Es ist für mich eine große Ehre, an diesem Tag und an
diesem geschichtsträchtigen Ort zu Ihnen zu sprechen, der
heute das Parlament des vereinigten Deutschland beherbergt und den
ich zum ersten Mal besuche.
Aber diese Ehre geht auch mit einer großen inneren
Bewegung einher. Wir sind in Berlin, im Herzen Europas: diese
Stadt, die einst die Hauptstadt des Nazireiches war und danach das
Symbol des geteilten Europa, ist nunmehr das Symbol der
wiedererlangten Demokratie.
Die Ereignisse, derer wir heute gemeinsam gedenken, hat die Person
des öffentlichen Lebens, die Politikerin, die ehemalige
Präsidentin des Europäischen Parlaments, die Sie in mir
vor sich sehen, jedoch zunächst am eigenen Leib erfahren; ich
war eine namenlose abgezehrte Gestalt, als das Lager von
Bergen-Belsen befreit wurde, wohin mich die Willkürherrschaft
der Nazis nach Auschwitz verbannt hatte.
Die Sprache, die hier an diesem Ort gesprochen wird, diese deutsche
Sprache, die ich im Laufe der Jahre von meinen Freunden und
Partnern zu hören gelernt habe, war die Sprache, die wir
damals hastig und in der ständigen Angst, die Befehle, die
unser Überleben bedrohten, nicht schnell genug verstehen zu
können, zu entschlüsseln versuchten. Es ist die gleiche
Sprache, die nun ihren Geist und ihre Menschlichkeit wiedergefunden
hat und die heute in diesem schönen Plenarsaal erklingt, in
dem das Herz einer der lebendigsten Demokratien der
Europäischen Union schlägt.
Deutschland hat als erstes Land beschlossen, den 27. Januar, den
Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, zum Tag
des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus zu machen. Im
letzten Jahr hat Europa, oder genauer gesagt der Europarat,
beschlossen, Deutschland auf diesem Wege zu folgen.
In einer Zeit, in der sich die Europäische Union auf die
Aufnahme von Ländern vorbereitet, die durch die
Sowjetherrschaft so lange vom übrigen Europa getrennt waren,
kommt diesem Gedenken eine entscheidende politische Bedeutung zu:
von dem Platz, den dieses Ereignis im historischen Bewusstsein
Europas einnehmen wird, hängt es wesentlich ab, wie das Europa
der Zukunft aussehen wird.
Es ist beeindruckend, welcher Weg zurückgelegt wurde. Das
Datum des 27. Januar ist allein schon ein Sieg, der durch die
Erinnerungsarbeit errungen wurde: Als die ersten sowjetischen
Soldaten am 27. Januar 1945 das Lager von Auschwitz betraten,
fanden sie dort, voller Ungläubigkeit und Entsetzen, nur
einige Tausende Kranke und Sterbende, die durch ein Wunder den
Nazis entkommen waren. Einige Tage zuvor waren wir, Zehntausende
von noch lebenden Gefangenen von Auschwitz, darunter meine Mutter
und meine Schwester, unter Drohungen und Gewaltanwendung gezwungen
worden, uns zu versammeln und auf den "Todesmarsch" zu
begeben.
Anders als bei der Befreiung vieler Städte, wie beispielsweise
Paris, das dieses Jahr den sechzigsten Jahrestag seiner Befreiung
feiert, hatte die Befreiung der Konzentrationslager nichts
Festliches. Für die im Krieg befindlichen Armeen und
Völker war dies in diesem Augenblick nicht einmal ein
Ereignis.
Die Befreiung des Lagers, das hieß, dass die Gaskammern
nicht mehr arbeiteten, dass keine Züge mehr ankamen, dass die
unerbittlichen Befehle endlich verstummt waren. Die teuflische
Maschinerie, die in den letzten Monaten mit voller Kraft in einem
erbarmungslosen Tempo gelaufen war, kam zum Stillstand. Sie war um
so erbarmungsloser gelaufen, als die Nazis, die die Wende des
Krieges ahnten, ihr großes Werk der Vernichtung des
jüdischen Volkes vollenden wollten, bevor die Niederlage ihrer
Streitkräfte sie daran hindern konnte. Das Lager hörte
also auf zu funktionieren. Für die Tausenden von Deportierten,
die noch am Leben waren, schien die Bedrohung ihres Lebens
zunächst einmal gebannt.
