Jobcenter vor Ort, die funktionieren. Wir geben 40 Milliarden Euro für die Grundsicherung aus,
für Menschen, die in Langzeitarbeitslosigkeit sind. Wir geben 10 Milliarden Euro für die aktive Arbeitsmarktpolitik aus; im Krisenjahr waren es 11 Milliarden Euro. Man sieht an den Relationen: Wenn wir die Mittel der Arbeitsmarktpolitik, also die Brücken in Arbeit, gut verwenden, wenn wir die Jobcenter vor Ort gut organisieren, dann ist das der richtige Weg. Denn wenn Menschen aus der Arbeitslosigkeit wieder in Arbeit kommen, sinken auch die hohen Kosten der Grundsicherung. Dieser Politik, Herr Heil, liegt ein Konzept zugrunde. Diese Politik zeigt den Menschen Chancen auf. Hier wird nicht fiskalisch gerechnet und dumm gekürzt, sondern hier wird mit den Mitteln der Arbeitsmarktpolitik der Weg in die Beschäftigung vorgegeben.
Dieses Konzept stelle ich Ihnen vor, und dieses Konzept vertrete ich hier.
Wir werden es nicht tolerieren, Herr Heil, dass zu viele Alleinerziehende, zu viele Jugendliche und viel zu viele Ältere, nämlich eine halbe Million, zu den Langzeitarbeitslosen zählen. Wir werden die Anstrengungen verstärken, um sie in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Es ist symptomatisch für die Opposition, dass in dem Moment, in dem wir sagen, dass wir die Anstrengungen verstärken und wie wir sie verstärken, sofort die geballte Kritik aus allen Rohren kommt: Diese Menschen stehen dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung. Daran kann man gar nichts ändern. Es gibt keine Jobs. Es gibt keine Kinderbetreuung. Es gibt keine Ausbildungsplätze. - Dieses Verhalten zeigt einen tiefen Fatalismus, zeigt ein statisches und rückwärtsgewandtes Denken. Dieses Denken brauchen wir in der Zukunft nicht. Wir wollen dynamisch denken. Unser Weg führt in die Zukunft.
Es ist richtig: Die Probleme sind erheblich. Viele Menschen vertreten die Haltung: Das geht nicht. Das können wir nicht. Das haben wir schon alles gehabt. - Aber bei dieser Haltung können wir doch nicht bleiben. Noch nie sind die Chancen so groß wie jetzt gewesen, für diese Gruppen einen Fortschritt zu erzielen.
Wir brauchen die Menschen. Wir stehen am Anfang einer konjunkturellen Erholung. Viele aus der Wirtschaft spüren schon jetzt den Fachkräftemangel. 46 000 Ausbildungsplätze konnten nicht besetzt werden, weil die geeigneten Bewerberinnen und Bewerber fehlen. Gleichzeitig sichert die Jobcenterreform vor Ort, dass in Zukunft die Kommunen, die alle sozialintegrativen Leistungen in der Hand haben, mit der Bundesagentur für Arbeit, die die Vermittlung in Arbeit als ihr Markenzeichen hat, zusammenarbeiten. Das heißt, vor Ort sind alle Instrumente vorhanden, um diese Menschen wieder in Arbeit zu bringen.
Wir werden die noch vorhandenen Hürden abbauen. Der Umfang der Kinderbetreuung wird dank des Kinderförderungsgesetzes, das wir in der letzten Legislaturperiode verabschiedet haben, ausgebaut. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Rechtsanspruch. Die Bundesagentur für Arbeit qualifiziert Tagesmütter. Diese können eingesetzt werden, um in den Randzeiten die Kinderbetreuung sicherzustellen.
Diese Hürden waren vor Jahren unüberwindbar, als Sie, Frau Künast, noch an der Regierung waren.
Was haben Sie dafür getan, dass der Ausbau der Kinderbetreuung vorangekommen ist?
- Deshalb schreien Sie jetzt so herum; das kann ich verstehen. Aber diese Hürden sind nicht mehr unüberwindbar; denn wir haben in der letzten Legislaturperiode etwas geleistet, wozu Sie nicht die Kraft gehabt haben.
Wir beobachten ein Phänomen, das es so vor der Krise noch nicht gegeben hat: Die Betriebe stehen inzwischen zu ihren Beschäftigten, insbesondere zu den älteren Beschäftigten. Es gibt keine Entlassungswellen. Es gibt keine Frühverrentungswellen, wie wir sie aus den vergangenen schwierigen Phasen kennen. Die Unternehmen suchen Azubis. - All das garantiert zwar noch keinen Erfolg; aber es sind die Grundvoraussetzungen dafür, dass wir besser werden können, dass wir mit einem anderen Blick und mit anderen Ansätzen als in der Vergangenheit, was in Fatalismus endete, vorankommen. Nein, wir werden mit den Instrumenten, die wir geschaffen haben, und der Basis, die uns jetzt zur Verfügung steht, diese Zusammenarbeit gemeinsam mit den Akteuren vor Ort - das sind die Kommunen, die Schulen, die Bildungsträger, die Unternehmen, die Gewerkschaften und die Kammern - für die Menschen sichern, die Arbeit wollen und brauchen und die diese Gesellschaft auch braucht.
Diese Zusammenarbeit gibt es in einigen ausgezeichneten Regionen schon heute. Von denen können wir lernen. Diese gute Zusammenarbeit soll aber nicht die Ausnahme bleiben; sie muss die Regel werden. Davon profitiert jeder vor Ort: die Menschen, die die Chance haben, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen, die Unternehmen, die die Arbeitskräfte vor Ort finden, die sie suchen, die Beschäftigten in den Jobcentern, die erleben, dass sie Erfolge haben, und Rückhalt für ihre Arbeit erfahren, und schlussendlich auch die Gesellschaft und die Sozialsysteme.
Wir wollen keine rückwärtsgewandten Parolen ?Das geht nicht!? mehr. Es kann gehen. Aber dazu brauchen wir die Bereitschaft, die Muster zu verändern; wir brauchen die Bereitschaft, die eingetrampelten Pfade zu verlassen. Dies ist nicht die Zeit der Zauderer und der Bedenkenträger. Dies ist die Zeit derjenigen, die den Mut zum Handeln haben.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Klaus Ernst ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben eben einen Auftritt unseres Wirtschaftsministers erlebt, bei dem ich den Eindruck bekommen musste, dass das eine oder andere, was er uns mitgeteilt hat, ganz vorsichtig ausgedrückt, zumindest nicht zu Ende gedacht ist. Herr Brüderle, Sie behaupten, Deutschland sei gut aufgestellt. Gleichzeitig reduzieren Sie Ihre Prognose für die wirtschaftliche Entwicklung, in der Sie noch vor kurzem von 2 Prozent Wachstum ausgegangen sind. Wie passt das zusammen? Sie müssen Ihre Prognose nach unten korrigieren, weil Sie merken, dass Ihre ökonomischen Vorstellungen nicht aufgehen.
