Vorabmeldung zu einem Interview in der
nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 21. September
2009)
- bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung
-
Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) spricht sich für eine Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre aus. Im Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 21. September 2009) verwies Lammert darauf, dass „nahezu alle Bundesländer und nahezu alle unsere Nachbarländer eine fünfjährige Legislaturperiode haben“. Auch das Europäische Parlament werde für fünf Jahre gewählt. „Zweifellos ist inzwischen die fünfjährige Legislaturperiode der Regelfall“, argumentierte der CDU-Politiker.
Auch gebe es immer wieder „nicht unberechtigte Klagen, dass zu Beginn einer Wahlperiode relativ viel Zeit für die – nicht förmliche, sondern faktische – Konstituierung und Arbeitsfähigkeit des Parlaments verloren geht und dass ein nicht unbeträchtlicher Teil des letzten Jahres dem Wahlkampf gewidmet ist“, fügte Lammert hinzu. Unter diesem Gesichtspunkt würde eine Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre „nicht schlicht ein Jahr mehr“ bedeuten, sondern „relativ gesehen 40 bis 50 Prozent mehr effektiv nutzbare parlamentarische Arbeitszeit“.
Mit Blick auf die zurückliegende Wahlperiode zeigte sich der Parlamentspräsident „ziemlich sicher“, dass die derzeitige große Koalition „mit etwas größerem zeitlichen Abstand deutlich freundlicher beurteilt werden wird, als das während der laufenden Spielzeit der Fall war“. Er sei immer der Auffassung gewesen, dass große Koalitionen „nicht der Normalfall eines parlamentarischen Systems“ seien, aber „in gegebenen Situationen auch kein Verhängnis darstellen“. Auch habe der Bundestag „gerade in dieser Legislaturperiode aus guten Gründen eine Stärkung der parlamentarischen Minderheitenrechte herbeigeführt“, die unabhängig von künftigen Mehrheitsverhältnissen Bestandteil seiner Geschäftsordnung beziehungsweise der Verfassung sei.
Das Interview im Wortlaut:
Herr Präsident, noch nie war die Wahlbeteiligung
bei einer Bundestagswahl so gering wie 2005: 77,7 Prozent. Hoffen
Sie 2009 auf mehr Wähler?
Mir sind hohe
Wahlbeteiligungen immer lieber als niedrige. Aber ich muss darauf
hinweisen, dass wir mit Wahlbeteiligungen zwischen 75 und 85
Prozent international Spitzenwerte erreichen. Wenn mehr als drei
Viertel aller Wahlberechtigten von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen,
besteht kein Anlass, Besorgnisse zu artikulieren, jedenfalls nicht
für Bundestagswahlen. Und wir haben aus guten Gründen
keine gesetzliche Wahlpflicht. Es gibt auch eine wachsende Zahl von
Wählern, die nicht aus politischem Desinteresse, sondern
konkreten inhaltlichen oder personellen Gründen keine der
Parteien unterstützen wollen. Auch diese Entscheidung muss man
respektieren, zumal sie in vielen Fällen eine bewusste
politische Entscheidung ist.
Manche sehen in der hohen Zahl von Wahlen – allein
2009 alles in allem mehr als ein Dutzend – eine Ursache
für Wahlmüdigkeit.
Da ist sicher was dran.
Die Vielzahl der Wahlen, die sich auf kommunaler Ebene zunehmend
multiplizieren, weil Gemeinde- und Kreistagswahlen oder
Stadtratswahlen unabhängig von der Wahl von
Bürgermeistern oder Landräten stattfinden, erhöht
nicht unbedingt für den durchschnittlich Interessierten die
Attraktivität von Wahlen.
Wäre eine Verlängerung der Legislaturperiode
von vier auf fünf Jahre, wie von Ihnen vorgeschlagen, eine
Möglichkeit, die Wahlbeteiligung zu
stärken?
Ich bin aus verschiedenen Gründen
für eine Verlängerung der Legislaturperiode, weiß
aber nicht, warum alles unter dem Gesichtspunkt der Wahlbeteiligung
betrachtet werden muss. Noch einmal: Ich finde es nicht nur
naheliegend, sondern hochgradig erwünscht, dass wir von der
Möglichkeit Gebrauch machen, selbst darüber zu
entscheiden, von wem wir regiert werden wollen. Aber zu glauben,
unsere Demokratie sei defekt, wenn sich nicht 100 Prozent der
Wähler an dieser Entscheidung beteiligen, halte ich für
eine maßlose Übertreibung.
Was spricht für längere
Wahlperioden?
Zunächst fällt auf, dass
nahezu alle Bundesländer und nahezu alle unsere
Nachbarländer eine fünfjährige Legislaturperiode
haben; auch das Europäische Parlament wird für fünf
Jahre gewählt: Zweifellos ist inzwischen die
fünfjährige Legislaturperiode der Regelfall. Und es gibt
immer wieder nicht unberechtigte Klagen, dass zu Beginn einer
Wahlperiode relativ viel Zeit für die – nicht
förmliche, sondern faktische – Konstituierung und
Arbeitsfähigkeit des Parlaments verloren geht und dass ein
nicht unbeträchtlicher Teil des letzten Jahres dem Wahlkampf
gewidmet ist. Unter diesem Gesichtspunkt würde eine
Verlängerung von vier auf fünf Jahre nicht schlicht ein
Jahr mehr, sondern – relativ gesehen – 40 bis 50
Prozent mehr effektiv nutzbare parlamentarische Arbeitszeit
bedeuten.
