Die Bundestagspräsidenten - Teil 8: Dr. Rainer Barzel (1983 bis 1984)
Nach dem Bundespräsidenten ist er der höchste Repräsentant der deutschen Demokratie: Der Bundestagspräsident – protokollarisch der "zweite Mann im Staate". Mag seine politische Macht auch begrenzt sein, so genießt sein Amt doch höchstes Ansehen. Sein Wort hat in der Öffentlichkeit Gewicht. In unserer Serie stellen wir die zehn Männer und zwei Frauen an der Spitze des deutschen Parlaments vor. Hier: Dr. Rainer Barzel, achter Bundestagspräsident vom 29. März 1983 bis zu seinem Rücktritt am 25. Oktober 1984.
Er gehört zu den prägenden Gestalten der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte: Dr. Rainer Barzel (CDU). Er war Bundesminister, Fraktionschef, Parteivorsitzender und sogar Kanzlerkandidat seiner Partei. Ein gescheitertes Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) bremste 1972 jedoch seine steile Karriere. Sein höchstes politisches Amt trat Barzel 1983 an, als der Bundestag den gebürtigen Ostpreußen zu seinem Präsidenten wählte. In dieser Funktion regte er Debatten der Abgeordneten über ihr Selbstverständnis, aber auch Parlamentsreformen an. Doch gegen ihn erhobene Vorwürfe im Zusammenhang mit der "Flick-Affäre", die sich später als haltlos erwiesen, veranlassten Barzel schon im Herbst 1984 zum Rücktritt.
Rainer Barzel wird am 20. Juni 1924 im ostpreußischen Braunsberg als eines von sieben Kindern des Oberstudienrates Dr. Candidus Barzel und dessen Frau Maria geboren. Später zieht die Familie nach Berlin um, wo Barzel zunächst eine von Jesuiten geführte Schule, später das Gymnasium besucht. Nach dem Notabitur wird der 17-Jährige 1941 zur Luftwaffe eingezogen.
Seit 1943 Leutnant, nimmt Barzel bis 1945 bei den Seefliegern am Zweiten Weltkrieg teil. Bei diesen "verrückten" Einsätzen sei er nicht luftkrank, sondern bewusstseinskrank geworden, sagt Barzel später. Hier die Pflicht, dort das nationalsozialistische Regime. "Das heute Unbegreifliche gehört als traurige Erfahrung zu meinem Leben."
Nach Kriegsende beginnt Barzel in Köln mit dem Studium der Rechtswissenschaften und der Volkswirtschaft, das er 1949 mit dem Ersten Juristischen Staatsexamen beendet. Noch im selben Jahr promoviert er mit der Arbeit "Die verfassungsrechtliche Regelung der Grundrechte und Grundpflichten des Menschen". Der berufliche Einstieg in die nordrhein-westfälische Verwaltung gelingt ihm ebenfalls 1949.
Dort wird bald der damalige Ministerpräsident Karl Arnold auf den jungen Juristen aufmerksam und fördert ihn: Barzel arbeitet zunächst als Referent der nordrhein-westfälischen Vertretung beim Bi-Zonen-Wirtschaftsrat in Frankfurt, dann als Vertreter des damaligen nordrhein-westfälischen Ministers für Bundesangelegenheiten in Bonn, Carl Spieker.1954 tritt Barzel in die CDU ein, bereits im Jahr darauf beschäftigt ihn Arnold als Berater und Redenschreiber. Als dieser 1956 stürzt, wird Barzel selbst aktiver Politiker.
Er will selbst gestalten, nicht mehr "weisungsgebunden und abhängig" arbeiten, schreibt Barzel später über die Anfänge seiner politischen Karriere: 1957 erringt er ein Direktmandat und zieht in den Bundestag ein, dem er rund 30 Jahre angehören wird. In der Unionsfraktion macht sich Barzel rasch einen Namen: Man schätzt ihn aufgrund seiner rhetorischen Fähigkeiten und seiner juristisch geschulten Analysefähigkeit.
960, in der dritten Wahlperiode, wird er in den CDU/CSU-Fraktionsvorstand gewählt; Bundeskanzler Konrad Adenauer beruft den Nachwuchspolitiker im Dezember 1962 als Minister für Gesamtdeutsche Fragen in sein Kabinett. Barzel ist zu diesem Zeitpunkt 38 Jahre alt und das jüngste Mitglied der Bundesregierung.
1963 vertritt Barzel den erkrankten Fraktionschef Heinrich von Brentano. Als dieser 1964 stirbt, tritt er dessen Nachfolge an. Er gilt als Taktiker und beweist, , dass er auch widerstrebende Interessen in der Union geschickt auszugleichen weiß. Unter Kanzler Ludwig Erhard entwickelt sich Barzel zur Schaltstelle der Regierungspolitik. Als im Herbst 1966 die von Kurt-Georg Kiesinger geführte Große Koalition ihre Arbeit aufnimmt, arbeitet Barzel auch eng mit dem Fraktionsvorsitzenden der SPD, Helmut Schmidt, zusammen.
