Eineinhalb Wochen nach den Wahlen zum Europäischen Parlament ist der Bundestag zu einer Debatte über den weiteren Kurs der Europäischen Union zusammengekommen. In einer Regierungserklärung erläuterte Bundesaußenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) am Donnerstag, 18. Juni 2009, die Positionen der Bundesregierung zum heute beginnenden Europäischen Rat in Brüssel, der sich unter anderem mit der Finanz- und Wirtschaftskrise, der Klimapolitik und dem Vertrag von Lissabon beschäftigt. Die Opposition warf dem Außenminister vor, in vielen Punkten vage geblieben zu sein.
In seiner Regierungserklärung sagte Steinmeier, die Finanz-
und Wirtschaftskrise habe die Europäische Union "mit voller
Wucht" erfasst. Der Umgang mit dieser Krise werde für Europa
zur Bewährungsfrage. "An der Reaktion auf diese Krise wird
sich Europas Zukunftsfähigkeit beweisen", so der
Außenminister.
Man dürfe nicht vergessen, wo die Krise ihren Ausgang genommen habe. "Deshalb nehmen wir uns die Finanzaufsicht vor. Wir haben gesehen und gelernt: Der Finanzmarkt braucht Regeln. Wir brauchen eine internationale Finanzmarktordnung ohne Grauzonen und schwarze Löcher." Zur Verbesserung der Finanzmarktaufsicht plädierte Steinmeier für die Schaffung eines Systemrisiko-Kontrollrats unter Leitung der Europäischen Zentralbank.
Steinmeier zeigte sich zudem zuversichtlich, dass es auf der
UN-Klimakonferenz in Kopenhagen im Dezember gelingen werde, zu
einer Lösung der drängenden Klimaprobleme zu kommen. In
Kopenhagen soll ein Nachfolgeabkommen des Kyoto-Protokolls
beschlossen werden, das 2012 ausläuft.
Der Außenminister bekannte sich ausdrücklich zu dem
Vertrag von Lissabon, der die gescheiterte Europäische
Verfassung ersetzen soll. "Wir sind hoffentlich auf der
Zielgeraden", sagte Steinmeier. Das größte Hindernis
bleibe die ungelöste Situation in Irland. Doch sei er
zuversichtlich, dass die Iren bei der für den Herbst geplanten
erneuten Volksabstimmung den Vertrag von Lissabon billigen
werden.
Der Partei- und Fraktionsvorsitzende der FDP, Dr. Guido Westerwelle, warf Steinmeier vor, in seiner Regierungserklärung keine konkreten Ziele genannt zu haben. Zum Thema Finanzmarktaufsicht sagte er: "Wie wollen Sie denn in Europa eine wirksame Finanzaufsicht zustande bringen, wenn Ihnen das nicht einmal in Deutschland gelingt." Die Sozialdemokraten hätten elf Jahre lang die Verantwortung für die Finanzaufsicht gehabt. Geschehen sei in dieser Zeit nichts.
Scharf kritisierte Westerwelle den Umgang der Bundesregierung mit
kleineren Ländern beim Thema Finanzpolitik. Mit Blick auf
entsprechende Äußerungen des Bundesfinanzministers Peer
Steinbrück (SPD) sagte er: "Mit der Kavallerie droht man
unseren Nachbarn nicht." Eine wesentliche Voraussetzung für
eine erfolgreiche Europapolitik sei die Tatsache, "dass sich kein
Land über ein anderes erhebt."
Unterstützung signalisierte Westerwelle für das Anliegen
der Bundesregierung, den Vertrag von Lissabon zum Abschluss zu
bringen. "Wenn man das Beste nicht kriegen kann, soll man das
Zweitbeste für Europa nehmen", so der FDP-Chef.
Vermisst habe er in der Regierungserklärung Steinmeiers eine eindeutige Aussage dazu, wie die Bundesregierung zu einer zweiten Amtszeit von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso stehe. "Hat die Bundesregierung überhaupt eine Haltung?", fragte er und warf ihr vor: "Sie sind ein vielstimmiger Chor. Das schwächt Deutschlands Interessen in Europa."
Der Fraktionsvorsitzende der Linken, Dr. Gregor Gysi, sprach sich
gegen den Lissabon-Vertrag aus. der noch ganz "im liberalen
Zeitgeist" abgeschlossen worden sei. Wenn sich Steinmeier jetzt
für mehr Regulierung und Finanzaufsicht ausspreche, so
widerspreche das dem Vertrag von Lissabon, der genau dies
ausschließe.
Dass dieser Vertrag in Kraft tritt, sieht Gysi nicht. "Das
Bundesverfassungsgericht entscheidet erst am 30. Juni, und danach
sprechen wir noch einmal. Vielleicht haben Sie ja das eine oder
andere übersehen", sagte der Abgeordnete mit Blick auf die
Verfassungsbeschwerde gegen den Vertrag, die unter anderem die
Linksfraktion in Karlsruhe eingereicht hat und über die
derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt wird.
Kurt Bodewig (SPD) warf Gysi vor, auf einer "antieuropäischen Welle zu reiten". Was er über die Bestimmungen des Lissabon-Vertrags zur Finanzaufsicht gesagt habe, sei "alles Unsinn". Mit dem Außenminister stimmte er überein, dass die EU eine europäische Finanzaufsicht brauche. Der SPD-Abgeordnete betonte die Bedeutung der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen und forderte eine globale Energierevolution.
Jürgen Trittin (Bündnis90/Die Grünen) sagte, er
vermisse in Steinmeiers Rede eine Antwort auf die Frage: Wie gehen
wir mit der Wirtschaftskrise um? Der Bundesregierung warf er vor,
das System der Finanzaufsicht verfestigen zu wollen, das in die
Finanzkrise geführt habe. "Wir brauchen eine koordinierte
europäische Wirtschaftspolitik, und das wird zurzeit
ausgerechnet von der größten Wirtschaftsmacht Europas,
der Bundesrepublik Deutschland, blockiert", so Trittin.
Auch beim Klimaschutz sei Deutschland zum Bremser geworden. Eine
zweite Amtszeit von Barroso als Kommissionspräsident lehnte
der Grünen-Politiker ab. "Ich halte Barroso für dieses
Amt nicht für geeignet", sagte Trittin. Der Portugiese habe
jahrelang selbst bescheidenste Fortschritte im Klimaschutz
blockiert.
In seiner letzten Rede vor dem Bundestag betonte Eduard Lintner (CDU/CSU), dass die EU in vielen Regionen der Welt als "überaus attraktives Modell" gelte. Es sei daher wichtig, die Hoffnungen, die viele Menschen mit der EU verbänden, nicht zu enttäuschen.
Der Vertrag von Lissabon hänge seit langer Zeit in der
Schwebe. "Es ist daher zu wünschen, dass es dem bevorstehenden
Gipfel gelingt, den Vertrag von Lissabon voranzubringen", so der
CSU-Abgeordnete.
Der Bundestag lehnte Entschließungsanträge der Linksfraktion ( 16/13367) und von Bündnis 90/Die Grünen ( 16/13391) ab. Während sich die Grünen gegen eine Nominierung von Amtsinhaber José Manuel Barroso zum EU-Kommissionspräsidenten aussprechen, weil er die Anforderungen in Krisenzeiten nicht erfüllt habe, plädierte die Linksfraktion gegen eine Vorentscheidung für die Nominierung und Wahl Barrosos.