Eine Analyse der Krise bleiben Sie uns schuldig. Sie sagen so richtungsweisende Sätze wie: Nur wenn wir Innovation als Chance begreifen, hat Innovation in Deutschland eine Chance. - Nachts ist es dunkler wie draußen, Herr Brüderle.
Solche Sätze bringen uns nicht weiter. Eine Analyse der Krise fehlt nach wie vor. Ich will Ihnen sagen, was an Analyse fehlt: Es fehlt, dass Sie feststellen, dass eine Ursache dieser Krise in der Bundesrepublik darin bestanden hat, dass die Verteilung des Volkseinkommens in der letzten Zeit nicht mehr stimmt. Wenn die Arbeitnehmer beim Lohn keinen Zuwachs mehr haben, wenn letztendlich nur noch diejenigen, die ihr Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen beziehen, Zuwächse zu verzeichnen haben, während der normale Mensch in der Bundesrepublik Deutschland mit Reallohnsenkungen zu rechnen hat - und das über Jahre -, dann ist klar, dass die Ökonomie nicht mehr funktioniert. Was ist Ihre Idee? Weitermachen wie bisher. Ich kann nicht akzeptieren, Herr Brüderle, wenn Sie weiter auf Flexibilisierung und offene Märkte setzen. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Deregulierung der Finanzmärkte eine Ursache dieser Krise war. Aber dazu kam von Ihnen kein einziges Wort.
Auch was die Deregulierung der Arbeitsmärkte angeht, Frau von der Leyen, kann ich nicht erkennen, dass Sie einen anderen Weg einschlagen wollen als bisher. Wenn die Deregulierung der Arbeitsmärkte wie die Deregulierung der Finanzmärkte fortschreitet, wenn wir nichts dagegen tun, dass durch Leiharbeit und durch Befristung die Löhne gedrückt werden, wenn Sie sich weigern, einen Mindestlohn einzuführen, dann - das ist die Wahrheit - ist es doch logisch, dass die Kaufkraft in diesem Lande kein Niveau erreicht, das vernünftiges Wachstum ermöglicht. Aber da unternehmen Sie nichts, Frau von der Leyen; auch Sie, Herr Brüderle, unternehmen da nichts.
Sie haben bisher auch nichts dagegen unternommen, dass weiterhin ein großer Teil dessen, was in dieser Wirtschaft erzeugt wird und an Wirtschaftsleistung erbracht wird, letztendlich auf den Finanzmärkten landet. Die Banken zocken; insofern haben Sie recht, wenn Sie sagen: Wir sind gut aufgestellt. Die Banken sind wahrlich gut aufgestellt. Herr Ackermann macht wieder seine Profite. Wenn wir nicht gegensteuern - das sage ich Ihnen -, beachten Sie eine Grundregel der Ökonomie überhaupt nicht. Das ist die VNKN-Regel, Herr Brüderle: von nichts kommt nichts.
Wenn man das Geld in die Finanzwelt abwandern lässt, wenn man nichts dagegen tut, dass die Banken, die Kredite billigst aufnehmen können, einem normalen Menschen aber 12 oder 13 Prozent Zinsen abverlangen, wenn er sein Konto überzieht, wenn Sie nichts dagegen tun, dass die Mittelständler, selbst wenn sie bei den Banken um Kredite betteln, keinen Kredit bekommen, weil die Banken mit dem Geld an den Finanzmärkten mehr verdienen können, als wenn sie es dem Mittelstand als Kredit geben, dann werden Sie Ihrer Aufgabe als Wirtschaftsminister nicht gerecht, Herr Brüderle.
Jetzt sage ich Ihnen, was notwendig wäre, um das zu ändern.
- Ja. - Wir brauchen eine Stärkung der Binnennachfrage. Diese Stärkung der Binnennachfrage erreichen wir nur dadurch, dass wir uns das Erfolgsmodell Deutschland, das wir einmal hatten, zumindest in Gedanken tatsächlich wieder vor Augen führen.
Worin bestand das denn? - Leistung muss sich lohnen.
Es war selbstverständlich so, dass Produkte aus Deutschland ganz besonders gefragt wurden.
Worin lag die Ursache? - Wenn jemand bei uns in der Bundesrepublik mehr Geld verdienen und als Unternehmer innovativ sein wollte, dann musste er sich etwas einfallen lassen. Er musste darüber nachdenken, welche neuen Produkte er einführt und welche neuen Verfahren er möglicherweise praktiziert.
Eines ging nämlich nicht: einfach die Löhne nach unten drücken oder die Arbeitszeiten verlängern. Das war entsprechend geregelt. Wenn Sie das aber nun vernachlässigen, dann heißt das in der Konsequenz: Erfolgreiche Innovationen sind nicht mehr gefragt, und es ist nicht notwendig, sich über neue Verfahren Gedanken zu machen, weil ein Unternehmer nun einfach die Löhne nach unten drücken oder die Arbeitszeiten verlängern kann.
Unser Erfolgsmodell Deutschland hing davon ab, dass es geregelte Arbeitsbeziehungen gab, aufgrund derer es nicht möglich war, mehr Geld zu verdienen, indem man die Leute mehr quälte. Diese Ebene haben Sie verlassen,
indem Sie zum Beispiel keine Regeln für Mindestlöhne aufstellen, indem Sie die Gewerkschaften massiv geschwächt haben, indem es nach wie vor kein vernünftiges Streikrecht gibt und indem Sie letztendlich flexible Arbeitsmärkte - es geht zum Beispiel um Leiharbeit, Befristungen und Ähnliches - nicht vernünftig regeln.
Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie für all das jetzt nicht sorgen, dann bereiten Sie jetzt die nächste Krise vor. Wenn Sie sich weigern, Regelungen dafür zu treffen, dass das Geld in die Realwirtschaft fließt und nicht in die Finanzmärkte abwandert, dann bereiten Sie die nächste Krise vor.
Herr Brüderle, es kann ja sein, dass Sie Ihre Brüderles in den Banken und Ihre Brüderles bei den Hoteliers damit möglicherweise gut bedenken,
aber ich kann Ihnen sagen: Es ist nicht akzeptabel, dass Sie sich kurz vor einer Wahl in Nordrhein-Westfalen hier hinstellen und Steuergeschenke verteilen, die letztendlich auf einer neuen Rechenart beruhen; denn es ist ja eigentlich nicht möglich, bei sinkenden Einnahmen mehr Geld auszugeben. Wenn Sie so verfahren, sagen Sie den Bürgern dieser Republik und insbesondere denen in Nordrhein-Westfalen nicht die Wahrheit. Die Wahrheit werden Sie aber präsentieren müssen, spätestens dann, wenn der Finanzminister wieder da ist. Er wird Ihnen nämlich vorrechnen, dass man Geld nur dann ausgeben kann, wenn man es hat. Er ist nämlich Schwabe, Herr Brüderle, und nicht aus der Pfalz.
