Das deutsche Kaiserreich war bestimmt von Modernität und Traditionalität. Demokratie und Monarchie waren bei seiner Gründung eine konfliktreiche Verbindung eingegangen, die im Rückblick oftmals Anlass zu der Frage nach den Entwicklungsmöglichkeiten der Verfassung vom 16. April 1871 gegeben hat. Bestand nach 1871 die Chance auf einen Übergang zur parlamentarischen Monarchie, in der der Kaiser nur noch geringen Einfluss auf die Staatsgeschäfte ausgeübt hätte, oder waren einer solchen Entwicklung enge Grenzen gezogen?
Nach der Verfassung stand dem vom Kaiser ernannten Reichskanzler, der nicht vom Vertrauen einer Mehrheit des Parlaments abhängig war, der Reichstag gegenüber, ohne dessen Zustimmung grundsätzlich kein Gesetz verabschiedet werden konnte und der den Staatshaushalt bewilligen musste. Nach 1871 tagte er zunächst in der ehemaligen Königlich-Preußischen Porzellanmanufaktur in der Leipziger Straße; das Reichstagsgebäude wurde erst am 6. Dezember 1894 bezogen.
Dem Reichstag gehörten 382, seit 1874 schließlich 397 Abgeordnete an. Sie wurden auf drei, seit 1888 auf fünf Jahre nach dem Grundsatz der allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Mehrheitswahl bestimmt. Wahlberechtigt waren alle männlichen Deutschen über 25 Jahre. Nach zeitgenössischen Maßstäben galt dieses Wahlrecht als modern und fortschrittlich, auch wenn es einzelne Parteien zunehmend benachteiligte. Das Reichstagswahlrecht trug nach 1871 maßgeblich zur umfassenden Politisierung der Bevölkerung bei, die sich nicht zuletzt in einer stetig wachsenden Wahlbeteiligung - von 50,7 Prozent im Jahr 1871 auf 84,9 Prozent im Jahr 1912 - niederschlug.
Mit der Politisierung der Deutschen begannen sich die Parteien tendenziell zu modernen Organisationen zu wandeln. Auch die Arbeitsweise des Politikers bekam neue Züge. Obwohl bis 1906 die Zahlung von Diäten verboten war, gehörten dem Reichstag bald viele Berufspolitiker an, die sich im Rahmen ihrer parlamentarischen Arbeit auf einen bestimmten Politikbereich spezialisierten. Der Reichstag wurde zu einem Arbeitsparlament, das mit einem umfangreichen Gesetzeswerk entscheidend zur Ausbildung eines nationalen Rechts- und Wirtschaftsraumes beitrug und mit Kranken-, Unfall-, Alters- und Invalidenversicherung die Grundlage des Sozialstaates legte.
Hinsichtlich der Frage, ob im Zuge dieser umfangreichen Gesetzgebung Kaiser und Reichsregierung in eine solch weitgehende Abhängigkeit vom Reichstag geraten sind, dass man in der Praxis von einer allmählichen Parlamentarisierung des Kaiserreichs sprechen muss, gehen die Meinungen weit auseinander. Übereinstimmung besteht unter den Historiker nur darin, dass der Reichstag nach 1871 gegenüber der Reichsregierung und den im Bundesrat zusammengeschlossenen Einzelstaaten erheblich an Macht und Einfluss gewann. Eine Mehrheit ist aber der Auffassung, dass es den Parteien allein um eine wirksame Kontrolle der Regierung, nicht jedoch um die Übernahme der Macht ging und dem Kaiserreich ohnehin eine wichtige Voraussetzung für ein parlamentarisches Regierungssystem fehlte: Parteien, die bereit sind, auch grundsätzliche Interessensgegensätze zu überbrücken und zu dauerhaften Koalitionen zusammenzufinden.
Das Kaiserreich kannte keine Volksparteien mit einer breiten, sozial und konfessionell gemischten Wählerschaft, sondern zeichnete sich durch ein fünf Parteiensystem aus, das in einzelne Bruchstücke zerfiel. In diesem System waren die Parteien mehr oder minder stark mit deutlich voneinander abgrenzbaren Milieus verflochten, für deren Interessen sie eintraten. Im Einzelnen bestand es aus den Deutschkonservativen und der Deutschen Reichspartei, dem Zentrum als Vertreterin des politischen Katholizismus, ferner der Nationalliberalen Partei auf dem rechten und mehreren Parteien - unter anderem der Deutschen Fortschritts-, der Deutschen Freisinnigen Partei, der Freisinnigen Volkspartei und der Fortschrittlichen Volkspartei - auf dem linken Flügel des Liberalismus sowie der Sozialistischen Arbeiterpartei (1890 umbenannt in Sozialdemokratische Partei Deutschlands). Zwischen diesen Parteien kam es in den Jahren 1871-1918 zwar mehrfach zu Blockbildungen, doch nicht auf Dauer zu stabilen "Regierungskoalitionen". Um die Rechte des Parlaments entscheidend auszubauen oder gar eine Parlamentarisierung des Regierungssystems zu erzwingen, waren die Parteien zu zerstritten. Mit Ausnahme der SPD, die seit 1912 die stärkste Fraktion im Reichstag stellte, versprach sich darüber hinaus keine Partei von einer Verfassungsänderung einen dauerhaften Vorteil und selbst in den Reihen der Sozialdemokraten gab es ein mehrdeutiges Verhältnis zum Parlamentarismus.
Erst als das Kaiserreich am Ende des Ersten Weltkrieges im September 1918 vor seinem wirtschaftlichen und militärischen Zusammenbruch stand, drängten die Mehrheitsparteien in die Regierung. Die militärische Führung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff wollte keine Verantwortung für die Niederlage übernehmen, obwohl sie im Laufe des Krieges die Politik des Kaiserreichs zunehmend und zuletzt fast diktatorisch bestimmt hatte. Sie kam den Parteien deshalb bereitwillig entgegen. Die Vorstöße der Mehrheitsparteien und militärischen Führung und nicht zuletzt der Druck des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der nur mit einer demokratischen Regierung Frieden schließen wollte, bahnten den Weg für eine Parlamentarisierung. Mit großer Mehrheit änderte das Parlament die Reichsverfassung; das Kaiserreich wurde am 28. Oktober 1918 zu einer parlamentarischen Monarchie. Am 9. November 1918 rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann von einem Fenster des Reichstagsgebäudes die Republik aus und vollendete den Verfassungswandel.