Angesichts des schnellen Vorrückens der Roten Armee hatten wir
in Auschwitz damals gehofft, sehr rasch befreit zu werden, sofern
die SS uns nicht noch vorher ermorden würde.
Doch nach tagelangen Fußmärschen in Kälte und
Schnee bei minus 30 Grad, dann in offene Waggons gepfercht, die uns
in Richtung der Lager im Westen – Dora, Mauthausen,
Buchenwald, Bergen-Belsen – brachten, starben viele unterwegs
an Erschöpfung oder unter den letzten Kugeln der SS. Unser
Alptraum war noch lange nicht vorbei. Wir mussten noch mehrere
Monate auf unsere Befreiung warten. Viele von denen, die bis dahin
überlebt hatten, starben in dieser Zeit an Erschöpfung,
Hunger, Typhus und durch Exekutionen. Meine Mutter war darunter,
wie viele andere.
Ich erinnere mich an die Ankunft der englischen Soldaten in
Bergen-Belsen. Das genaue Datum weiß ich nicht mehr, wir
wussten nichts mehr. Wir konnten uns kaum darüber freuen. Die
Befreiung kam für uns zu spät. Wir hatten das
Gefühl, jede Menschlichkeit und jeden Lebensmut verloren zu
haben.
Wir, die wir zu den sehr wenigen Überlebenden gehörten,
hatten keine Familie mehr, keine Eltern, kein Zuhause. Wir waren
allein, und dies um so mehr, als keiner wissen wollte, was wir
erlebt hatten, keiner hören wollte, was wir gesehen hatten.
Die Last unserer Erzählungen wollte keiner mittragen. Wir
hätten eigentlich gar nicht leben dürfen: die
Übermacht der Nationalsozialisten war so erdrückend, dass
wir sogar die Unabänderlichkeit unseres Todesurteils
verinnerlicht hatten. Wir hatten überlebt, nur um dann
schweigen zu müssen. "Gut, leben können sie, aber
schweigen sollen sie", schien uns die Welt außerhalb der
Lager zu sagen.
Eine Fülle anderer Probleme nahm die Aufmerksamkeit in
Anspruch. Die Geschichte nahm unerbittlich ihren Lauf. Der Krieg
war noch nicht aus: er forderte noch viele Leben und ging bald zu
Ende, doch an seine Stelle sollten neue Spannungen treten. Die
Gesellschaften verbanden ihre Wunden. Die Gefangenen kehrten
zurück, doch ein Großteil Europas war zerstört. Der
Lärm der Waffen verstummte, aber durch Europa ging ein Riss.
Bald schon sollte auf der anderen Seite der Mauer ein anderer
Totalitarismus die Hälfte des Kontinents der Freiheit berauben
und jeden Dialog und jede Kommunikation unmöglich
machen.
Im ersten Augenblick war die Befreiung der Lager kein besonderes
Ereignis für die Welt, ebenso wenig wie für uns die
Rückkehr ins normale Leben, in das wir ohnehin bis heute nicht
zurückgekehrt sind. Wer kümmerte sich in dem vom
Nationalsozialismus befreiten Europa um die Überlebenden von
Auschwitz? Für die Geschichte, die man bereits zu schreiben
begann, für das traumatisierte Gedächtnis, das seine
ersten heilenden Mythen schuf, waren wir unerwünschte
Zeugen.
Das Gedenken an den 27. Januar 1945 war also nicht
selbstverständlich.
Die seither geleistete langsame und schwierige Erinnerungsarbeit
hat diesen Tag der Gleichgültigkeit entrissen, sowie sie uns,
den Zeugen des Unsagbaren, unseren Platz wiedergegeben hat. Nachdem
uns die Historiker zunächst ignorierten, trugen sie dann
unsere Berichte zusammen und berücksichtigten sie. Besonders
in Frankreich und in Deutschland ist die Erinnerung an die Shoah in
die Schulen vorgedrungen und hat in der Literatur und im Film ihre
Spuren hinterlassen.
Auschwitz ist zum Symbol des absoluten Bösen geworden, die
Shoah zum Kriterium der Unmenschlichkeit, auf das sich das moderne
Bewusstsein bezieht, wann immer es vom rechten Weg abzukommen
fürchtet, wann immer es ein gutes Gewissen haben möchte.
Die universelle Tragweite des Völkermords an den Juden steht
fest. Dieser Reifeprozess war notwendig: er hat das Nachdenken
über die Moderne erschüttert, das politische Denken bis
in seine Grundfesten revolutioniert und Fortschritte im
Völkerrecht bewirkt.