Damit komme ich zum Schluss. Ich finde es absolut inakzeptabel, dass, wenn wir hier Vorschläge machen, permanent die Rede davon ist, die Linke würde Luftnummern verbreiten und könne nicht rechnen. Herr Brüderle, das, was Sie hier vorgelegt haben, ist nichts anderes als eine Luftnummer. Ich kann Ihnen sagen: Die Bürger werden das merken. Deshalb liegen auch Ihre Umfragewerte im Keller.
Ich danke fürs Zuhören.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einer Anmerkung zu der Rede von Herrn Steinmeier beginnen.
Herr Steinmeier, ich habe mit Interesse gehört - das ist ja ausdrücklich zu begrüßen -, dass Sie regelmäßig Besuche in Betrieben durchführen
und sich anhören, wo die Unternehmen der Schuh drückt. Ich habe nur den Eindruck, Herr Steinmeier, dass hier gilt - dabei kommt mir ein altes Wortspiel in den Sinn -: Gehört ist nicht verstanden.
Wenn Sie nämlich das, was Sie in den Betrieben gehört haben, tatsächlich verstanden hätten, Herr Steinmeier, dann müssten Sie die Arbeiten an der Neuausrichtung Ihrer Wirtschaftspolitik sofort stoppen - das wäre konsequent, Herr Steinmeier -
und dann müssten Sie die fortschreitende Abkehr Ihrer Partei und ihrer Fraktion von der Agenda 2010,
deren Architekt Sie im Bundeskanzleramt ja gewesen sind, unverzüglich aufhalten. Genau dies tun Sie aber nicht. Deswegen klaffen bei Ihnen Reden und Handeln auseinander.
Meine Damen und Herren, für eine Wirtschaftspolitik für Wachstum und Arbeitsplätze müssen wir, wie ich glaube - das ist aus dem bisherigen Verlauf der Debatte auch schon deutlich geworden -, Zweierlei tun. Wir müssen zum einen unser erfolgreiches Krisenmanagement fortsetzen.
Zum anderen müssen wir die Voraussetzungen für ein möglichst starkes Wachstum schaffen, damit sich die Perspektiven für die Unternehmen, die auch für das Niveau der Beschäftigung in unserem Lande von entscheidender Bedeutung sind, möglichst schnell wieder verbessern.
Ich will mit dem ersten Punkt, dem Krisenmanagement, beginnen und dabei auf das zentrale Instrument des Kurzarbeitergeldes zu sprechen kommen. Es war und bleibt das wichtigste Instrument in der Krise.
- Nein, die Kurzarbeit steht schon ewig im Gesetz.
Sie haben es genutzt, wie es andere Regierungen in dieser Situation auch getan hätten. Aber Sie haben es nicht hundertprozentig richtig ausgestaltet, Herr Heil. Deswegen war es wichtig - darauf hat unsere Fraktion gedrungen -, dass wir bei der Verlängerung der Erstattungsmöglichkeiten beim Kurzarbeitergeld Veränderungen vorgenommen haben. Ich hielt es für falsch, als Sie damals beschlossen haben, die Konzernklausel in das Kurzarbeitergesetz aufzunehmen, nach der, wenn in einem Betrieb eines Arbeitgebers mindestens sechs Monate Kurzarbeit durchgeführt wurde, alle Betriebe dieses Arbeitgebers ab dem ersten Tag die Möglichkeit erhielten, eine hundertprozentige Beitragserstattung zu bekommen. Das war aus meiner Sicht - ich habe das damals deutlich gesagt und wiederhole es jetzt noch einmal - für die großen Unternehmen eine Lizenz zum Ausplündern der Kasse der Bundesagentur in Nürnberg.
Dies haben wir korrigiert. Das war für uns wichtig.
Jetzt gilt wieder die arbeitgeberbezogene Ausrichtung. Ein Unternehmen, in dem Kurzarbeit durchgeführt wurde, hat ab dem siebten Monat die Möglichkeit, für die Arbeitnehmer dieses Unternehmens zu 100 Prozent die Beitragserstattung zu bekommen. Das halte ich für richtig und angemessen.
Für uns war auch wichtig, Herr Heil - das ist der zweite Punkt -, dass die Förderung tariflicher Kurzarbeit durch Beitragsmittel, die man avisiert hatte und die auch schon im Tarifabschluss im Metallbereich angelegt war, für die Zukunft ausgeschlossen wird.
Das wollen wir ausdrücklich nicht. Denn es kann nicht sein, dass es eine Tarifpolitik zulasten der Beitragszahler gibt.
Das werden wir nicht mitmachen.
Das Instrument der Kurzarbeit ist also wichtig. Es muss nachgesteuert werden. Das tun wir. Missbrauch befürchte ich nicht. Das will ich deutlich sagen; denn dafür ist das Instrument der Kurzarbeit für die Unternehmen zu teuer. Zwei Drittel der Kosten werden von den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern, also den Unternehmen, getragen. Das ist per se ein, wie ich denke, wirksamer Schutz gegen Missbrauch.
Für uns ist auch wichtig, dass es künftig bei Qualifizierungsmaßnahmen die Möglichkeit der hundertprozentigen Erstattung gibt. Diese Entscheidung haben wir sehr bewusst getroffen, weil wir die Wichtigkeit von Bildung und Weiterbildung im Berufsleben anerkennen und dies ausdrücklich fördern wollen.
Es gibt jetzt eine Exit-Strategie. Das ist wichtig. Das Ende der Krise rückt in den Blick. Das Licht am Ende des Tunnels wird sichtbar. Deswegen haben wir keine vollständige Synchronisierung der Bezugsfristen und der Erstattungsmöglichkeit vorgenommen, sondern die Erstattungsmöglichkeit nur bis zum Frühjahr 2012 verlängert. Danach gibt es selbstverständlich weiterhin Kurzarbeit, aber keine Beitragserstattung mehr. Diese Übergangslösung verhindert, dass es fallbeilartig zu einem Ende der Kurzarbeit kommt. Stattdessen wird sich die Förderung langsam ausschleichen. Das wird helfen, Brüche am Arbeitsmarkt zu verhindern.
