Sehr geehrter Herr Präsident,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
In den Leitsätzen zur Vergabe des Medienpreises des Deutschen Bundestages heißt es, er wird für herausragende publizistische Arbeiten vergeben, die zur Beschäftigung mit Fragen des Parlamentarismus anregen und zu einem vertieften Verständnis parlamentarischer Abläufe, Arbeitsweisen und Themen beitragen. Das leistet die Arbeit, die zu prämieren wir uns entschlossen haben, im engen Sinne nicht. Die Leitsätze sind glücklicherweise nicht zu eng definiert. Sie erlauben es, auch Beiträge auszuzeichnen, die einen Bezug zu parlamentarischen Fragestellungen auf kommunaler oder Länderebene und selbst internationaler Ebene haben, sofern sie Aufschluss über Themen von allgemeinem parlamentarischen Interesse geben.
Die Arbeit von Dirk Kurbjuweit und Christoph Schwennicke gibt solche Aufschlüsse, weil sie einer Grundvoraussetzung von Demokratie und Parlamentarismus nachgeht, nämlich der Frage der Beteiligung, des Mitmachens. Demokratie lebt davon, dass es Bürger gibt, die wählen gehen, und Bürger, die sich wählen lassen. Die Autoren haben ihren Beitrag mit „Gefährliche Trägheit“ überschrieben. Sie glauben, dass die Demokratie in Deutschland Abnutzungserscheinungen zeigt, und sorgen sich, ob sie auf Dauer gesichert ist. Dieser Gefährdung sind sie auf der Spur, nicht akademisch, sondern, wie es sich für Reporter gehört, empirisch. Sie begeben sich auf eine Reise zu den Nachtseiten der deutschen Demokratie, dorthin, wo sie nicht so funktioniert, wie sie funktionieren sollte. Nach Ducherow im Landkreis Ostvorpommern etwa, wo die NPD 2005 bei der Bundestagswahl 12,6 Prozent der Zweitstimmen holte. Oder nach Anklam, ebenfalls in Mecklenburg-Vorpommern, wo sich zwei Mitarbeiterinnen der Bundeszentrale für politische Bildung am (Zitat) „Bildungsprojekt zur Entwicklung demokratischer Kultur in der Modellregion Ostvorpommern“ (Zitatende) abarbeiten. Oder Haldensleben in Sachsen-Anhalt, wo die Wahlbeteiligung bei der Bürgermeisterwahl von 45 auf 36 Prozent zurückging. Wohin die Autoren auch blicken, sie finden zahlreiche Belege für die wachsende Unlust, wählen zu gehen und der Demokratie wenigstens diesen kleinen Dienst zu leisten. In Berlin, dem großen Ost-West-Labor, stoßen sie beim Bezirksvergleich auf signifikante Unterschiede in der Wahlbeteiligung. Zwischen dem wohlhabenden Zehlendorf zum Beispiel gegenüber Neukölln und Marzahn-Hellersdorf, wo Lebens- wie Bildungsniveau im Durchschnitt deutlich niedriger liegen. So fördern sie mit ihren Beschreibungen, Statistiken, Umfragen und Expertenmeinungen plausible Ergebnisse wie diese zutage, dass diejenigen, denen es nicht gut geht, dem System die Schuld geben, und dass es die Mitte ist, die die Demokratie trägt. Doch sogleich erschüttern sie auch diese Gewissheit, weil sich auch in der Mitte, aus der sich das politische Personal rekrutiert, Unwillen breit macht, sich einzusetzen und mitzutun. Einer ihrer skurrilsten Belege ist Bad Hindelang im Landkreis Oberallgäu. Zur dortigen Kommunalwahl gab es nur noch einen Bürgermeister-Kandidaten. Von der CSU. SPD, Grüne, FDP und Freie Wähler mussten passen. Einige Gemeinderäte schrieben deshalb in ihrer Verzweiflung in der Bayerischen Staatszeitung eine Art Kandidaten-Kandidatur aus.
Auf ihrem Weg durch diese Republik und ihrer Suche nach den Gründen für die gefährliche Trägheit so vieler Wahlbürger kommen die Autoren unvermeidlich auch bei der fragmentarischen Politikvermittlung durch die Medien, insbesondere des Fernsehens, und schließlich bei Renate Köcher, der Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach an. Wer nicht liest, das hören Zeitungsleute gerne, verliert den Überblick, den Sinn für das Große und Ganze, für die Komplexität einer Demokratie. Auf ihrer langen Reise sind die Autoren am Ende beim Lesen, bei der alten Bildungsfrage angelangt, dass Demokratie Aufmerksamkeit und Zuwendung braucht. Das ist gewiss kein bahnbrechendes, gleichwohl aber logisches Ergebnis, weil das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie von urteilsfähigen Bürgern abhängt.
Über die handwerklichen Fähigkeiten von Dirk Kurbjuweit und Christoph Schwennicke müssen nicht viele Worte verloren werden. Sie haben – neben ihrem Studium – an renommierten Journalistenschulen eine solide Ausbildung absolviert, arbeiten seit vielen Jahren in angesehenen Verlagshäusern und zählen mittlerweile zu den erfolgreichen Journalisten hierzulande. Dass sie die Klaviatur der Stilmittel beherrschen, versteht sich von selbst. Trotzdem war ihre Arbeit nicht ohne Risiko. Denn sie haben ein Thema aufgegriffen, das in den Kontext dessen gehört, was landläufig unter Politikverdrossenheit abgehakt wird und was jede Zeitung, jeder Sender auf unterschiedlichste Weise schon traktiert hat. Die Kunst bei bereits eingeführten und schon breit abgehandelten Themen besteht nun darin, ihnen so viel Interessantes abzugewinnen, dass zwei Effekte beim Leser tunlichst vermieden werden: Erstens, dass er abbricht nach dem Motto „Kenne ich schon“, oder zweitens, dass er – besonders bei so umfangreichen Beiträgen – verweigert nach dem Motto „So genau will ich es gar nicht wissen“. Die Kunst eines Autors steckt also in der Antwort auf die Frage, ob der Leser wirklich etwas Neues erfährt oder mit Sätzen gelangweilt wird, die er so oder ähnlich schon häufig gehört und gelesen hat.
Der Sinn von Journalistenpreisen besteht nicht zuletzt darin, vorsichtigerweise müsste ich sagen, sollte darin bestehen, herausragende Texte zu prämieren, um damit Maßstäbe zu setzen für journalistische Qualität. Maßstäbe, an denen sich jüngere Kollegen orientieren können.
Man kann das Ganze auch einfacher sagen: Dirk Kurbjuweit und Christoph Schwennicke ist es gelungen, uns, die Jury, mit einem kontrastreichen, temporeichen, analytischen Stück zu beeindrucken.
Oder noch einfacher und gleichzeitig das höchste Lob für jeden Schreiber: Sie haben uns nicht gelangweilt.
In diesem Sinne herzlichen Glückwunsch zum Medienpreis des Deutschen Bundestags.