von Andreas Kaernbach
Die Geschichte des deutschen Nationalstaats ist zugleich eine
Geschichte des deutschen Parlamentarismus. Unter Bismarcks
Ägide vollzog sich der Wandel vom Deutschen Bund, einem
Staatsverband von zuletzt 34 nahezu souveränen Staaten, zum
föderalen Nationalstaat. Wenn auch einzelne der Bundesstaaten
sich noch der Parlamentarisierung ganz oder teilweise versagten,
durch das Dreiklassenwahlrecht in Preußen zum Beispiel oder
durch die altständische Verfassung in den beiden
Großherzogtümern Mecklenburg, so erlaubte nun doch der
Nationalstaat erstmals allgemeine, gleiche, direkte und geheime
Wahlen in ganz Deutschland - die Wahlen zum Reichstag. Die
neu errungene politische Macht der Bürger verlangte nach
angemessener architektonischer Repräsentation. Doch bevor der
Neubau eines Reichstagsgebäudes zustande kam, musste sich das
Parlament zunächst mit provisorischen Unterbringungen
zufriedengeben.
Der erste gesamtdeutsche Reichstag trat Ende März 1871 in
einem Gebäude in der Leipziger Strasse 75 erstmals zusammen.
Dieses hatte zuvor unter anderem dem preußischen
Abgeordnetenhaus als Tagungsort gedient, war aber in so schlechtem
baulichen Zustand, dass es bereits im darauffolgenden Monat zu
einer Debatte über den Neubau eines Parlamentsgebäudes
kam. Es ist bezeichnend für das Selbstbewusstsein der
Abgeordneten, dass sie den Vorschlag der Regierung, lediglich auf
dem Grundstück des Kanzleramtes ein kleineres
Parlamentsgebäude zu errichten, ablehnten. Sie forderten ein
frei stehendes Gebäude, da es sich doch, wie die Deutsche
Bauzeitung später formulierte, "um den bedeutendsten und dem
Range nach ersten Monumentalbau des deutschen Volkes" handele. Eine
Reichstagsbaukommission wurde eingesetzt, der Reichstag bezog als
neues Provisorium das Gebäude der Königlichen
Porzellanmanufaktur zu Berlin in der Leipziger Strasse 4 und
entschied sich bei der Wahl eines Baugrundstückes für das
künftige Parlamentsgebäude für die Ostseite des
damaligen Königsplatzes. Noch im Jahre 1872 wurde ein erster
Architektenwettbewerb ausgeschrieben. Über 100 Entwürfe,
darunter solche aus England, Amerika und Frankreich, erreichten die
Jury. Sie vergab einen ersten Preis, doch der Entwurf des
Preisträgers musste zu den Akten gelegt werden, da es nicht
gelang, den Besitzer des vorgesehenen Baugrundstückes, Graf
Raczynski zur Aufgabe seines dort gebauten Palastes zu bewegen.
Erst im Jahre 1882 einigte man sich mit den Erben des Grafen und
setzte die Enteignung gegen Zahlung einer Entschädigung
durch.
So wurde im Jahre 1882 der zweite Wettbewerb für das
Reichstagsgebäude ausgeschrieben. Von nahezu 200 eingereichten
Entwürfen erhielt der von Paul Wallot (1841-1912) den ersten
Preis. Der aus Oppenheim stammende Architekt hatte seine Lehrzeit
in Berlin unter anderem im Büro von Martin Gropius verbracht
und war später nach Frankfurt am Main übergesiedelt. Dass
Wallot und nicht ein Berliner Architekt den ersten Preis erhalten
hatte, führte zunächst zu einigen Intrigen und
Pressequerelen.
