Die Wahlperioden im Rückblick: Der sechste Deutsche Bundestag
Die Bundestagswahl am 27. September 2009 folgte auf ein Jubiläum: Vor 60 Jahren, am 7. September 1949, trat die Volksvertretung in der provisorischen Hauptstadt Bonn zu ihrer ersten Sitzung zusammen. Anlass für einen Rückblick auf 16 Wahlperioden, auf Meilensteine, Wendemarken, Personen und Entscheidungen.
Mit der Bildung der ersten SPD/FDP-Regierung 1969 endet die
20-jährige Regierungszeit der CDU/CSU. Willy Brandt,
späterer Friedensnobelpreisträger, wird auf Bundesebene
zum ersten sozialdemokratischen Regierungschef nach dem Krieg
gewählt. Auf die Westintegration der Bundesrepublik folgen nun
Entspannungsbemühungen gegenüber den Staaten des
Warschauer Paktes. Das Bild von Brandts Kniefall in Warschau geht
um die Welt.
"Mehr Demokratie wagen" lautet das Motto der ersten
Regierungserklärung Willy Brandts. Nach der Aufbruchstimmung
beginnt jedoch die sozialliberale Mehrheit im Bundestag im Streit
um die Ostpolitik durch einige "Abweichler" in den Reihen der SPD
zu bröckeln. 1972 kommt es zum ersten konstruktiven
Misstrauensantrag gegen einen Kanzler. Noch im selben Jahr stellt
Brandt die Vertrauensfrage. Der Bundestag löst sich nach drei
Jahren vorzeitig auf.
International sind es unruhige Zeiten: 1968 wurde der Prager Frühling niedergeschlagen, in Vietnam herrscht Krieg. Die Bundesrepublik steht Ende der sechziger Jahre wirtschaftlich wieder gut da. Doch politisch stehen die Zeichen auf Wechsel. Die studentische Protestbewegung verändert die Republik.
Bei der Bundestagswahl am 28. September 1969 gewinnt die SPD erneut
Stimmen hinzu (von 39,3 auf 42,7 Prozent), die FDP verliert weiter
und erhält 5,8 Prozent (vorher 9,5 Prozent). Die CDU/CSU
verliert leicht von 47,6 auf 46,1 Prozent.
Die Union wird stärkste Fraktion mit 242 Sitzen, doch erstmals
bilden SPD und FDP ein Regierungsbündnis mit einer Mehrheit
von zwölf Sitzen im Bundestag (SPD 224 Sitze, FDP 30). Am 21.
Oktober 1969 wird Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt. Der
Liberale Walter Scheel wird Außenminister.
Die "neue Ostpolitik" der SPD/FDP-Regierung soll das Verhältnis zur Sowjetunion, zur DDR und zu den anderen Ostblockstaaten normalisieren. Der Moskauer Vertrag und der Warschauer Vertrag verpflichten die Partner zum Gewaltverzicht und bekräftigen die Respektierung aller in Europa bestehenden Grenzen.
Die CDU/CSU enthält sich bei der Schlussabstimmung am 17. Mai
1972 im Bundestag der Stimme. Die Ostverträge treten zusammen
mit dem "Viermächteabkommen über Berlin" am 3. Juni
1972 in Kraft.
Der sechste Bundestag verabschiedet zahlreiche innenpolitische Reformgesetze, etwa das Bundesausbildungsförderungsgesetz. Zur Demokratisierung der Wirtschaft beitragen soll die Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes, die den Gewerkschaften freien Zugang in die Betriebe sichert und die Bildung von Betriebsräten in Kleinbetreiben erleichtert.
Zudem setzt der Bundestag das Alter für das aktive Wahlrecht
1970 von 21 auf 18 Jahre herab, das Alter für das passive
Wahlrecht von 25 auf 21 Jahre.
Ebenfalls 1970 setzt der Bundestag zum ersten Mal eine Enquete-Kommission ein. Die Kommission, die je zur Hälfte aus Abgeordneten und externen Sachverständigen besteht, befasst sich mit der auswärtigen Kulturpolitik. Eine weitere Enquete-Kommission für Fragen der Verfassungsreform folgt wenige Monate später.
Erstmals erscheint auch die Parlamentskorrespondenz "hib" (Heute im
Bundestag). 1972 beschließt das Parlament "Verhaltensregeln
für Abgeordnete", die der Geschäftsordnung des
Bundestages als Anlage 1 beigefügt werden.
Fast auf den Tag genau zwei Jahre nach der Wahl Brandts zum Bundeskanzler, am 20. Oktober 1971, unterbricht Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel (CDU) die Sitzung, um bekannt zu geben, dass der Friedensnobelpreis an Willy Brandt für "seine Politik der Verständigung mit den Staaten Osteuropas" geht.
Der Kanzler ist seit 1964 Parteivorsitzender der SPD und war von
1957 bis 1966 Regierender Bürgermeister von Berlin. Bereits
1949 war er in den Bundestag gewählt worden. Brandt, 1913 in
Lübeck als Herbert Ernst Frahm geboren, hatte nach der
Machtübernahme durch die Nationalsozialisten den Tarnnamen
Willy Brandt angenommen und war im April 1933 nach Norwegen
geflohen.
Gegenspieler des Bundeskanzlers Brandt ist Rainer Barzel, von 1964
bis 1974 Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Bundestag. Barzel
gehört dem Parlament seit 1957 an, war unter Kanzler Konrad
Adenauer Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen und
später in der ersten Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl
ab 1982 Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen. In der
Großen Koalition von 1966 bis 1969 hatte er eng mit dem
damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt
zusammengearbeitet.
Rainer Barzel glaubt, Brandt wegen der grundsätzlichen Auseinandersetzung um die Deutschland- und die Ostpolitik und der knappen Stimmenmehrheit für die Regierung auf dem Wege eines konstruktiven Misstrauensvotums ablösen zu können. In Artikel 67 des Grundgesetzes heißt es, dass der Bundestag dem Bundeskanzler das Misstrauen nur dadurch aussprechen kann, dass er mit seiner Mehrheit einen Nachfolger wählt und den Bundepräsidenten um Entlassung des Kanzlers ersucht.
Doch Barzel scheitert. Statt der erforderlichen 249 erhält er
bei der Abstimmung am 27. April 1972 nur 247 Stimmen. Eine der
fehlenden Stimmen gehört dem CDU-Abgeordneten Julius Steiner,
der im Juni 1973 behauptet, im Vorfeld der Abstimmung bestochen
worden zu sein.
Einen Tag nach dem gescheiterten Misstrauensantrag wird der Etat des Bundeskanzlers im Parlament aufgrund eines Stimmenpatts abgelehnt. Daraufhin werden die Haushaltsberatungen auf unbestimmte Zeit unterbrochen.
Am 20. September 1972 stellt Willy Brandt dem Bundestag die
Vertrauensfrage nach Artikel 68 des Grundgesetzes. Danach kann der
Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Bundestag
auflösen, wenn ein Antrag des Kanzlers, ihm das Vertrauen
auszusprechen, im Bundestag keine Mehrheit gefunden hat. Nur 233
Abgeordnete sprechen Brandt das Vertrauen aus, 248 votieren mit
"Nein". Der Bundestag wird aufgelöst, die sechste Wahlperiode
ist damit beendet.