Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der
Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 20. April 2008)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Hildegard Müller, Staatsministerin im Kanzleramt lehnt eine von der FDP-Fraktion geforderte Enquete-Kommission zum Thema Antisemitismus im Bundestag ab: „Es ist meine große Sorge, dass man dann sagt: Wir haben ja einen Ausschuss mit unglaublich engagierten Betrachtern der Szene, und andere brauchen sich dann nicht mehr verantwortlich zu fühlen.“ Sie wünsche sich aber einen breiten gesellschaftlichen Dialog.
„Ich glaube, dass die Deutschen viel aus ihrer Geschichte gelernt haben“, sagt Müller gegenüber der Zeitung „Das Parlament“. Dies werde auch in Israel gesehen und anerkannt. Sie unterstrich die Stabilität der Demokratie in Deutschland: „Wir leben in einem gefestigten demokratischen Rechtsstaat, und auch wenn wir leider eine rechtsextreme Partei in Parlamenten haben, die sich kein Demokrat dort wünscht, so können wir doch generell sagen, dass sich ein wie auch immer gearteter Antisemitismus nicht in unserem parlamentarisch-demokratischen Handeln niederschlägt.“ Leider gäbe es Antisemitismus, den man bekämpfen müsse, nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa.
Müller verteidigte die Rolle Israels im Nahostkonflikt und der internationalen Politik: „Nicht Israel ruft zur Vernichtung seiner Nachbarländer auf – im Gegenteil. Es beteiligt sich an Friedensprozessen, legt aber zu Recht auch Wert auf den Schutz seiner Bevölkerung.“
Das Interview im Wortlaut:
»Ort der eigenen Wurzeln«
HILDEGARD MÜLLER Nicht nur das Parlament sollte über Antisemitismus diskutieren – die Staatsministerin über deutsch-israelische Beziehungen
Frau Staatsministerin, Sie haben im März Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach Israel begleitet. Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Reise nach Israel?
Ja, das war 1995, und ich weiß noch, dass mich das Land von der ersten Sekunde an gefangen genommen hat: Man spürt, dass man einen Ort betritt, in dem auch die eigenen christlichen Wurzeln liegen. Daran kann ich mich noch gut entsinnen.
Was war Ihre persönliche Motivation, sich mit Israel zu beschäftigen?
Zwei Gründe waren ausschlaggebend: Einmal die Auseinandersetzung mit meinem Glauben. Ich bin katholische Christin und von dieser Region, in der Christus gewirkt hat, in besonderer Weise fasziniert. Zum Zweiten: Wer in die Politik geht, sollte sich der Geschichte unseres Landes stellen. Auch der jungen Generation stellt sich eindringlich die Frage: Wie konnte die Shoah passieren? Aus der Verantwortung für dieses dunkelste Kapitel in der deutschen Geschichte ergibt sich für mich zwingend die Aufgabe: Welche Folgerungen ziehen wir Deutschen aus unserer Geschichte, beispielsweise was das Existenzrecht Israels und die Achtung der Menschenrechte in der Welt angeht?
Empfinden Sie angesichts der Terroranschläge dort ein Gefühl von Bedrohung?
Ich habe stets dafür geworben, dass wir, wenn wir Israel betrachten, dies aus der Sicht der dort lebenden Menschen versuchen. Mich beeindruckt, wie fast selbstverständlich die Israelis der ständigen Bedrohung alltäglicher Lebenssituationen begegnen. Das ist etwas, was wir uns glücklicherweise überhaupt nicht vorstellen können.
Wie gehen die Menschen in Israel damit um?
Ich erlebe über die Jahre hinweg, dass dieses Land damit sehr bewusst umgeht, aber sich seinen Lebenshunger nicht nehmen lässt. Die Menschen ziehen sich nicht zurück, sondern genießen das Leben und sagen: Wir lassen uns vom Terror nicht einschüchtern. Das ist eine ganz starke Haltung der Israelis, die ich bewundere. Gleichzeitig sehe ich die Sehnsucht der Menschen auf allen Seiten nach Frieden und Ruhe. Es ist ein beklemmendes Gefühl, zu sehen, wie schwierig das noch immer ist.
Das Verhältnis von Deutschen und Israelis hat sich nach einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung positiv entwickelt. Es gibt aber auch eine Diskrepanz in der Bewertung politischer Fragen. Warum?
Zum einen glaube ich, dass die Beziehungen durch die Einzigartigkeit der Shoah immer besondere sein werden. Das ist und bleibt ein Ausgangspunkt. Ich glaube aber auch, dass wir in unserem Land Dinge verkürzt wahrnehmen. Es ist für mich schockierend, eine Umfrage zu lesen, nach der Israel als größte Bedrohung für den Weltfrieden gesehen wird. Das verkehrt Ursache und Wirkung in einer dramatischen Art und Weise. Nicht Israel ruft zur Vernichtung seiner Nachbarländer auf – im Gegenteil: Es beteiligt sich an Friedensprozessen, legt aber zu Recht auch Wert auf den Schutz seiner Bevölkerung.