Auch blieb es Wallot nicht erspart, seinen preisgekrönten
Entwurf mehrfach überarbeiten zu müssen. Erst am 9. Juni
1884 konnte schließlich in einer prunkvollen Feier - Kaiser
Wilhelm I. und Reichskanzler Fürst Bismarck nahmen an ihr teil
- der Grundstein gelegt werden. In der Folgezeit musste Wallot
energisch darum kämpfen, die Kuppel - entsprechend seinem
ursprünglichen Entwurf - zentral über dem Sitzungssaal
anzubringen. Wallot betrachtete die Kuppel sowohl aus Gründen
der Lichtwirkung im Gebäude als auch für die
ästhetische Gesamtwirkung des Gebäudes, die Verteilung
der Baumassen also, als unerlässlich. Was seiner Konzeption
einen besonderen Rang verlieh, war die Tatsache, dass in der
damaligen Zeit ein solcher Kuppelbau eine technische
Meisterleistung darstellte, gleichsam ein Symbol zukunftsweisender
Ingenieurbaukunst. Nicht weniger energisch musste sich Wallot gegen
die Versuche Kaiser Wilhelms II. mitzuentwerfen, zur Wehr setzen.
Freilich trug ihm diese aufrechte Haltung kaiserliche Ungnade ein.
Diese äußerte sich in wiederholt auch öffentlich
vorgetragener unsachlicher Kritik an der Architektur des
Reichstagsgebäudes und führte zu des Kaisers Weigerung,
Wallot die Goldmedaille der großen Berliner Kunstausstellung
zu verleihen.
Am 5. Dezember 1894 endlich konnte die Schlusssteinlegung
gefeiert werden. Am gleichen Tag fand die Reichstagseröffnung
im Berliner Schloss statt. Kennzeichnend für die bestehende
Dominanz des Militärischen über das Zivile war der -
freilich von der Presse kritisierte - Umstand, dass der
Reichstagspräsident von Levetzow an der Zeremonie in der
Uniform eines Landwehrmajors teilnahm. Die gleiche Atmosphäre
erhellt aus dem Schicksal der Giebel-Inschrift. Bei der
Schlusssteinlegung fehlte sie noch, da der Wortlaut, "Dem Deutschen
Volke", dem Kaiser aus offensichtlicher Distanz zum
Parlamentarismus unwillkommen war. Er hätte dem Schriftzug
"Der Deutschen Einigkeit" den Vorzug gegeben. Erst im Jahre 1916,
mitten im Ersten Weltkrieg, wurde sie - entworfen von dem
Jugendstilkünstler Peter Behrens - mit der Zustimmung des
Kaisers angebracht, der in politisch schwieriger Lage dem Parlament
Entgegenkommen bezeigen wollte.
Zwei Jahre später stand das Reichstagsgebäude im
Mittelpunkt der revolutionären Ereignisse in Berlin. Nach der
Abdankung des Kaisers rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann
am 9. November 1918 von einem Fenster des Gebäudes die
Republik aus, und im Plenarsaal tagten die Berliner Arbeiter- und
Soldatenräte. Infolge der Unruhen in Berlin wurde die im
Januar 1919 gewählte verfassunggebende Nationalversammlung
nicht nach Berlin in das Reichstagsgebäude, sondern in das
Staatstheater nach Weimar einberufen und dort Anfang Februar 1919
eröffnet. Erst in der zweiten Hälfe des Jahres 1919
kehrten die Parlamentarier in das Reichstagsgebäude
zurück.
Wie der Beginn, war auch das Ende der Weimarer Republik eng mit
dem Schicksal des Reichstagsgebäudes verknüpft. Ein
vermutlich von dem holländischen Kommunisten van der Lubbe
gelegter Brand zerstörte den Plenarsaal des
Reichstagsgebäudes in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar
1933. Der Brand bot den Nationalsozialisten den willkommenen
Vorwand, in einer offenkundig schon vorbereiteten Aktion mitten im
Wahlkampf führende kommunistische Abgeordnete zu verhaften,
die sozialdemokratische Presse vorübergehend zu verbieten und
wichtige Grundrechte außer Kraft zu setzen. Wenigstens blieb
dem Reichstagsgebäude durch den Brand erspart, zum Ort der
Verabschiedung des "Ermächtigungsgesetzes" zu werden. Mit der
Annahme dieses Gesetzes am 23.März 1933 entmachteten sich die
verbliebenen Parlamentarier selbst. Lediglich die Sozialdemokraten
stimmten gegen das Gesetz. Die Abstimmung fand in der dem
Reichstagsgebäude gegenüberliegenden Krolloper
statt.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Gebäude
nicht mehr für parlamentarische Zwecke genutzt. In der
Endphase der Kämpfe um Berlin tobte ein besonders erbittertes
Gefecht um das Reichstagsgebäude, da seiner Eroberung von der
sowjetischen Führung offenkundig große symbolische
Bedeutung beigemessen wurde. Weltweit bekannt wurde das -
nachträglich inszenierte - Foto der Flaggenhissung durch
Soldaten der Roten Armee auf dem Hauptgesims der Ostfassade des
Reichstagsgebäudes.