Aber ein Zuviel gefährdet hier die ursprüngliche
Absicht. Das aus seinem historischen Zusammenhang
herausgelöste Paradigma des Lagers ist zuweilen nur noch ein
beliebig verwendbares moralisches Symbol. Das ist nicht
ungefährlich. So kommt man sehr schnell zur Leugnung des
Geschehenen. Heute, wo die letzten Deportierten nach und nach
versterben und damit die Zeit der Zeugen zu Ende geht, sind die
Lehren aus der Shoah so gründlich gezogen worden, dass infolge
– gut- oder bösgläubig vorgebrachter –
undifferenzierter Äußerungen eine Banalisierung der
Shoah droht.
Nicht alle Genozide gleichen einander, nicht alle Verbrechen wiegen
gleich schwer, nicht jedes Massaker ist ein Völkermord. Europa
ginge in die Irre, wenn es sich an die Verbrechen der Nazis
lediglich als an ein aus der gesamten historischen Entwicklung
herausgelöstes einzigartiges Geschehen erinnerte. Es gilt
diesen Geschehnissen mehr denn je ihren angemessenen Platz im
europäischen Geschichtsbewusstsein zuzuweisen. Dies erfordert
ein umfassendes Nachdenken über den Zweiten Weltkrieg als Teil
der europäischen Geschichte.
Der Nationalsozialismus war in der Geschichte der Menschheit
eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes. Nicht nur, weil die
historische Machtergreifung Hitlers in nur wenigen Jahren
unmittelbar zur Vernichtung von vielen Millionen Menschenleben und
zur fast völligen Auslöschung des jüdischen Volks
und der Sinti und Roma führte, sondern weil für dieses
Grauen im Rahmen eines weltanschaulichen, historischen
Gesamtentwurfs ein beispielloses Vorgehen gewählt wurde. Ich
sage beispiellos, weil es meines Erachtens einen in dieser Weise
wissenschaftlich geplanten und durchgeführten Mord noch nie
gegeben hat. So gesehen wurden auch eine gesamte Zivilisation, die
Menschlichkeit selbst Opfer des Nationalsozialismus.
Diese Katastrophe ist zudem Teil einer langen Reihe geschichtlicher
Ereignisse, deren Höhepunkt sie in ihrer radikalen und
erschreckenden Neuheit darstellt. Jahrhunderte lange Bruderkriege
hatten Europa mit blutigen Kämpfen überzogen, wobei jeder
von ihnen sich von dem Hass nährte, den der vorhergehende
gesät hatte. Von Konflikt zu Konflikt haben Frankreich und
Deutschland ihr Nationalbewusstsein auf dem Nährboden dieser
Feindschaft entwickelt.
Europa hatte gerade eine erste Katastrophe hinter sich, die zur
Auflösung mehrerer Kaiserreiche geführt, Millionen von
Menschen entwurzelt und Millionen von Toten gefordert hatte. Man
kann sich heute kaum vorstellen, wie traumatisch das entsetzliche
Blutbad des Ersten Weltkrieges von 1914 – 1918 auf die
Zeitgenossen wirkte, denn das unvorstellbare Grauen des Zweiten
Weltkriegs hat für uns die Schrecken des Ersten Weltkriegs
überdeckt. Die Historiker haben allerdings einen unmittelbaren
Zusammenhang zwischen dem Trauma der blutigen Schlachten des Ersten
Weltkriegs und der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs hergestellt:
die Raserei des Nationalismus, die Erfahrung des Massensterbens
haben das Entstehen der späteren Formen des Totalitarismus in
der Tat unmittelbar beeinflusst. Denn sobald der Frieden
zurückgekehrt war, wurde die Erinnerung durch die Formen des
Gedenkens überdeckt, indem man das Martyrium der Soldaten
verherrlichte, ihren Kampf glorifizierte, den Krieg als heilig
hinstellte und zudem Rachegelüste nährte. Die damalige
Kultur, die politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in ihrer
Gesamtheit haben die Generation der zwanziger Jahre hervorgebracht
und den Boden für den Nationalsozialismus bereitet. Der
außerordentlich hellsichtige Bericht Sebastian Haffners, den
er 1938 von seinem Londoner Exil als Zeitzeuge unter dem Titel
"Geschichte eines Deutschen" über diese Epoche verfasste, ist
höchst wertvoll, weil er uns diese Zeit verstehen lässt,
in der der Nationalsozialismus Wurzeln schlagen konnte, und weil er
das Rätsel der begeisterten Zustimmung eines der
kultiviertesten Völker der Welt zu der schlimmsten
Schreckensherrschaft zu entschlüsseln hilft, die Europa je
erlebt hat.