Manche behaupten, Kritik an Israel sei oftmals nur eine getarnte Form des Antisemitismus?
Das eine ist legitime Kritik, die am Handeln des Staates geübt werden kann. Das andere ist, dass wir leider in unserem Land Antisemitismus haben – und zwar in einer zunehmenden Vielfalt: Es gibt nach wie vor rechtsextremen Antisemitismus, es gibt zudem Antisemitismus aus der islamistischen Szene heraus sowie Antisemitismus, der sich aus Antiamerikanismus speist und zum Antizionismus entwickelt. Diese verschiedenen Formen des Antisemitismus zu bekämpfen, ist eine zentrale politische Aufgabe, die ein differenziertes Vorgehen verlangt.
Die Bundeskanzlerin hat zum 27. Januar vor „sehr kruden Gedankengängen und einem verkappten Antisemitismus“ gewarnt. Haben die Deutschen zu wenig aus ihrer Geschichte gelernt?
Ich glaube, dass die Deutschen viel aus ihrer Geschichte gelernt haben. Das ist etwas, das auch in Israel anerkannt wird. Wir leben in einem gefestigten demokratischen Rechtsstaat, und auch wenn wir leider eine rechtsextreme Partei in Parlamenten haben, die sich kein Demokrat dort wünscht, so können wir doch generell sagen, dass sich ein wie auch immer gearteter Antisemitismus nicht in unserem parlamentarisch-demokratischen Handeln niederschlägt. Dennoch gibt es leider Antisemitismus, den wir bekämpfen müssen, nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa.
In Großbritannien hat es dazu einen Ausschuss gegeben. In Deutschland hat die FDP-Fraktion die Einsetzung einer Enquete-Kommission dazu gefordert. Was halten Sie davon?
Ich bin nicht abschließend überzeugt von der Idee. Ich habe mich eingehend mit dem englischen Modell befasst und sehe doch verschiedene Ausgangspunkte. Schließlich ist der Nazi-Terror aus Deutschland gekommen. Die Stätten der Verbrechen liegen zu nicht geringen Teilen in unserem Land und sind besonders authentische, aussagekräftige Orte der Erinnerung. Ergänzend dazu brauchen wir Museen und Gedenkstätten. Und auch die Vermittlung an unseren Schulen ist sehr wichtig. Die Erinnerungskultur in Deutschland wird immer eine andere sein als in anderen Ländern.
Aber warum sollte man das Thema nicht in besonderer Form im Parlament behandeln?
Es ist meine große Sorge, dass man dann sagt: Wir haben ja einen Ausschuss mit unglaublich engagierten Betrachtern der Szene, und andere brauchen sich dann nicht mehr verantwortlich zu fühlen. Ich wünsche mir aber einen breiten gesellschaftlichen Dialog – in den sich natürlich auch das Parlament einbringt, im Bundestag genauso wie in den Wahlkreisen.
Sie waren selbst Vorsitzende der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe. Wie gehen andere jüngere Politiker mit dem Thema Israel um?
Die junge Generation trägt natürlich keine persönliche Schuld an der Shoah, aber gerade wir müssen Wege finden, wie wir die Erinnerung aufrechterhalten, wenn die Überlebenden nicht mehr zur Verfügung stehen. Zeitzeugen geben immer das eindringlichste Zeugnis. Sie haben mich sehr geprägt.
Vom Parlament zur Regierung. Im März haben die ersten deutsch-israelischen Regierungskonsultationen stattgefunden. Was wurde vereinbart?
Sowohl die Vereinbarung als auch die Einzelgespräche der teilnehmenden Regierungsmitglieder zeigen eine Fülle von Themen. Es wurden eine Reihe konkreter Projekte und Kooperationen auf den Weg gebracht, von der Forschung über die Bildung und den Jugendaustausch bis hin zum Klimaschutz und zur Wirtschaft. Aber natürlich geht es immer auch um Außenpolitik und die Frage, wie wir im Rahmen unserer Möglichkeiten bei den Friedensverhandlungen helfen können
Am 24. Juni wird es in Berlin eine Konferenz zum Aufbau des Rechtsstaates in den palästinensischen Gebieten geben.
Wir wollen damit ganz konkret die palästinensische Polizei und das Rechtssystem stärken. Es wird um Sicherheit und funktionierenden Institutionen für die Palästinenser gehen, die auch eine Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung sind. Wenn man von einer Zwei-Staaten-Lösung ausgeht, müssen die Palästinenser ein funktionierendes Staatswesen aufbauen. Wir wollen unser gutes Verhältnis zu den Palästinensern und Israelis nutzen, von europäischer Seite den Annapolis-Prozess absichern und vor allem praktische Verbesserungen für die Menschen in den palästinensischen Gebieten zu erreichen. z
Das Interview führten: Susanne Kailitz und Annette Sach.
Hildegard Müller (CDU), Mitglied des Bundestages seit 2002. Seit 2005 ist sie Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin. Die 40-Jährige engagiert sich ehrenamtlich im Freundeskreis Yad Vashem und in der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.