Die Beteiligung von Bundestag und Bundesrat an Entscheidungen der Europäischen Union steht im Mittelpunkt der Bundestagsdebatte am Mittwoch, dem 26. August 2009, ab 13 Uhr. Das Bundesverfassungsgericht hatte das so genannte Begleitgesetz zum EU-Grundlagenvertrag von Lissabon ( 16/8489) am 30. Juni 2009 für verfassungswidrig erklärt, weil es Bundestag und Bundesrat keine hinreichenden Beteiligungsrechte bei Rechtsetzungen und Vertragsänderungen auf EU-Ebene einräumt. Zur Debatte stehen am Mittwoch fünf Gesetzentwürfe der Fraktionen, die in erster Lesung 90 Minuten lang beraten werden sollen. Die abschließende Lesung soll in einer weiteren Sondersitzung am Dienstag, 8. September, stattfinden.
Drei der fünf Gesetzentwürfe haben CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam eingebracht, ein weiterer kommt von CDU/CSU, SPD und FDP. Den fünften Entwurf hat die Linksfraktion vorgelegt. Der von allen Fraktionen mit Ausnahme der Linken eingebrachte Gesetzentwurf über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union ( 16/13923) stellt zunächst fest, dass das bisherige Begleitgesetz nicht im Bundesgesetzblatt verkündet wurde und somit als 'rechtlich nicht existent' gilt.
Kern des neuen Entwurfs ist ein "Integrationsverantwortungsgesetz“. Die Karlsruher Richter hatten in ihrem Urteil darauf abgehoben, dass die deutschen Verfassungsorgane bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU und bei der Festlegung von Entscheidungsverfahren in der EU dafür sorgen müssen, dass sowohl das politische System der Bundesrepublik als auch das der EU demokratischen Grundsätzen im Sinne des Grundgesetzes entspricht (Artikel 20 Absätze 1 und 2 in Verbindung mit Artikel 79 Absatz 3). Das Parlament muss dabei Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischem Gewicht behalten.
Im Entwurf heißt es, dass Bundestag und Bundesrat in EU-Angelegenheiten ihre "Integrationsverantwortung" wahrnehmen und in angemessener Frist über entsprechende Vorlagen beschließen sollen. So darf der deutsche Vertreter im Europäischen Rat einem Beschlussvorschlag zur Einführung einer gemeinsamen Verteidigung in der EU nur zustimmen oder sich enthalten, nachdem der Bundestag dazu einen Beschluss gefasst hat. Einen solchen Beschluss kann auch die Bundesregierung im Bundestag beantragen. Ohne einen solchen Beschluss muss der deutsche Ratsvertreter den Vorschlag ablehnen.
In einigen Fällen, etwa bei der Anwendung so genannter allgemeiner Brückenklauseln, mit denen der Übergang von der Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung beschlossen werden kann, darf der deutsche Vertreter im Europäischen Rat einer Vertragsänderung nur zustimmen, wenn Bundestag und Bundesrat ein entsprechendes Gesetz nach Artikel 23 Absatz 1 des Grundgesetzes erlassen haben. Dies gilt auch für die besondere Brückenklausel des Familienrechts mit grenzüberschreitendem Bezug. In den Fällen weiterer besonderer Brückenklauseln zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, zur Festlegung eines mehrjährigen Finanzrahmens, zum Schutz der Arbeitnehmer und der Umwelt sowie zum Beschlussverfahren im Rahmen der "Verstärkten Zusammenarbeit" einiger Mitgliedstaaten darf der deutsche Vertreter einer EU-Rechtsänderung nur zustimmen, wenn der Bundestag und gegebenenfalls auch der Bundesrat ihre Zustimmung zu diesem Beschluss erteilt haben. Schweigen gilt ausdrücklich nicht als Zustimmung.
Eine Erweiterung der geschriebenen Kompetenzen der EU (Flexibilitätsklausel) unterliegt ebenfalls dem Gesetzesvorbehalt. Auch wenn die EU Regelungen erlässt, die über ihre eindeutigen Zuständigkeiten hinausgehen, darf der deutsche Ratsvertreter nur zustimmen, nachdem dazu ein Gesetz nach Artikel 23 Absatz 1 des Grundgesetzes in Kraft getreten ist. Geregelt wird darüber hinaus der so genannte Notbremsmechanismus, wonach Mitgliedstaaten den Europäischen Rat anrufen können, um nationale Souveränitätsbereiche zu wahren. Möglich ist dies auf dem Gebiet der Strafrechtspflege und auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit.
Ein weiterer Gesetzentwurf der vier Fraktionen dient dazu, die Grundgesetzänderungen für die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon umzusetzen ( 16/13924). Festgelegt wird unter anderem, dass der Bundestag auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder Subsidiaritätsklage erheben muss, die von der Bundesregierung an den Europäischen Gerichtshof übermittelt wird. Das Gericht muss dann überprüfen, ob das Subsidiaritätsprinzip bei Entscheidungen der Europäischen Union beachtet wurde, ob also nicht in nationale Souveränitätsrechte eingegriffen wurde.
Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union ( 16/13925) wollen die vier Fraktion das Verfahren der Zusammenarbeit an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts anpassen. Der von Union, SPD und FDP vorgelegte Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union ( 16/13926) soll dies im Hinblick auf die Kooperation von Bund und Ländern leisten.
Künftig gibt die Bundesregierung dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme, ehe sie ihre Verhandlungsposition festlegt. Gibt der Bundestag eine Stellungnahme ab, legt die Bundesregierung diese ihren Verhandlungen zugrunde. Bei Stellungnahmen zur Rechtsetzungsakten der Europäischen Union legt die Bundesregierung einen Parlamentsvorbehalt ein, wenn der Beschluss des Bundestages in einem seiner wesentlichen Belange nicht durchsetzbar ist. Vor der abschließenden Entscheidung im Rat bemüht sich die Bundesregierung, Einvernehmen mit dem Bundestag herzustellen.
In zwei weiteren politisch bedeutsamen Fällen wird die Entscheidung der Bundesregierung dem Zustimmungsvorbehalt des Bundestages unterstellt: bei der Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sowie über die Aufnahme von Verhandlungen zur Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union.
Schließlich wird ein Gesetzentwurf der Linksfraktion beraten, der auf die Änderung der Grundgesetzartikel 23, 45 und 93 abzielt ( 16/13928). Für Gesetze, die die EU betreffen (Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 des Grundgesetzes) verlangen die Abgeordneten einen Volksentscheid. Die Möglichkeit der Subsidiaritätsklage will die Fraktion im Artikel 23 verankert sehen. Zudem soll der Europaausschuss des Bundestages ermächtigt werden können, die Rechte des Bundestages im Hinblick auf die vertraglichen Grundlagen der EU wahrzunehmen.