Mein Kollege Vogel wird noch Weiteres zum Beschäftigungschancengesetz vortragen. Ich will zum Schluss meiner Ausführungen festhalten, dass wir unser Augenmerk jetzt auf die Anstrengungen zur wirtschaftlichen Erholung richten müssen.
Wir brauchen selbstverständlich weiterhin Steuersenkungen. Das Thema steht auf der Agenda. Arbeit muss sich lohnen. Wir brauchen Entbürokratisierung und auch Steuervereinfachung, Herr Kollege Ernst. Wir brauchen, um die Anregung der Ministerin aufzunehmen, eine moderne Form der Zuwanderung von qualifizierten Arbeitnehmern in unsere Volkswirtschaft. Das ist sehr wichtig.
Ich glaube, wenn wir den Weg fortsetzen, den wir in den letzten Monaten eingeschlagen haben, dann haben wir die besten Voraussetzungen dafür, dass die Unternehmen, nachdem sie in der Krise die Segel nach unten geholt haben, diese baldmöglichst wieder hochziehen können, damit der entstehende Wind die Segel füllt und die Schiffe wieder Fahrt aufnehmen.
In diesem Sinne, Herr Steinmeier - ich sehe durchaus konstruktive Beiträge, die Ihre Fraktion geleistet hat, ausdrücklich auch bei dem Thema Orga-Reform, das die Ministerin angesprochen hat; ich habe auch die Zusammenarbeit mit Ihrem Kollegen Heil in diesem Punkt als sehr angenehm empfunden -, wünsche ich Ihnen und uns Mut, Tatkraft, Weitsicht, Fingerspitzengefühl und das nötige Verständnis für die aktuellen Herausforderungen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält der Kollege Fritz Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem ich mir die bisher geführte Debatte angehört habe, frage ich mich schon, wie die Bundesregierung eigentlich aufgestellt ist. Ich mache das einmal an der Verlängerung des Kurzarbeitergeldes deutlich.
Natürlich kann man das Kurzarbeitergeld verlängern. Eine Verlängerung bis zum März 2012 ist aber doch ein Zeichen dafür, dass man die wirtschaftspolitische Situation für fragil hält; denn sonst würde man nicht einen so langen Zeitraum wählen. Wenn dies der Fall ist, kann man nicht, wie Herr Minister Brüderle es am Mittwoch und auch in seiner heutigen Rede getan hat, in eine Grundsatzeuphorie nach dem Muster ?Alles ist schon geregelt? ausbrechen. Entweder das eine oder das andere! An diesem Prozedere erkennen Sie, dass die Regierung insgesamt keinen gemeinsamen Nenner bei der Krisendeutung hat.
Frau von der Leyen - -
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Da sich die Ministerin gerade um eine Kollegin gekümmert hat, der unwohl war, sollten wir an dieser Stelle nun wirklich keine unnötige Spekulation anstellen.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau von der Leyen, Ihre eben gehaltene Rede war für mich kein argumentativer Höhepunkt. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Sie sprechen bei der vom Bundesverfassungsgericht erzwungenen Reform der Jobcenter von einer ?Allianz der Vernünftigen?. Das können Sie seriöserweise nicht tun, nachdem die CDU - das weiß die gesamte Öffentlichkeit - jahrelang die Reform der Jobcenter verhindert hat.
Das ist einfach nicht redlich. Meines Erachtens ist es eigentlich auch unter Ihrer Würde, hier mit solchen Zaubertricks zu argumentieren.
Die Verlängerung der Kurzarbeiterregelung ist okay. Ich bitte Sie aber, mehr Initiativen zu ergreifen, damit die Möglichkeiten zur Qualifizierung, die die Kurzarbeit bietet - die in der Quote heute nur bei 10 Prozent liegt -, ausgeschöpft werden. Dafür gibt es auch einen wirtschaftspolitischen Grund. Wir haben nämlich nicht nur Konjunkturkrise, sondern auch Strukturkrise.
Ein Merkmal der Überwindung einer Strukturkrise ist, dass Sie innerbetrieblich umsteuern und die Weiterbildung vorantreiben. Das wäre der entscheidende Punkt; das erwarten wir von einer Arbeitsministerin an dieser Stelle auch.
Frau von der Leyen, viel Neues haben Sie nicht vorgelegt. Vieles von dem, was Sie zum Beispiel in Bezug auf die Jugendlichen vorschlagen, ist bereits Gesetz. Eines ist mir aber wichtig: Wenn Sie etwas für die Alleinerziehenden tun wollen und deren Arbeitsfähigkeit und die Kinderbetreuungsmöglichkeiten verbessern wollen, dann tragen Sie dazu bei, dass man die Kommunen in ihrer finanziellen Basis nicht weiter ausbluten lässt.
Wenn sie Schulden und kein Geld haben, können sie die Kinderbetreuung nämlich nicht verbessern. Da können Sie Tagesmütter durch die Bundesagentur schulen lassen, soviel Sie wollen.
Meine weitere Bitte an Sie lautet: Wir müssen aufpassen, dass in den nächsten Jahren neue Arbeitsplätze in Deutschland nicht weiterhin in Form prekärer Arbeitsverhältnisse ausgestaltet werden. Vielmehr brauchen wir vernünftige Vollerwerbsarbeitsplätze. Wenn ich höre, dass Sie nach der Wahl die Weiterbeschäftigung auf befristeten Arbeitsplätzen in Form von Kettenverträgen erleichtern wollen, kann ich nur sagen: Das ist die falsche Politik. Wir müssen dazu kommen, dass nicht mehr Sicherheit in Unsicherheit verwandelt wird, sondern dass auf dem Arbeitsmarkt Unsicherheit zunehmend in Sicherheit verwandelt wird. Das schafft nämlich Vertrauen bei den Bürgerinnen und Bürgern sowie bei der Wirtschaft.
Herr Brüderle, als ich Ihre Ausführungen am Mittwoch gehört habe, habe ich mich schon gefragt, was denn in Sie gefahren ist. Angesichts Ihrer ?Wachstumsbesoffenheit? müssten Sie eigentlich in die Ausnüchterungszelle. Die von Ihnen vorgelegten Zahlen geben das nämlich nicht her. Sie sprechen jetzt von einem Wirtschaftswachstum von 1,4 Prozent im Jahr 2010 und 1,6 Prozent im Jahr 2011. Daraus leiten Sie ab, dass Geld ohne Ende in der Kasse ist, ignorieren aber, dass in der Haushaltsplanung des Bundes für die Jahre 2011ff. 2 Prozent Wachstum angesetzt sind. Diese Nummer, es sei genügend Geld für Ihre Steuersenkungspläne vorhanden, können Sie nicht seriös verkaufen. Die können Sie sich wirklich abschminken.