Hass und Misstrauen vererben sich natürlich von Generation
zu Generation. Das vergossene Blut reißt die
Schützengräben künftiger Kriege zwischen den
Völkern auf. In den zwanziger Jahren hatte man zum Teil
bereits geglaubt, diese schicksalshafte Verkettung überwinden
zu können. Man muss die "Erinnerungen eines Europäers"
von Stefan Zweig nachlesen, um zu ermessen, welche Verzweiflung die
Nachricht vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auslöste. Ich
zitiere "Es war wieder Krieg, ein schrecklicherer und
größerer Krieg, als die Erde ihn je gekannt hatte.
[…] Denn meine innerste Aufgabe, an die ich alle Kraft
meiner Überzeugung durch vierzig Jahre gesetzt, die friedliche
Vereinigung Europas, sie war zuschanden geworden. […] Und
Stefan Zweig fügt hinzu: "Europa, unsere Heimat, für die
wir gelebt hatten, war für eine Zeit zerstört, die weit
über unser Leben hinausgehen würde." Diese Verzweiflung
darüber, dass dieses "Niemals wieder" nun doch, und noch
schlimmer als in der Vergangenheit, wiederzukehren drohte, war die
furchtbare Enttäuschung, die alle Europäer der ersten
Stunde erlebten. All dies muss man sich vor Augen führen, um
sich nicht einer unvertretbaren Naivität schuldig zu machen.
Das "Niemals wieder" hat künftige Generationen noch nie zu
schützen vermocht. Es braucht mehr als Worte, mehr als gute
Vorsätze, mehr als gute Absichten.
Ebenso entscheidend ist es, sich auf verantwortungsvolle Weise
zu erinnern. Je nach der dahinter stehenden Intention nährt
das Erinnern den Hass und künftige Kriege oder bildet das
solide Fundament eines gemeinsamen konstruktiven Unterfangens. Das
ist nicht selbstverständlich. Es ist nicht leicht, sich auf
Leid und Tod, auf Trauer und Tränen zu berufen, um an der
Versöhnung zu arbeiten und neue Bande zwischen verfeindeten
Völkern zu knüpfen, die sich so oft bekämpft haben.
Aber mit dem Zweiten Weltkrieg, mit den Verbrechen der
Nationalsozialisten, mit der Shoah und ihren Millionen Toten ohne
Gräber, mit dem Versuch, das jüdische Volk
auszulöschen, einem Plan, dessen Vollendung nur durch das Ende
des Krieges knapp verhindert werden konnte, haben wir eine Schwelle
überschritten. Die lange Geschichte des Hasses und der
mörderischen Bruderkriege hatte einen Punkt erreicht, an dem
es kein Zurück mehr gab. Ohne die gezielte Bemühung um
Aussöhnung, so hart sie für uns Überlebende, die wir
zudem vielfach unsere Familien großenteils verloren hatten,
auch sein mochte, würden sich die Völker Europas nicht
von dieser Katastrophe erholen. Dessen war ich mir bewusst: auch
wenn es den Anschein haben mochte, als vergäßen wir so
unsere Toten. Aus dieser leidvollen Erfahrung rührt mein
Engagement für die Aussöhnung zwischen Frankreich und
Deutschland und die europäische Einigung, die beiden Ziele,
die für mich in einem offenkundigen, inneren Zusammenhang
stehen.
Mit dem Nationalsozialismus hatte ganz Europa am Boden gelegen.