Gegen Ihre Empfehlung hat der Bundestag entschieden,
erst nach der Wahl das Wahlrecht entsprechend der Forderung des
Bundesverfassungsgerichts zu reformieren, um den paradoxen Effekt
auszuschließen, dass sich Wählerstimmen für eine
Partei gegebenenfalls negativ auf deren Mandatszahl auswirken
können.
Zum einen hat das
Bundesverfassungsgericht mit Hinweis auf die komplizierte
Rechtsmaterie ausdrücklich diese längere Frist
eingeräumt. Zweitens: Ich bin nach wie vor überzeugt,
dass eine Regelung dieses Themas vor dem anstehenden Wahltermin
wünschenswert und möglich gewesen wäre, wenn alle
unmittelbar nach der Entscheidung des Gerichts an die Arbeit
gegangen wären. Leider haben manche ihr Interesse an dem Thema
erst in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Wahlkampf entdeckt.
Und drittens hat sich in den parlamentarischen Beratungen auf der
Basis eines von einer Fraktion dazu eingebrachten Gesetzentwurfes
herausgestellt, dass die mit dieser Lösung verbundenen neuen
Probleme auch verfassungsrechtlich nicht weniger gravierend waren
als die, die das Verfassungsgericht zu seiner Entscheidung
veranlasst haben. Das bestätigt, dass es sich um ein
außerordentlich kompliziertes Thema handelt, obwohl es nur
einen kleinen Bereich des im Ganzen nicht beanstandeten Wahlrechts
betrifft. Damit wird sich der Bundestag zu Beginn der nächsten
Wahlperiode befassen müssen.
In Ihrer Antrittsrede 2005 haben Sie gemahnt, die
„ungeschriebenen Rechte der Opposition“ müssten
bei einer großen Koalition auch für die kleinen
Fraktionen gelten. Waren vier Jahre große Koalition für
das parlamentarische Geschehen schädlich?
Ich
war immer der Auffassung, dass große Koalitionen nicht der
Normalfall eines parlamentarischen Systems sind, aber in gegebenen
Situationen auch kein Verhängnis darstellen. Ich bin auch
ziemlich sicher, dass diese große Koalition ähnlich wie
die erste mit etwas größerem zeitlichen Abstand deutlich
freundlicher beurteilt werden wird, als das während der
laufenden Spielzeit der Fall war. Auch haben wir gerade in dieser
Legislaturperiode aus guten Gründen eine Stärkung der
parlamentarischen Minderheitenrechte herbeigeführt, die
unabhängig von den künftigen Mehrheitsverhältnissen
Bestandteil unserer Geschäftsordnung beziehungsweise unserer
Verfassung ist.
Mehr Mitspracherechte für den Bundestag insgesamt
gibt es in EU-Fragen mit den gerade verabschiedeten Begleitgesetzen
zum Lissabon-Vertrag. Zufrieden?
Ja. Ich glaube, dass
die jetzt verabschiedete Konstruktion nicht nur den Anforderungen
des Verfassungsgerichts genügt, sondern der
verfassungsrechtlichen Stellung des Parlaments in allen
Gesetzgebungsprozessen. Dass dies für europäische
Rechtsetzung ähnlich gelten muss wie für nationale
Gesetzgebung, konnte eigentlich niemanden ernsthaft
überraschen. Ich habe schon zu Beginn dieser Legislaturperiode
im Zusammenhang mit der Vereinbarung zwischen Parlament und
Regierung zur Zusammenarbeit in europäischen Angelegenheiten
die Auffassung vertreten, dass die da zunächst vorgesehenen
Regelungen keineswegs zu ehrgeizig waren. Sie werden jetzt
Bestandteil der Rechtslage.
Um Bundestags-Kompetenzen ging es in dieser Wahlperiode
auch bei der Föderalismusreform I, als die
Zuständigkeiten von Bund und Ländern neu sortiert wurden.
Hat sich die Reform bewährt, oder rechnen Sie mit
Nachbesserungen?
Es ist noch ein bisschen zu
früh für Schlussfolgerungen über die Wirkungen
dieser Zuständigkeitsveränderungen. Ich bin aber
ohnehin kein Freund von regelmäßigen Änderungen
unserer Verfassung mit dem Anspruch scheinbar ultimativer
Lösungen. Und ich fühle mich mit den Erfahrungen der
vergangenen Jahre gerade im Blick auf Grundgesetzänderungen
– das gilt für die erste wie für die zweite
Föderalismusreform – in dieser Skepsis sehr
bestätigt. In Zeiten, die durch schnelle Veränderungen
geprägt sind, wird man nur schwer mit dem Anspruch
abschließender Lösungen aufwarten können. Und unser
Ehrgeiz, die jeweiligen Einschätzungen der Lage dann gleich
zum Gegenstand von Verfassungsvorgaben zu machen, scheint mir eher
übertrieben.
Sie bekleiden fast vier Jahre das zweithöchste
Staatsamt. Welche Begegnungen, Erfahrungen haben Sie besonders
bewegt?
Das ist ganz schwer zu sagen. Sowohl im
parlamentarischen Geschehen wie bei internationalen Kontakten
gibt es immer wieder so unterschiedliche, herausragende Ereignisse,
dass es schwer ist, ein einzelnes besonders hervorzuheben. Wenn ich
das müsste, würde ich wohl meinen offiziellen Besuch in
Israel wenige Monate nach meinen Amtsantritt nennen. Der Empfang in
der Knesseth mit einer Ehrenformation der israelischen Armee unter
Abspielen der deutschen Nationalhymne ist für jeden, der nur
einen Hauch von historischem Verständnis hat, ein so
außerordentlicher Moment. Die Erfahrung, dass dies
möglich ist, hilft über viele kleine Enttäuschungen
des politischen Lebens mühelos hinweg.