Sie agieren wie jemand, der kaum Geld und darüber hinaus noch Schulden hat, aber bei der Sparkasse Geld leihen will, weil er ein Haus für 1 Million Euro kaufen will, und dann, wenn die Sparkasse dafür keinen Kredit gibt, sagt: Dann nehme ich eben eines für 500 000 Euro. - Das ist doch absoluter Unsinn. So kann man nicht agieren. Wer die Steuern nicht um 35 Milliarden Euro senken kann, der hat auch keinen Spielraum für eine Steuersenkung von 16 Milliarden Euro, die Sie in Ihrem jüngsten Fünfstufentarif vorgeschlagen haben.
Ich habe selten in der Politik erlebt, dass jemand mit der Verve, mit demselben Tempo und mit dem Karacho wie die FDP zum zweiten Mal an die Wand fährt und eine Politik der Unmöglichkeit zum Programm erklärt. Wir müssen ab 2011 wegen der Schuldenbremse jedes Jahr 10 Milliarden Euro weniger Schulden machen. Es gibt unendlich viele Risiken auf dem Finanzmarkt. Hinzu kommen die Probleme in der EU und in Griechenland. Das alles kostet Geld. Und dann kommt die FDP und will uns erzählen, es sei kein Problem, die Steuern um 16 Milliarden Euro zu senken; im Zweifelsfall gebe es ja noch das Liberale Sparbuch. Ich sage: Das ist keine seriöse Politik. Es wundert mich nicht, dass die Wirtschaftseliten in Deutschland der FDP fluchtartig davonlaufen, weil sie es satt haben, dass man eine Politik als machbar verkauft, die irreal ist. Sie von der FDP sind Irrealos geworden. Herr Brüderle, Sie sind kein seriöser Wirtschaftsminister, der Vertrauen im Land schafft.
Ich will es noch einmal klarmachen, Herr Wirtschaftsminister. Die Aufgabe eines Wirtschaftsministers am Ende einer Krise, also dann, wenn es einen konjunkturellen Aufschwung gibt, ist doch, Seriosität und Vertrauen nicht nur bei den Konsumenten, sondern auch bei der Wirtschaft zu erwecken, damit diese investiert. Aber Ihre Dampfplaudereien über ein Wachstum der Wirtschaft und eine tolle Konjunktur sind insgesamt nicht dazu angetan, neues Vertrauen zu schaffen.
Sie sind ein Ankündigungsguru: Ich nenne nur das Stichwort ?Entflechtungsgesetz?. Heute war es mucksmäuschenstill, als Sie dieses Wort in den Mund genommen haben.
Sie haben versucht, als Tiger zu springen, sind aber schon jetzt als Bettvorleger gelandet.
Das wird nichts, weil Sie sich nicht trauen, sich mit den wirklichen Lobbys in Deutschland anzulegen. Deswegen sind Sie in der Koalition in einer Rückzugsbewegung.
Unser Hauptvorwurf lautet: Sie sind nicht in der Lage, Innovations- und Wachstumspotenziale so zu mobilisieren, dass Arbeitsplätze entstehen. In der Energiepolitik gehen Sie mehrere Schritte rückwärts. Die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke wird überhaupt nichts bringen. Sie bremsen beim Ausbau der Erneuerbaren. Das Energiedienstleistungsgesetz, mit dem Sie jetzt die EU-Richtlinie umsetzen, schafft keine neuen Arbeitsplätze. Dänemark hat geregelt, dass die Energieversorger Kunden in der Form bei Einsparungen helfen müssen, dass die Kunden jedes Jahr 1,2 Prozent weniger Strom und Wärmeenergie verbrauchen. Das führt auf breiter Basis zur Entwicklung neuer Technologien. Was macht Brüderle? Alle müssen wissen: Er verlangt, dass in der Stromrechnung Telefonnummern von Handwerkern mit aufgeführt werden, die vielleicht dabei helfen können, etwas einzusparen.
Was Sie machen, ist Innovationsverweigerung. Das kostet Arbeitsplätze. Sie sind in einer Rückwärtsbewegung in der Energiepolitik.
Dafür gibt es einen Grund: Sie sind nicht der Innovationstreiber, sondern Sie sind abhängig von alten Lobbys. Es ist das Kernproblem der FDP, dass sie nicht das Neue verteidigt, sondern dass sie von der Lobby getrieben wird. Die Spenden, die Sie für Ihre falschen Versprechen bekommen, zeigen, dass etwas daran ist.
Herr Brüderle, ich komme zum Schluss. Sie als Wirtschaftsminister müssen sich endlich daranmachen, durch Innovationen neue Arbeitsplätze zu schaffen. Wir nennen das Green New Deal. Damit kann man neue Jobs schaffen. Aber mit Ihren Manövern und Ihrer selbstsuggestiven Politik werden Sie keinen Blumentopf gewinnen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Dr. Joachim Pfeiffer ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal ist es gut, sich klarzumachen, wo wir eigentlich stehen. Wir befinden uns im Jahr 2010, und noch haben wir die größte Wirtschafts- und Finanzkrise, die diese Republik je hatte, noch nicht durchgestanden. Herausgekommen aus dieser Krise sind wir erst, wenn wir an die Entwicklung zwischen 2005 und 2008 anknüpfen - damals waren wir in vielen Bereichen auf dem richtigen Weg - und dauerhaftes Wachstum schaffen.
In der Tat wird ein wesentlicher Teil des Wachstums in diesem Jahr durch Konjunkturmaßnahmen bedingt sein. Im nächsten Jahr muss das anders sein. Unsere zentrale Herausforderung ist - Herr Bundesminister Brüderle, Bundesministerin von der Leyen und andere Redner haben es angesprochen -, für ein dauerhaftes, selbsttragendes Wachstum zu sorgen. Die Erreichung dieses Ziels hat für diese Regierung oberste Priorität. 1 Prozent Wachstum schafft 6 bis 7 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen. 1 Prozent Wachstum schafft gleichzeitig 4,5 Milliarden Euro Mehreinnahmen in der Sozialversicherung, und das bei gleichzeitigem Rückgang der Ausgaben für Sozialtransfers in Höhe von 3 bis 5 Milliarden Euro. Wachstum ist also alternativlos. Wir müssen die Voraussetzungen für Wachstum schaffen. Wir tun dies, indem wir die Gütermärkte stärken. Was die Telekommunikation und die Post - sie sind angesprochen worden - angeht, gilt es zum Wohle der Wirtschaft und der Bürger deren Effizienzpotenziale zu heben und somit die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.
Wir müssen uns aber auch überlegen, wie auf intelligente Weise zukünftig Innovationen hervorgebracht werden können. Deshalb will und wird diese Regierung eine steuerliche Forschungsförderung einführen, deren Nutzen dreimal höher ist als ihre Kosten. Dadurch werden neue Produkte und Dienstleistungen auf den Markt gebracht. Langfristig schafft das Wachstumsperspektiven.