Nur gemeinsam, indem man sich gegenseitig stützte, würde
man wiedererstehen können. Dabei gab man sich weder einer
beschwichtigenden Naivität hin, noch sollte Deutschland von
seiner Verantwortung freigesprochen werden. Es ging hier nicht um
Verzeihen, sondern um eine hellsichtige und mutige Versöhnung,
die ebenso utopisch wie realistisch und um so notwendiger war, als
sie aus der tiefsten Verzweiflung erwachsen musste. Der
Teufelskreis musste durchbrochen werden: die
deutsch-französische Aussöhnung würde der Eckstein
beim Aufbau eines befriedeten Europa sein. Man musste ein Wagnis
eingehen und den eingeschlagenen Weg trotz der Hindernisse weiter
verfolgen. Brücken waren zu bauen, Beziehungen zu knüpfen
und ein Rahmen zu schaffen, in dem die Raserei des
leidenschaftlichen Hasses neutralisiert würde. Es galt, gerade
das uns Trennende zu nehmen, das, was uns heimgesucht hatte, es
galt, dieses traumatisierte Gedächtnis zur Grundlage unseres
gemeinsamen Vorhabens zu machen. Die Freundschaft würde
später kommen. Dies war das hellsichtige und hartnäckig
verfolgte Wagnis des europäischen Aufbauwerks, wie ich –
und andere – es vor Augen hatten.
Heute, kurz vor einer erneuten Erweiterung Europas, scheint
dieses Wagnis tatsächlich glücken zu können. Zum
ersten Mal in der langen Geschichte von Kriegen und Eroberungen hat
sich die Einigung Europas nicht mit Gewalt oder hegemonialen
Bestrebungen vollzogen, sondern auf friedliche und demokratische
Weise. Kann man ermessen, welchen moralischen Sieg es darstellt,
dass der Beitritt der neuen Mitgliedstaaten aus dem ehemaligen
Ostblock heute in Freiheit, und friedlich und demokratisch
vonstatten geht?
Geglückt ist dieses Wagnis auch insofern, als bald nach den
ersten konkreten Initiativen die Freundschaft kam, schneller noch,
als wir es für möglich hielten. Ich möchte an dieser
Stelle den politischen Mut und die visionäre Beharrlichkeit
einiger großer, vor allem deutscher und französischer
Persönlichkeiten würdigen. Die Gründerväter,
ich nenne hier nur Konrad Adenauer und Robert Schuman, machten den
Anfang mit Kohle und Stahl. Auf den Spuren seiner großen
Vorväter und über die parteipolitischen Grenzen hinweg
hat das deutsch-französische Paar allerdings immer den Mut zu
großen Gesten gehabt, um Europa voranzutreiben und Zweifel zu
überwinden. Nach dem 1963 zwischen Konrad Adenauer und General
de Gaulle geschlossenen Élysée-Vertrag gaben
Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt der
europäischen Integration neuen Schwung; danach folgten
François Mitterrand und Helmut Kohl, die die
institutionellen Fortschritte mit dem so bewegenden Symbol des
Händedrucks von Verdun begleiteten, und heute sind es
Präsident Jacques Chirac und Sie, Herr Bundeskanzler Gerhard
Schröder. Ich habe mich sowohl in meinen politischen
Ämtern in Frankreich als auch bei meinen Aufgaben als erste
Präsidentin des aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen
Europäischen Parlaments unablässig darum bemüht,
diese Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland in der
Überzeugung zu fördern, dass sie der Stützpfeiler
des Europas sein müsse, das wir bauen wollten.
Als Voraussetzung für eine freie Zukunft braucht dieses
versöhnte Europa ein dauerhaftes Fundament, das auf zwei
Pfeilern beruht: Weitergabe der Erinnerung und Demokratie.
Europa war es sich schuldig, ein Vorbild für Demokratie und
die Achtung der Menschenrechte zu sein. Es mussten die Lehren aus
den totalitären Erfahrungen seiner bleischweren Vergangenheit
ziehen und allen seinen Bürgern größtmögliche
Freiheit im Rahmen eines solidarischen und friedlichen Miteinanders
bieten. Europa brauchte also gerechte Institutionen, die –
ebenso solide wie flexibel – sowohl den Stürmen der
Geschichte zu trotzen imstande sein würden, als auch den
schleichenden Versuchungen, die jeder Demokratie als Gefahr
innewohnen, zu widerstehen. Die im Zusammenhang mit dem Beitritt
der neuen Mitgliedsländer zur EU gestellten Bedingungen haben
uns in neuerer Zeit daran erinnert: es geht um den Schutz der
Rechte nationaler Minderheiten, um die Gewährleistung der
Religionsfreiheit, damit jegliche Gefahr eines Bürger- oder
Bruderkrieges endgültig gebannt ist.