Es ist eine sachliche und effiziente Kooperation, aus der sich große gegenseitige Wertschätzung entwickelt. Schmidt nennt sein Pendant im Fraktionsvorsitz später einen "formidablen politischen Gegner und persönlichen Freund". Vor allem aber sorgen Barzel und Schmidt für den nötigen Zusammenhalt der Regierung, als Kanzler Kiesinger und Vizekanzler Willy Brandt kaum noch miteinander sprechen wollen. Die Fraktionsvorsitzenden sind in dieser Zeit die Garanten der Großen Koalition.
Nach der Bildung der sozialliberalen Koalition 1969 organisiert Barzel eine schlagkräftige Opposition. Er ist der Hoffnungsträger der CDU, setzt sich auch gegen den Konkurrenten Helmut Kohl im Ringen um den Parteivorsitz durch. Doch sein Stern beginnt zu sinken, als das von ihm 1972 gegen Willy Brandt angestrengte Misstrauensvotum an zwei fehlenden Stimmen aus den eigenen Reihen scheitert. Jahre später wird bekannt, dass zwei Unionsabgeordnete vom DDR-Ministerium für Staatssicherheit bestochen worden waren und so eine Kanzlerschaft Barzels verhinderten.
Dies bedeutet eine Zäsur in Barzels bis dahin so erfolgreich verlaufener Karriere. In der Folgezeit agiert der Oppositionsführer ohne politische Fortune. Zwar versucht er, in der Auseinandersetzung um die Ostverträge die Tür zur deutschen Einheit offenzuhalten und gleichzeitig die strikte "Nein"-Haltung seiner Partei in ein "So nicht!" umzuwandeln. Doch sein Rückhalt in der CDU/CSU-Fraktion bröckelt. Als diese bei der Bundestagswahl 1972 verliert, bestätigt man ihn zunächst wieder im Fraktionsvorsitz, doch nur wenige Monate später tritt Barzel zurück. Auch den CDU-Vorsitz gibt er ab.
Barzel zieht sich aus der ersten Reihe der Politik zurück, behält aber sein Bundestagsmandat und leitet von 1977 bis 1979 den Wirtschaftsausschuss sowie von 1980 bis 1982 den Auswärtigen Ausschuss. Erst nach dem Machtwechsel 1982 kehrt er wieder ins Rampenlicht zurück: Helmut Kohl, jetzt Bundeskanzler, ernennt seinen früheren innerparteilichen Konkurrenten zum Minister für Innerdeutsche Beziehungen.
Nach der vorgezogenen Bundestagswahl 1983 übernimmt Barzel dann sein höchstes politisches Amt: Der Bundestag wählt ihn zum Parlamentspräsidenten. Eine Aufgabe, die Barzel souverän meistert. Gerade die Grünen, mit denen ein anderer Politik- und Kleidungsstil in den Bundestag eingezogen ist, irritieren die etablierten Parteien. Eine Verschärfung der Geschäftsordnung, die diese "Auswüchse" bekämpfen soll, wehrt Barzel aber ab. "Keiner hat hier ein besseres Mandat als ein anderer", mahnt er in seiner Antrittsrede gemahnt.
Er erweist sich auch als "kluger Anreger und Erneuerer". Das bescheinigt Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert seinem Amtsvorgänger: "Unvergessen bleibt sein Engagement für die Parlamentsreform." So debattieren auf Barzels Vorschlag die Abgeordneten erstmals über das Selbstverständnis des Bundestags. Die sechsstündige Debatte gehört zu den Sternstunden des Parlaments.
Doch schon im Oktober 1984 gerät Barzel im Zusammenhang mit der "Flick-Affäre" in die Kritik. Die Vorwürfe gegen ihn führen nicht zu einer Verurteilung, doch Barzel tritt dennoch als Bundestagspräsident zurück. 1987 verzichtet er zudem auf eine weitere Kandidatur für das Parlament. Auch wenn er damit sein aktives Politikerleben beendet, so bleibt er doch bis zu seinem Tod der Politik als kritischer politischer Publizist verbunden.
Barzel veröffentlicht mehrere Bücher, darunter auch die 2001 erschienene Autobiografie "Ein gewagtes Leben". Politiker und Weggefährten würdigen ihn nicht nur als aufrecht-geradlinigen Politiker, der die deutsche Nachkriegszeit maßgeblich geprägt habe, sondern auch als Menschen, der persönliche Schicksalsschläge wie Krankheit, den Verlust seiner ersten beiden Ehefrauen sowie den Selbstmord seiner einzigen Tochter mit Würde und Haltung getragen habe. Am 26. August 2006 stirbt Rainer Barzel nach langer, schwerer Krankheit im Alter von 82 Jahren in München.