Diese Regierung wird auch für eine Vereinfachung des Steuerrechts und für Steuerentlastungen sorgen, und zwar mit dem Ziel, dass sich Leistung wieder lohnt.
Wir werden auch etwas für die Kommunen tun. Ich glaube, die Kommunen haben mittlerweile selber eingesehen, dass das unsägliche Auf und Ab bei der Gewerbesteuer nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Ziel muss es sein, eine Verstetigung der Einnahmen der Kommunen zustande zu bringen.
Ich will an dieser Stelle heute auch auf die besondere Rolle des Arbeitsmarktes eingehen. Hier wurde ja gefordert, die Reformen, die am Arbeitsmarkt durchgeführt wurden - ich gestehe durchaus, dass sie unter Rot-Grün eingeleitet und von der Großen Koalition fortgeführt wurden -, rückgängig zu machen. Das wäre falsch, weil die damit einhergehenden Maßnahmen wie auch moderate Tarifabschlüsse und Innovationen bei Dienstleistungen und Produkten dazu geführt haben, dass diese Republik 2008 das höchste Beschäftigungsniveau seit ihrer Gründung 1949 erreicht hat, nämlich über 40 Millionen Erwerbstätige.
Damit einher geht eine bessere Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte und Dienstleistungen im Ausland. Anders ausgedrückt: Wir können mehr exportieren. Dass Produkte und Dienstleistungen in Deutschland aufgrund der Maßnahmen der Bundesregierung preiswerter und effizienter als in anderen Ländern hergestellt bzw. erbracht werden, hat positive Auswirkungen auf den Export. Zum Beispiel werden aus Deutschland Maschinen und Konsumprodukte nach Frankreich geliefert. Davon haben auch die Franzosen etwas, weil sie so bessere und preiswerte Produkte bekommen. Man gewinnt dort also gleichzeitig Konsumentensouveränität zurück. Nicht anders verhält es sich mit Produkten und Dienstleistungen, die wir einkaufen. Das ist die positive Seite der Globalisierung und des europäischen Binnenmarktes.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Pfeiffer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
Wenn es sein muss, bitte.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Es muss nicht sein. Deswegen frage ich Sie ja.
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
Doch. Ich bin einverstanden.
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
Also, in der Tat bin ich gern bereit, nicht nur zur Kenntnis, sondern sogar freudig zur Kenntnis zu nehmen, dass wir diese Exportstärke haben. Ich habe gerade versucht, zu erläutern, was uns diese Überschüsse und diese Exportstärke bringen. Zunächst einmal ist es das Ergebnis von Reformmaßnahmen am Arbeitmarkt, von Strukturreformen der Unternehmen, von erhöhter Innovationskraft, dass wir so attraktive Produkte und Dienstleistungen haben, dass diese auch nachgefragt werden. Das ist der Grund dafür, dass wir bis zur Krise großes Wachstum hatten und das höchste Beschäftigungsniveau seit 1949 erreicht hatten. Da möchte ich Sie nun fragen, ob Sie bereit sind, dieses zur Kenntnis zu nehmen. Das ist nämlich das Ergebnis der Politik, die wir gemacht haben.
Verstehe ich Ihre Frage richtig, dass Sie uns nun allen Ernstes das griechische Geschäftsmodell empfehlen? Wollen Sie uns vorschlagen, die notwendigen Anpassungs- und Strukturmaßnahmen nicht vorzunehmen? Damit würden wir Gefahr laufen, auf die gleiche Schiene wie Griechenland und vielleicht auch manch anderes Land zu kommen. Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein.
Es kann ja wohl nicht sein, dass wir schlechter werden sollen, um uns an die anderen anzugleichen. Das ist nicht das Geschäftsmodell, das ich mir und das wir uns in dieser Koalition vorstellen.
- Die Frage ist noch nicht beantwortet!
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nach meinem Empfinden ist sie beantwortet, und das hilft auch der Einhaltung der vereinbarten Gesamtredezeit.
Ich lasse jetzt noch eine weitere Zusatzfrage zu, aber dann ist auch gut. - Bitte schön.
Michael Schlecht (DIE LINKE):
Herr Kollege Pfeiffer, Sie sagen, wir sollten nicht das Geschäftsmodell Griechenlands übernehmen. Das ist sicherlich nicht die Frage. Verstehe ich es aber richtig, dass Sie der Auffassung sind, dass die Griechen und andere Länder - aber hier ging es jetzt ja um Griechenland - das deutsche Geschäftsmodell zu übernehmen haben? Das deutsche Geschäftsmodell heißt ja: Lohndumping durch die Agenda 2010, Lohndumping durch Befristung, Leiharbeit, Mini-Jobs und Arbeitslosengeld II. All das hat ja dazu geführt, dass in Deutschland die Lohnstückkosten in den letzten zehn Jahren gerade einmal um 7 Prozent angestiegen sind. In allen anderen Ländern der Euro-Zone sind sie dagegen im Durchschnitt um 27 Prozent angestiegen. Sind Sie der Auffassung, dass die anderen Länder das Geschäftsmodell des Lohndumpings übernehmen sollten? Dann müssten Sie allerdings auch die Frage beantworten, zu was das am Ende führt, ob das dann nicht zu einer allgemeinen Deflation in Europa führt.
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
In der Tat halte ich es für einen Erfolg, dass es uns in den letzten zehn Jahren gelungen ist, den Anstieg der Lohnstückkosten zu bremsen. Denn dieses hat die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland gestärkt und letztlich, wie gesagt, zu mehr Wettbewerbsfähigkeit, zu erfolgreicheren Produkten und Dienstleistungen und zu mehr Arbeitsplätzen bei uns geführt.
Sie werden hier doch nicht allen Ernstes einen Anstieg der Lohnstückkosten propagieren wollen! Damit würde sich doch die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und vielleicht sogar ganz Europas im weltweiten Kontext verschlechtern.
Wenn Sie von Lohndumping reden, möchte ich dem entgegenhalten, dass die Höhe der Löhne in Deutschland weltweit und in Europa noch mit an der Spitze liegt.
Da kann ich also hinten und vorne kein Lohndumping erkennen. Ganz im Gegenteil: Genau diese maßvolle Entwicklung bei den Lohnstückkosten hat dazu geführt, dass wir heute besser dastehen als die anderen. Deshalb fordere ich in der Tat, dass sich andere an diesem Prozess, an dieser Entwicklung, sozusagen an dieser Benchmark, orientieren. Das ist der richtige Weg. Insofern haben Sie das richtig herausgearbeitet, nur die Schlussfolgerung war falsch. Vielleicht können wir darüber beim nächsten Mal noch einmal sprechen.