Weil aber Demokratie auf dem Vertrauen in das Volk beruht, auf
dem Vertrauen in die einzelnen Bürger, zusammen über ihre
gemeinsame Zukunft entscheiden, muss dieses Vertrauen durch Werte
geschützt werden, die bei der Entscheidungsfindung als
Orientierung dienen können. Zivilcourage, Toleranz und die
Achtung des Anderen: das sind die Werte Europas, die – wie
die Geschichte des Nationalsozialismus gezeigt hat – in den
dunkelsten Stunden am bittersten Not tun. Fest verwurzelt in den
Herzen und Köpfen, in den Gesten und Handlungen einiger
Weniger, sind sie es auch, die die Ehre gerettet haben, als ganze
Nationen am Boden lagen. Ist überhaupt bekannt, dass selbst
Berlin, die Hochburg der SS, nie vollständig "judenrein“
war, dass selbst hier eine Hand voll Juden den ganzen Krieg
hindurch unter höchst gefährlichen Umständen
überlebte, die vom Mut und Heldentum derer künden, die
sie versteckten? Auch dies ist eine Lehre aus der Erfahrung des
Nationalsozialismus: Institutionen müssen so verlässlich
wie möglich sein, die Demokratie muss durch vielfältige
Schutzmechanismen und Gegengewichte vor Leidenschaften bewahrt
werden; wenn diese Mechanismen jedoch versagen, und das ist immer
möglich, dann können nur Zivilcourage, Moral und die
Würde des Einzelnen die Gemeinschaft retten.
Der zweite geistige Pfeiler Europas sollte die Weitergabe der
Erinnerung sein. Europa sollte seine gemeinsame Vergangenheit als
Ganzes kennen und zu ihr stehen, mit allen Licht- und
Schattenseiten; jeder Mitgliedstaat sollte um seine Fehler und sein
Versagen wissen und sich dazu bekennen, mit seiner eigenen
Vergangenheit im Reinen sein, um auch mit seinen Nachbarn im Reinen
sein zu können. Erinnerungsarbeit ist für jedes Volk ein
anspruchsvolles, oft schwieriges, bisweilen schmerzhaftes
Unterfangen. Aber sie bewahrt die Zukunft vor den Verirrungen der
Vergangenheit, denn sie ermöglicht die Wiederherstellung der
durch vorangegangenen Verrat beschädigten nationalen Einheit
auf einer gesunden Grundlage. Nur sie ermöglicht eine
dauerhafte Aussöhnung zwischen zuvor verfeindeten
Nationen.
Die europäischen Staaten sind in diesem Bereich nicht gleich
schnell vorangekommen. Frankreich und Deutschland waren beide, wenn
auch auf unterschiedliche Weise, Pioniere dieser Erinnerungsarbeit.
Auch wenn nicht alle Opfer des Nationalsozialismus sofort
berücksichtigt wurden, so hat Deutschland doch durch
Entschädigung und Wiedergutmachung dazu beigetragen, das Leid
der Überlebenden und ihrer Nachkommen im Rahmen des
Möglichen zu lindern. Bundeskanzler Konrad Adenauer, der sich
eines Teils der "deutschen Schuld“ bewusst war, zögerte
nicht, auch gegen den Widerstand einiger seiner politischen
Partner, den legitimen Forderungen des noch ganz jungen, gerade
erst aus den Ruinen des vernichteten europäischen Judentums
erstandenen israelischen Staates nachzukommen. Begleitet wurden
diese konkreten Maßnahmen von ausdrucksstarken symbolischen
Gesten: wie könnte man an dieser Stelle den Kniefall Willy
Brandts vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos
unerwähnt lassen?
In Frankreich brachten erst die neunziger Jahre die offizielle
Anerkennung der direkten Verantwortung des französischen
Staates für die unter der Vichy-Regierung begangenen
Verbrechen. Es war Jacques Chirac, der 1995 die lange erwarteten
Worte fand: "Die Schuld der Vergangenheit und die vom Staat
begangenen Fehler anzuerkennen, die dunklen Stunden unserer
Geschichte nicht zu verschleiern, bedeutet einfach, für ein
bestimmtes Menschenbild, für eine ganz bestimmte Vorstellung
von Freiheit und Menschenwürde einzutreten.“ Inzwischen
wurde die Beraubung der französischen Juden vollständig
aufgeklärt, und das endlich bezifferte und wiedererlangte
gestohlene Vermögen ermöglichte die Gründung der
"Stiftung zur Erinnerung an die Shoah“, deren Vorsitz ich
seit ihrer Gründung vor drei Jahren innehabe.
