Vor 60 Jahren hielt Ernst Reuter vor dem Reichstag seine Rede für ein freies Berlin
Dicht gedrängt standen am 9. September 1948 mehr als 300
000 Berliner auf dem Platz vor dem Reichstagsgebäude: Ernst
Reuter (SPD) appellierte dort an "die freien Völker der Welt",
Berlin nicht preiszugeben. Seit Juni 1948 blockierte die
Sowjetunion die Westsektoren der Stadt und behinderte gezielt die
Arbeit des rechtmäßig gewählten
Stadtparlaments.
Die drei Westsektoren und damit über zwei Millionen
West-Berliner waren seit Ende Juni 1948 durch die Sowjetunion von
der Versorgung zu Land und zu Wasser völlig abgeschnitten. Mit
einer spektakulären Hilfsaktion, der so genannten
Luftbrücke, versorgten die britischen und amerikanischen
Alliierten die Stadt fast ein Jahr lang mit Lebensmitteln sowie
Kohle und Treibstoff zur Strom- und Gaserzeugung. Im Minutentakt
landeten die vom Volksmund bald "Rosinenbomber" genannten Flugzeuge
auf den Flughäfen Tempelhof und Tegel.
Ernst Reuters umjubelte Rede vor dem Reichstagsgebäude
wurde auch als Protest gegen diese, für die Berliner
existenzielle Blockade des Westteils der Stadt verstanden. Er
appellierte an die Widerstandskraft der Bürger: Sie werde
"größer und stärker werden, bis die Macht der
Finsternis zerbrochen und zerschlagen sein wird. Und diesen Tag
werden wir an dieser Stelle, vor unserem alten Reichstag mit seiner
stolzen Inschrift 'Dem Deutschen Volke' erleben und werden ihn
feiern...", so Reuter, der zwar als Regierender Bürgermeister
von Berlin rechtmäßig gewählt, aber von den Sowjets
nicht anerkannt worden war. Ihr Veto verhinderte Reuters
Amtsantritt, also sprach er vor dem Reichstagsgebäude
lediglich in der Funktion eines Stadtrates.
Direkter Auslöser seines Appells war allerdings nicht die
Blockade selbst, sondern die gezielte Behinderung des
gewählten Stadtparlaments Groß-Berlins durch
SED-Demonstranten. Die Partei hatte bei den Wahlen für
die gemeinsame Stadtverordnetenversammlung im Herbst 1946 nur 19,8
Prozent der Stimmen erhalten. Für SPD, CDU und die liberale
LPD hatten hingegen viermal so viele Berliner gestimmt. In
den folgenden Monaten wurden die Sitzungen des Parlaments immer
wieder von SED-Anhängern massiv gestört. Am 6. September
1948 musste eine Sitzung - bereits zum dritten Mal innerhalb von
zwei Wochen - abgebrochen werden. Mitglieder der SED waren in den
Sitzungssaal gestürmt und hatten Ordner des Magistrats
verprügelt. Am 9. September 1948 riefen schließlich alle
demokratischen Parteien zu einer Großkundgebung auf, um gegen
die Störaktionen zu protestieren.
Auf dieser Kundgebung hielt auch Ernst Reuter vor der Ruine des
Reichstagsgebäudes seine inzwische legendäre Rede. An die
SED gewandt rief er: "Wir möchten der SED nur einen Rat geben:
Wenn sie ein neues Symbol braucht, bitte, nicht den Druck der
Hände, sondern die Handschellen, die sie den Berlinern
anlegten." Dann sagte er den berühmten Satz: "Ihr Völker
der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in
Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt
und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben
könnt!"
Nach der Kundgebung kam es am Brandenburger Tor zu Auseinandersetzungen mit der Ost-Berliner Polizei. Mehrere Ost-Berliner wurden verletzt, ein 15-jähriger Teilnehmer der Kundgebung erschossen. Es gab zahlreiche Festnahmen. Die für den 5. Dezember 1948 angesetzten Wahlen fanden nur noch in den drei Westsektoren statt. Die SPD wurde stärkste Kraft, Ernst Reuter wurde Oberbürgermeister der drei Westsektoren.