Ich möchte aber gern noch auf ein weiteres Thema, das angesprochen worden ist, eingehen. Das ist die Kaufkraft. Da muss man schon einmal mit dieser Mär aufräumen, die von Salonlinken, also von den Grünen über die SPD bis ganz Linksaußen, immer wieder gern verkauft wird, nämlich dass die Kaufkraft nur dadurch gestärkt werden könne, dass man die Reallöhne erhöht und die Reformen zurückdreht, die notwendig und sinnvoll waren. Das ist nämlich eine Milchmädchenrechnung. Das schadet vielmehr der Wettbewerbsfähigkeit und führt zu weniger Wachstum; weniger Wachstum führt zu weniger Arbeitsplätzen; und weniger Arbeitsplätze führen zu weniger Kaufkraft.
Ich kann Ihnen das auch noch einmal nach Adam Riese darlegen. Es ist offensichtlich - auch das Institut der deutschen Wirtschaft hat es gerade noch einmal ausgerechnet; das ist für alle nachlesbar -, dass von 1992 bis 2006 ein Reallohnanstieg von 1 Prozent zu 0,3 Prozent mehr Kaufkraft geführt hat, während ein Beschäftigungsanstieg von 1 Prozent zu 0,8 Prozent mehr Kaufkraft geführt hat. Daraus wird also ein Schuh. Es kann nicht darum gehen, einseitig Lohnsteigerungen oder sogar Steigerungen der Lohnstückkosten zu erreichen. Wenn wir die Beschäftigung, das Beschäftigungsvolumen insgesamt ausweiten, wenn wir mehr Menschen in Beschäftigung bekommen, wenn wir die Arbeitslosigkeit mit unseren Maßnahmen abbauen, wenn wir die Menschen aus der sogenannten stillen Reserve in den Arbeitsmarkt integrieren, dann wird mehr Kaufkraft geschaffen, dann entstehen mehr Arbeitsplätze, dann haben die Menschen auch mehr in der Tasche. Das Ergebnis ist dann, dass Wachstum und Beschäftigung dauerhaft steigen, und das hilft den Menschen. Es geht nicht umgekehrt.
Das ist die Politik, die wir verfolgen. Daran werden wir konsequent festhalten. Die Ergebnisse werden wir am Ende dieser Legislaturperiode sehen können. Dann werden Wachstum und Beschäftigung gleichermaßen gestärkt sein.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Regierung - das haben wir heute gehört - setzt auf Wachstum und auf individuelle Perspektiven für jeden Einzelnen auf dem Arbeitsmarkt. Das Maßnahmenbündel im Rahmen des Beschäftigungschancengesetzes, das heute vorgestellt worden ist, bringt das sehr gut zum Ausdruck. Zu nennen sind die maßvolle - das ist der Unterschied zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD - Verlängerung der Kurzarbeit und die gute Jobcenterregelung, die wirklich einen guten Kompromiss darstellt.
- Bitte, Herr Heil; sehr gerne. Wenn man etwas richtig gemacht hat, muss man auch gelobt werden. Was die Jobcenterregelung angeht, so ist schon zu Recht Lob an viele Beteiligte im Hause verteilt worden.
Gerade als jüngerer Vertreter in diesem Hause will ich aber darüber hinaus auf zwei Aspekte gesondert hinweisen. Da haben die beiden Regierungsfraktionen von Ihnen Lob verdient, Herr Heil. Da kümmern wir uns nämlich um jüngere Menschen und deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Es geht um zwei Punkte in diesem Maßnahmenbündel.
Zum einen ist die Vermittlungsoffensive für junge Menschen unter 25 Jahre zu nennen. Wir wollen festschreiben, dass endlich in jedem Jobcenter in Deutschland der Grundsatz gilt: Junge Menschen unter 25 Jahre, die arbeitslos sind, bekommen innerhalb von sechs Wochen ein Angebot für eine Arbeitsstelle oder für eine sinnvolle Qualifikationsmaßnahme. Sie wissen so gut wie ich, dass das derzeit mitnichten überall in Deutschland der Fall ist. Da gibt es vor Ort sehr wohl Licht und Schatten. Wir wollen die Schulen, die Kammern, die Unternehmen und andere vor Ort in diese Offensive einbeziehen und das Ganze bündeln; denn Arbeitslosigkeit wird dann zum Schicksal, wenn sie sich individuell verfestigt.
- Ja, das ist nichts Neues, aber es wird eben nicht überall umgesetzt. Wir machen Druck, dass dieses Ziel endlich Realität wird,
weil wir glauben: Jeder junge Mensch hat es verdient, Herr Heil, eine Perspektive zu bekommen.
Der Grundsatz von Fördern und Fordern, den Sie ja eingeführt haben, soll endlich auch für jeden jungen Menschen gelten; wir werden diesem Gedanken zur Umsetzung verhelfen.
Ich komme zu dem zweiten Punkt. Sie wissen, dass für diese Regierung und gerade für die FDP die Verbesserung der Zuverdienstregeln
- ja, Frau Nahles - ein ganz zentrales Projekt in der Sozialpolitik in dieser Legislaturperiode ist, weil sie einen ganz wesentlichen Beitrag dazu leisten kann, die Menschen stärker in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen.
Der zweite Punkt, den ich ansprechen will, ist die Zuverdienstregelung bei den Schülerferienjobs. Das haben wir jetzt ganz konkret herausgegriffen. Vor dem 1. Juni, also noch vor den Sommerferien, wird eine Regelung in Kraft treten, nach der junge Menschen, die in einer Familie mit Arbeitslosgengeld-II-Empfängern aufwachsen, die Chance haben, von dem Geld aus einem Schülerferienjob auch etwas zu haben. Das ist ein Thema - wie übrigens die Frage des Hartz-IV-Schonvermögens -, bei dem es ganz entscheidend auch um die Ethik geht, die in unserem Sozialstaat herrscht. Wir wollen eine Ethik, die auf Eigenverantwortung setzt und jedem Menschen Perspektiven zur freien Entfaltung bietet. Dabei spielt in meinen Augen eben auch ein Schülerferienjob, der oft das erste selbstverdiente Geld bedeutet, eine große Rolle.
Da besteht eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.
- Ja, Herr Heil. Wir mussten eben eine Lösung finden - Sie haben nämlich keine aufgezeigt -, die Gleichbehandlung schafft
im Hinblick auf diejenigen, die einen kleinen Job neben der Schule haben, vielleicht Brötchen verkaufen oder unter der Woche Zeitungen austragen. Sie müssen weiterhin den Grundfreibetrag von mindestens 100 Euro haben, bevor wir die grundsätzliche Hinzuverdienstregelung anpacken.
