27.01.2005 - Rede von Bundestagspräsident Thierse bei der
Gedenkstunde im Deutschen Bundestag zur Erinnerung an die Opfer des
Nationalsozialismus am 60. Jahrestag der Befreiung des
Konzentrationslagers Auschwitz
Es gilt das gesprochene
Wort
Präsident Wolfgang Thierse:
Herr Bundeskanzler! Herr Bundesratspräsident! Herr
Präsident des Bundesverfassungsgerichts! Exzellenzen! Sehr
geehrter Herr Professor Lustiger! Liebe Kolleginnen und Kollegen
des Deutschen Bundestages! Verehrte Gäste! Meine Damen und
Herren! In einem Gespräch im deutschen Fernsehen antwortete
Hannah Arendt vor Jahrzehnten auf die Frage, was für sie vom
Europa der Vorhitlerzeit geblieben sei: "Geblieben ist die
Sprache."
Wir kommen heute im Plenum des Deutschen Bundestages zusammen, um
in unserer Sprache, die einmal die Sprache der Täter, der
Verbrecher und Mörder war, der Opfer der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu gedenken. Zur gleichen
Zeit wird in Auschwitz, dem entsetzlichsten Ort der
europäischen Geschichte, in den Sprachen der Opfer und der
Befreier an das furchtbare Geschehen erinnert. Denn der 27. Januar
ist der Tag, an dem Auschwitz befreit wurde. Es ist der Tag, an dem
zumindest in diesem Lager das Grauen ein Ende hatte - heute vor
genau 60 Jahren. Es ist der Tag, an dem offenbar wurde, was
Menschen Menschen anzutun in der Lage sind.
Wir gedenken heute aller Opfer des Nationalsozialismus: Juden,
Sinti und Roma, Homosexuelle, Opfer der
Militärgerichtsbarkeit, Behinderte, Opfer der Euthanasie,
Kriegsgefangene, politische Häftlinge, Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter, Frauen und Männer des Widerstandes und alle
anderen, die während der Zeit der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft gequält und ermordet wurden. Die Reihenfolge
dieser Aufzählung stellt keine Wertung dar. Jedes Opfer hat
das gleiche Recht auf Anerkennung und Würdigung. Unser
Gedenken gilt allen, die unermessliches Leid erlitten, denen die
Würde genommen wurde, die ihr Leben verloren. Und es gilt
allen, die, auch wenn sie die infernalische Todesmaschinerie
überlebt haben, doch an ihr zerbrochen sind: an dem
zugefügten Schmerz, an dem Verlust des Glaubens an die
Menschlichkeit, an der Unbeschreiblichkeit dessen, was geschehen
ist.
Wir sind dankbar, dass an unserem Gedenken im deutschen Parlament
Zeitzeugen und zahlreiche Vertreter von Institutionen und
Verbänden teilnehmen, die ich herzlich begrüße. Ein
besonderer Gruß gilt dem Präsidenten des Zentralrats der
Juden in Deutschland, Paul Spiegel.
(Beifall)
Ich begrüße Wolf Biermann, der aus dem "Großen
Gesang des Jizchak Katzenelson vom ausgerotteten jüdischen
Volk" vortragen wird, den er aus dem Jiddischen, der Sprache so
vieler Opfer, ins Deutsche übersetzt hat.
(Beifall)
Er kommentiert dies selbst so:
Daß ich dieses jiddische Epos nun ausgerechnet in die Sprache
der Mörder transportiere, soll keinen irritieren. Mein Deutsch
ist ja nicht das von Hitler & Co., es ist gemacht aus der
Muttersprache von Oma Meume und Emma Biermann in Hamburg, meine
Sprache hat sich gebildet an der Vatersprache von Hölderlin,
Heinrich Heine und Meister Brecht. Die wirkliche Sprache der
Mörder aber ist der Mord.
Wir erinnern heute an alle, die das nationalsozialistische
Unrechtsregime zuerst entrechtete und dann quälte und
ermordete. Aber wir gedenken heute auch besonders derer, die sich
ihren Unterdrückern trotz ihrer aussichtslosen Lage
widersetzten. Arno Lustiger, der selbst mehrere Jahre im Untergrund
lebte, hat unermüdlich an sie erinnert.
Nur wenige wissen von den jüdischen Frauen und Männern,
die den Mut und die Kraft zum Widerstand fanden. Ich möchte an
die unbekannte jüdische Frau erinnern, die am 23. Oktober 1943
auf der Rampe in Auschwitz einem SS-Mann seine Pistole entriss. Sie
konnte zwei SS-Männer töten und die anderen Frauen des
Transportes zur Gegenwehr ermutigen.
Gegen das organisierte Morden schlossen sich im Jahr 1943
Häftlinge verschiedenster Nationalitäten zur "Kampfgruppe
Auschwitz" zusammen. Sie halfen einander mit Medikamenten und
Nahrung. Sie dokumentierten die Verbrechen der SS und organisierten
Fluchten. Trotz strengster Bewachung konnten über 660
Gefangene fliehen. Widerstand äußerte sich auch in
Sabotageakten oder im Versuch, einen Aufstand vorzubereiten. Dieser
Aufstand fand am 7. Oktober 1944 statt. Dabei gelang es, mindestens
eine der Gaskammern zu zerstören.
Die Juden, die Widerstand leisteten, wussten, dass sie
äußerst geringe Chancen hatten. Sie gingen sehenden
Auges in den Tod, aber aufrecht und im Bewusstsein, sich bis
zuletzt gewehrt und die Würde bewahrt zu haben. Die Täter
ihrerseits hatten jedes Interesse daran, nicht nur das Leben der
Widerstandskämpfer zu vernichten, sondern auch jede Erinnerung
an sie und ihr Tun.