Zwar sind noch nicht alle Probleme gelöst, aber unsere
beiden Länder können heute diesen dunklen Seiten ihrer
Geschichte ins Auge sehen, denn diese Bemühungen haben ihnen
ihre verlorene Ehre wiedergegeben.
Nun geht es darum, auf europäischer Ebene den Weg aufzuzeigen,
damit jede Nation, jedes Volk mit Mut und Würde diese
notwendige Aufarbeitung seiner eigenen Geschichte als Voraussetzung
für ein friedliches und dauerhaftes Miteinander angeht. Es
geht nicht überall gleich schnell voran, dies muss gesagt
werden. Insbesondere ist die Shoah in einigen osteuropäischen
Ländern noch nicht ausreichend anerkannt: auf Grund der
Manipulation durch die kommunistischen Regime, die lange an der
Macht waren, hat die Erinnerung an das den Völkern von den
Nazi-Besatzern zugefügte Leid den Blick auf die Erinnerung an
das den Juden manchmal sogar mit dem geheimen Einverständnis
dieser Völker zugefügte Leid verstellt. Diese
Realität muss man sehen. In den jetzt vom kommunistischen Joch
befreiten osteuropäischen Staaten gibt es andere, als
Schutzschild fungierende Erinnerungen, die die notwendige
Erinnerungsarbeit zur Shoah überdecken: für diese fast
ein halbes Jahrhundert lang der sowjetischen Herrschaft
unterworfenen Völker haben die Opfer des Kommunismus die Opfer
des Nationalsozialismus verdrängt. Schlimmer noch: Erinnerung
und Geschichte werden bisweilen so manipuliert, dass sie unter
Verweis auf das durch die Sowjets zugefügte Leid als
Rechtfertigung für den Antisemitismus dienen. Zu einer Zeit,
wo Europa sich nach Osten öffnet, sind diese Entgleisungen in
höchstem Maße alarmierend, denn diese angeblichen
geschichtlichen Kontroversen berühren die Identität des
zukünftigen Europa im Kern. Deutschland, das beide Formen des
Totalitarismus erlebt hat und nun wiedervereinigt ist, kann den
neuen Mitgliedstaaten sicherlich eine große Hilfe dabei sein,
sich des Problems dieser Ungleichgewichtigkeit der Erinnerung
gelassen anzunehmen.
Demokratie und Weitergabe der Erinnerung sind die beiden
komplementären Voraussetzungen, die das befriedete Europa mit
seiner zerrissenen Vergangenheit verbinden. Sie bilden einen
doppelten Schutzschild gegen todbringende Leidenschaften, die hier
oder da immer wieder aufflammen können. Sechzig Jahre nach dem
Zweiten Weltkrieg und der Shoah können die Europäer mit
Stolz auf den zurückgelegten Weg der Versöhnung
zurückschauen. Aber wir haben noch eine gute Wegstrecke vor
uns. Das bisher Erreichte verpflichtet uns heute, uns weiteren
Herausforderungen zu stellen: mit dem Beitritt neuer
Mitgliedstaaten des früheren Ostblocks zur Europäischen
Union muss Europa lernen, mit 25 Mitgliedern zu funktionieren. Neue
institutionelle Lösungen als Grundlage einer neuen politischen
Architektur müssen gefunden werden. Dazu wird sich Europa als
unverzichtbaren Rahmen für eine funktionierende Demokratie in
einer erweiterten Union eine Verfassung geben müssen, eine
Verfassung, die die grundlegenden Werte, auf denen Europa aufgebaut
ist, definiert, gewährleistet und an künftige
Generationen weitergeben kann, angefangen mit der immer wieder
erhobenen Forderung nach mehr Demokratie und Achtung der
Menschenrechte.
Heute stehen wir neuen Problemen gegenüber, die für
unsere Fähigkeit, unsere Werte zu verteidigen, eine
Herausforderung darstellen. Wie sollte man auf die Anzeichen eines
wieder erstarkenden Antisemitismus in Europa nicht besorgt
reagieren? In Frankreich hat sich seit Beginn der zweiten Intifada
die Zahl anti-jüdischer Übergriffe vervielfacht, von
Synagogenbränden bis zu Schikanen jüdischer Kinder in
unseren staatlichen Schulen. Ähnliches lässt sich auch
andernorts in Europa beobachten. Es ist unerträglich, wenn
westeuropäische Nationen, die zu Recht den Beitritt der
Kandidatenländer an den Respekt der Minderheitenrechte als
wesentliches Kriterium der Demokratie geknüpft haben, es
zulassen, dass ein solches Krebsgeschwür auf ihrem Boden
wächst.