- Nein, Herr Heil, das ist die realistische Perspektive aus Sicht der betroffenen Menschen. Obendrauf muss es eben noch eine Möglichkeit für Schülerferienjobs geben. Denn wenn junge Menschen in den Ferien arbeiten - zum Beispiel Zeitungen austragen oder Brötchen verkaufen -, dann muss es auch die Möglichkeit geben, mehr als 100 Euro im Monat zu verdienen.
Wenn von zwei Schülern, die in unterschiedlichen Familien aufwachsen - die Eltern des einen haben einen Job, können arbeiten und zahlen möglicherweise auch Steuern, die des anderen sind bedauerlicherweise und hoffentlich nur vorübergehend Arbeitslosengeld-II-Empfänger -, der eine sein selbstverdientes Geld behalten kann und der andere nicht, dann ist das doch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.
Wir schaffen diese Ungerechtigkeit endlich ab und sorgen diesbezüglich für mehr Fairness im Sozialstaat.
- Sie haben ein Modell vorgelegt, das nicht funktioniert und diejenigen, die in den Ferien oder auch einfach während der Schulzeit nebenher arbeiten, ungleich behandelt hätte. Wir haben ein Modell, das alles zusammenbringt.
Das macht unseren Sozialstaat an dieser Stelle fairer und verdeutlicht, dass die Regierung sich nicht nur Gedanken darüber macht, wie wir neue Jobs schaffen können, sondern auch darüber, wie wir denjenigen eine Perspektive geben können, die vorübergehend benachteiligt sind.
In diesem Sinne vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Natürlich kann man in einer vom Wahlkampf geprägten Debatte wie dieser über Prozentpunkte diskutieren. Aber es bleiben doch zwei Dinge festzuhalten: Erstens. Deutschland ist langsam, aber stetig auf einen Wachstumskurs zurückgekehrt. Zweitens. Deutschland hat es in einer bemerkenswerten Art und Weise geschafft, seinen Arbeitsmarkt zu stabilisieren.
Das ist ein Verdienst der Bürgerinnen und Bürger auf der einen Seite, die die Nerven bewahrt haben, der Unternehmer - insbesondere des Mittelstands und des Handwerks -,
die zu ihren Arbeitnehmern stehen, auf der anderen Seite,
und es ist auch ein Verdienst der Politik,
insbesondere zweier unionsgeführter Bundesregierungen. Auch das muss man doch einmal sagen.
Ich hätte erwartet, dass auch die SPD, die ja an der letzten Regierung beteiligt war, an dieser Stelle klatscht. Es ist schon eine bemerkenswerte wahlkampfbedingte Selbstverleugnung, die Sie da an den Tag legen.
Es gab heute Kritik am Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Vielleicht hätte man eine andere Überschrift wählen sollen:
?Große-Koalition-Schaden-Beseitigungsgesetz? zum Beispiel, weil wir das korrigieren mussten, was mit Ihnen nicht machbar war.
Das betrifft zum Beispiel Ihr verschrobenes Familienbild in Bezug auf die Erbschaftsteuer. Ich halte es immer noch für skandalös, dass Sie Neffen und Nichten so behandeln wollten, als seien es Fremde. Außerdem ist die Substanzbesteuerung inakzeptabel.
Es ist schon bemerkenswert, wenn Herr Steinmeier sagt, es handele sich um Geldverschwendung, wenn man im Rahmen dieses Gesetzes zusätzliches Geld für die Familien aufbringt. Das ist ein Skandal.
- Doch. Er hat dieses gesamte Thema mit dem Titel ?Geldverschwendung? überschrieben. Das ist vollkommen falsch.
Aber ich gebe zu, dass der Silberstreif am Horizont, den wir in wirtschaftlicher Hinsicht momentan sehen, Geld kosten wird. Wir werden uns in dem Zusammenhang genau überlegen müssen, wie wir unsere Haushalte konsolidieren.
Da gilt es, klare Prioritäten zu setzen: Erstens. Wir müssen unsere Politik so ausrichten, wie Herr Brüderle es heute zu Recht angedeutet hat: Wir müssen sie an der deutschen Mittelschicht, am unternehmerischen, aber auch am Arbeitnehmermittelstand, dieser Republik orientieren.
Zweitens. Wir müssen aufpassen, dass wir den investiven Bereich nicht wieder als Steinbruch nutzen. Da haben wir in der Vergangenheit etliche Fehler gemacht; das gebe ich zu. Zum Beispiel hat man aus einer statistischen Betrachtung heraus gemeint, die Eigenheimzulage abschaffen zu müssen. Das war ein kompletter Fehler, und diesen dürfen wir beim Marktanreizprogramm und beim CO2-Gebäudesanierungsprogramm nicht wiederholen.
Das Thema Griechenland wurde hier angesprochen. Es ist schon spannend, Herr Ernst, dass Sie sagen, der deutsche Außenhandel sei schuld an der Misere in Griechenland. Was ist das für ein Wirtschaftsverständnis?
Zwei Dinge muss man ganz klar sagen:
Erstens. Natürlich können wir uns einen Staatsbankrott innerhalb der Euro-Zone nicht erlauben. Das würde eine neuerliche Bankenkrise bedeuten. Im Übrigen würde dies auch andere Staaten in Schwierigkeiten bringen. Das wäre das Ende der Währungsunion.
Zweitens. Einen Automatismus, einen Freibrief für Griechenland im Sinne eines europäischen Länderfinanzausgleichs darf es aber auch nicht geben. Dies könnten wir den Wählerinnen und Wählern nicht vermitteln.
Deshalb sage ich: Der Zugang zum Euro ist mit Lug und Trug erschlichen worden, übrigens, Herr Heil, begünstigt von der SPD
zu ihrer damaligen Regierungszeit. Ich stelle klipp und klar fest: Kontrolle ist legitim, und es war richtig, zu entscheiden, dass der IWF beteiligt wird. Er ist hilfreich. Denn ich glaube nicht, dass die anderen Staaten, die sich selber in schwierigen Haushaltslagen befinden, in diesem Zusammenhang die notwendige Konsequenz von den Griechen einfordern würden. Deshalb werden wir sehr genau darauf achten -
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
- letzter Satz -, dass die Griechen mit der notwendigen Konsequenz auf einen Konsolidierungskurs gebracht werden, auf dem sich Deutschland dank dieser neuen Bundesregierung bereits befindet.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 38. Sitzung - wird am
Montag, den 26. April 2010,
auf der Website des Bundestages unter ?Dokumente & Recherche?, ?Protokolle?, ?Endgültige Plenarprotokolle? veröffentlicht.]