Ihnen, den Helden des jüdischen Widerstandes, hat Arno
Lustiger sein schriftstellerisches Werk gewidmet. Die Juden
ließen sich nicht wie Schafe wehrlos zur Schlachtbank
führen. Diese Behauptung ist lediglich der letzte Mythos
über den Holocaust. Sie verleumdet die Opfer, die
Widerstandskämpfer und die Überlebenden.
Wir sind dankbar dafür, dass sich Arno Lustiger bereit
gefunden hat, heute im Bundestag zu uns zu sprechen.
(Beifall)
Er musste als Häftling die Konzentrationslager Auschwitz,
Groß-Rosen, Buchenwald und Langenstein und die
Todesmärsche erleben. Dennoch gehörte er nach dem Krieg
zu den Mitbegründern der jüdischen Gemeinde in Frankfurt
am Main. Er setzte sich aktiv für die Erneuerung des
jüdischen Lebens in Deutschland ein. Bis heute engagiert er
sich für die Aufarbeitung der Beziehungen zwischen Juden und
Deutschen: In unzähligen Gesprächen, Diskussionen und
Publikationen erzählt er sein persönliches Schicksal und
die Geschichte der europäischen Juden im 20. Jahrhundert - zur
Mahnung und Warnung an künftige Generationen.
Bis heute fällt es uns schwer - wie sollte es auch anders sein
-, uns dem Grauen unserer Geschichte zu stellen. So gut wir
inzwischen die historischen Tatsachen der Judenvernichtung kennen,
so wenig sind wir imstande, das Geschehene zu begreifen. Wie konnte
Politik in einem vormals demokratischen Staat, in unserem Land,
dazu verkommen, die systematische Vernichtung ganzer Völker
kaltblütig zu planen und mit organisatorischer Perfektion
umzusetzen? Wie konnte es geschehen, dass Deutsche so erbarmungslos
folterten und mordeten? Warum sahen so viele tatenlos zu?
Gerade weil wir uns die Brutalität der Täter und die
Leiden der Opfer nicht vorstellen können - was Auschwitz
wirklich war, das wissen nur die Häftlinge; die Ermordeten
können es uns nicht sagen -, gerade deshalb müssen wir
daran erinnern und gemeinsam immer neu nach einer Sprache gegen das
Vergessen suchen.
Die verpflichtende Erinnerung an die nationalsozialistischen
Verbrechen ist Teil unserer moralischen und politischen
Identität. Unser Grundgesetz verpflichtet uns, die Würde
des anderen, die Würde des Menschen, zum unbedingten
Maßstab unseres Handelns zu machen. Es geht eben nicht nur um
Vergangenheit, es geht nicht um - richtige oder falsche -
Schuldzuweisungen, sondern um die aus der beschämenden
Erinnerung erwachsende Verantwortung in der Gegenwart und für
die Zukunft.
Im Blick darauf gibt es aktuellen Anlass zur Beunruhigung und zu
erneuertem Engagement: Rechtsextremistische Einstellungen sind in
Teilen der Gesellschaft fest verankert; das müssen wir seit
vielen Jahren beobachten, so bitter es ist. Rechtsextreme Politiker
haben jüngst in einem deutschen Parlament gewagt, die Barbarei
des Holocaust zu relativieren und den Opfern den Respekt zu
verweigern. Die Abgeordneten der NPD in Dresden haben ihre Maske
fallen lassen und es ist für jeden endgültig sichtbar: Es
sitzen wieder Neonazis in einem deutschen Parlament. Das ist eine
Schande - und es ist eine Herausforderung für uns alle. Das
demokratische Deutschland ist nicht wehrlos. Ich meine damit nicht
allein die Macht des Staates und die Pflichten der Justiz. Als
Demokraten müssen wir auch und vor allem die politische
Auseinandersetzug mit den Rechtsextremen suchen und diese
Auseinandersetzung müssen wir offensiv und überzeugend
angehen. Wir dürfen denen unsere Sprache und unsere
Plätze nicht überlassen.
(Beifall)
Wegschauen, ignorieren, schweigen, all das dürfen wir
Demokraten nicht!
Und eines ist besonders wichtig: Wir Politiker müssen
diejenigen unterstützen, die sich tagtäglich couragiert
und mutig den Rechtsextremen entgegenstellen. Ob
Bürgerinitiativen oder Jugendgruppen, sie brauchen unsere
Aufmerksamkeit und unsere finanzielle Unterstützung; denn sie
treten für unsere Demokratie und ihre unverbrüchlichen
Werte ein und sind dabei häufig selbst Opfer rechtsextremer
Gewalt.
In diesen Tagen und Wochen erinnern sich viele Menschen in unserem
Land an das Ende des Krieges und an die Leiden des Krieges. Meine
nachdrückliche Bitte ist: In Dresden und überall in
Deutschland müssen wir verhindern, dass die Erinnerung an die
deutschen Opfer und die Trauer über das Leid auch der
Deutschen missbraucht wird für neonazistische Propaganda. Es
ist verständlich und legitim, mit Trauer an das eigene Leiden
zu erinnern. Aber das darf niemals und nirgendwo dazu dienen, die
Naziverbrechen zu relativieren und zu beschönigen! Dem zu
widerstehen und zu widersprechen ist Sache aller anständigen
Deutschen, aller Bürger.
Dass Deutsch nie mehr die Sprache des Mordes, des Antisemitismus,
der Menschenfeindlichkeit, der Lüge und des rassistischen
Vorurteils wird - dazu verpflichtet uns der heutige Gedenktag
für immer.
(Beifall)