Es muss immer wieder gesagt werden: Die Situation im Nahen
Osten, soziales Elend oder auch Unwissenheit dürfen niemals
als Entschuldigung oder mildernde Umstände für solche
Umtriebe gelten. Wenn man die Erinnerung an die Shoah gegen die
Juden kehrt, indem man unangemessene Vergleiche zwischen den
Vernichtungslagern und Flüchtlingslagern zu ziehen wagt, wenn
man den Völkermord an den Juden durch vielfältige
undifferenzierte Äußerungen banalisiert, wenn man sich
der Klischees antisemitischer Propaganda für den
antizionistischen Kampf bedient, dann hat Europa die Pflicht,
diesen Entgleisungen Einhalt zu gebieten, – nicht nur aus
Achtung vor den Überlebenden der vor sechzig Jahren
dezimierten jüdischen Gemeinden, sondern auch um der eigenen
Würde willen. Erinnert man sich heute noch daran, dass in den
dreißiger Jahren französische und deutsche Juden auf
beiden Seiten des Rheins die Bedrohung unterschätzten, weil
sie zu patriotisch gesinnt waren, um an ihren jeweiligen
Ländern zu zweifeln? Sie konnten einfach nicht an eine reale
Gefahr glauben.
Heute leben in Frankreich und Deutschland die beiden
größten jüdischen Gemeinden Europas: Europa hat die
Pflicht, dieses wiedergefundene Vertrauen nicht zu
erschüttern. Niemand darf dulden, dass die Zugehörigkeit
der Juden zum europäischen Konsens erneut in Frage gestellt
wird. Europa muss mit beispielhafter Entschlossenheit jegliches
Wiedererstarken des Antisemitismus, in welcher Form und unter
welchem Vorwand auch immer er sich zeigt, anprangern und
bekämpfen. Es geht hier auch um seine Kraft und Zukunft, denn
wir wissen aus der Geschichte, dass das Aufflammen des
Antisemitismus oft auf tieferliegende gesellschaftliche
Missstände hinweist, auf eine Krise der demokratischen
Vitalität. Daran wird deutlich, dass wir in Europa nicht
aufhören dürfen, an uns zu arbeiten und wachsam zu
sein.
Aus der bewussten und kontinuierlich wahrgenommenen Verantwortung
für seine Vergangenheit mit all ihren Licht- und
Schattenseiten schöpft Europa seit sechzig Jahren die Kraft
für die Gestaltung seiner Zukunft. Dies ist die
stillschweigende Verpflichtung, die die erste Generation von
Europäern gegenüber künftigen Generationen
eingegangen ist, die dann ihrerseits das Versprechen weitertragen
sollen, wenn der Tag gekommen ist.
Zum Abschluss möchte ich mich vor allem an die jungen
deutschen und französischen Schüler wenden, die heute
hier anwesend sind. Sie sind das konkrete und lebendige Symbol
dieser Versöhnung, aber Sie übernehmen auch den Stab, den
wir vertrauensvoll an Sie weitergeben. Wie Tausende
europäischer Schüler übernehmen Sie die
Verpflichtung zur Erinnerung. Ich wünsche mir, dass Sie
zusammen mit Ihren Lehrern erfahren und begreifen, was Auschwitz
bedeutet, und dass Sie über das, was Auschwitz uns lehrt,
nachdenken. Morgen werden Sie die Bürger sein, die
Verantwortung dafür tragen, alles, was erneut zu einer solchen
Verkettung von Hass und Gewalt führen könnte, die
unweigerlich zur Barbarei führt, zu verhindern.
Aber die Jugend von heute, offener gegenüber der ganzen
Welt, solidarischer mit denen, deren Rechte missachtet werden, und
um die Gräueltaten der Vergangenheit wissend, wird die Lehren
aus Auschwitz ziehen, dessen bin ich mir sicher. Ich vertraue
ihr.
Heute wende ich mich mit folgenden Worten an Sie als junge
Deutsche, als junge Europäer: Vergessen Sie nicht die
Vergangenheit! Es ist nun an Ihnen, Europa zu gestalten, ein Europa
der Bürgerfreiheiten, das für Frieden und die Achtung der
Menschenwürde eintritt.
Ich danke Ihnen.