Nach dem Krieg bildete die Ruine des Gebäudes den
Hintergrund für die gewaltige Demonstration der
Berliner. Am 9. September 1948 während der Blockade
Westberlins, als Oberbürgermeister Ernst Reuter seinen
berühmten Appell "Ihr Völker der Welt ... Schaut auf
diese Stadt" an die freie Welt richtete.
Zu Beginn der fünfziger Jahre wurden dann erste
Enttrümmerungsarbeiten in der Ruine durchgeführt. Infolge
einer fragwürdigen Entscheidung wurde die beschädigte
Kuppel gesprengt, später wurde ein Teil der Fassade unter
Entfernung historischer Stilelemente wiederhergestellt. Erst im
Jahre 1955 beschloss der Deutsche Bundestag den definitiven
Wiederaufbau, allerdings zunächst ohne Festlegung einer
späteren Nutzung. Nach Ausschreibung eines beschränkten
Wettbewerbs erhielt schließlich Paul Baumgarten im Jahre 1961
den Auftrag zum Ausbau des Reichstagsgebäudes. Dieser wurde
bis zum Jahre 1973 vollendet. Bereits im Jahr 1971 war vom
Deutschen Bundestag im Reichstagsgebäude die Ausstellung
"Fragen an die deutsche Geschichte" eröffnet worden.
Bundestagssitzungen durften seit dem Viermächte-Abkommen von
1971 ohnehin nicht in Berlin abgehalten werden, lediglich
Fraktions- und Ausschusssitzungen fanden daher in den neu
eingerichteten Sitzungssälen statt. Gleichwohl war im Zentrum
des Hauses ein vollständiger Plenarsaal hergerichtet worden,
der jederzeit den Abgeordneten eines wiedervereingten Deutschlands
hätte Platz bieten können.
Seine Stunde kam am 4. Oktober 1990: Das erste gesamtdeutsche
Parlament trat zu seiner ersten Sitzung im Reichstagsgebäude
zusammen. Doch das Gebäude sollte noch stärker in den
Mittelpunkt des politischen Geschehens rücken, und zwar durch
den Bundestagsbeschluss vom 20. Juni 1991, Parlament und Regierung
nach Berlin zu verlegen, sowie durch den Beschluss des
Ältestenrates des Deutschen Bundestages, das
Reichstagsgebäude zum Sitz des Bundestages zu
erheben.
Nach einem 1992 ausgelobten internatonalen Architektenwettbewerb
wurde Sir Norman Foster mit den Umbauarbeiten beauftragt. Mit der
Verhüllung des Gebäudes durch Christo vor Beginn der
Umbauarbeiten stand das Reichstagsgebäude im Jahre 1995 im
Blickpunkt der Weltöffentlichkeit.
Auch die Wiedererrichtung einer - wenngleich gegenüber Wallots Werk modifizierten - Kuppel ist inzwischen realisiert. Der Deutsche Bundestag eröffnete im April 1999 das umgebaute Reichstagsgebäude mit einer feierlichen Sitzung. Am 23. Mai 1999 wählte die Bundesversammlung den neuen Bundespräsidenten an gleicher Stelle. Im September 1999 verlegte der Deutsche Bundestag seinen Sitz endgültig nach Berlin. Von diesem Zeitpunkt an finden die Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude statt.