18.03.2005 - Rede von Wolfgang Thierse, SPD zu "15 Jahre
Volkskammerwahl" am 18. März 2005 im Plenum
Wolfgang Thierse (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Beginn
dieser Debatte haben wir Anlass zu erinnern. Heute vor 15 Jahren,
am 18. März 1990, machten die Bürgerinnen und Bürger
der DDR eine ganz neue Erfahrung: Zum ersten Mal war ihre Stimme,
war ihr Kreuz auf einem Wahlschein etwas wert. Gewählt wurde
die 10. und zugleich letzte Volkskammer und das war endlich eine,
die diesen verpflichtenden Namen verdiente.
Die Mehrzahl der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger
erlebte den Wahlsonntag nicht nur als ein historisch, sondern auch
als ein biografisch bedeutsames Ereignis. Nach knapp sechs
Jahrzehnten und zwei Diktaturen konnten sie endlich in einem
demokratischen Verfahren auf die politische Gestaltung ihres Landes
und auf seine Zukunft Einfluss nehmen. Wofür sich die endlich
mündig gewordenen Bürgerinnen und Bürger an diesem
Tag entschieden, ist bekannt: für die parlamentarische
Demokratie und für die deutsche Einheit.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der
CDU/CSU und der FDP)
Dieser 18. März war kein Geschenk, keine himmlische
Fügung, sondern ein hart errungenes Ereignis der friedlichen
Revolution vom Herbst 1989. Was Wählengehen im Alltag der
Diktatur bedeutete, war noch nicht vergessen. Nur wenige Monate
zuvor, am 7. Mai 1989, hatte die letzte von der SED inszenierte
Scheinwahl stattgefunden - eine Scheinwahl im doppelten Sinne des
Wortes: Die Wähler falteten ihren Wahlschein und steckten ihn
in die Urne. Das war schon alles. Wirklich zu entscheiden hatten
sie nichts. Was zählte, war allein der äußere
Anschein eines Wahlverfahrens. Wer es wagte, eine Wahlkabine
aufzusuchen, wurde misstrauisch beäugt; er machte sich
verdächtig, unlautere Absichten zu hegen, aus der Reihe zu
tanzen, provozieren zu wollen. Ein absurdes Verfahren.
Doch die Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 verdienen es, dass wir an
sie erinnern, denn etwas Wesentliches war dabei anders als sonst.
Am Abend dieses Tages gingen überall im Lande viele von jenen,
die das Zettelfalten satt hatten, in die Wahllokale, beobachteten
die Auszählung und notierten die Ergebnisse. Danach trafen sie
sich zum gemeinsamen Nachrechnen, die Berliner beispielsweise in
der Elisabethkirche in Mitte. Sie addierten die Einzelergebnisse
und verglichen ihre Zahlen mit dem offiziellen Ergebnis. Was kam
heraus? Schon in einem einzigen Berliner Stimmbezirk war die Zahl
der Nichtwähler und der Menschen, die mit Nein gestimmt
hatten, weitaus größer, als das offizielle Endergebnis
für die ganze Stadt behauptete. Im offiziellen Wahlergebnis
waren aus Nichtwählern Wähler geworden und aus
Neinstimmen Jastimmen. Was ohnehin viele geahnt hatten, wurde nun
zwar nicht amtlich, aber es sprach sich schnell herum: Das von Egon
Krenz verkündete Wahlergebnis - 98,89 Prozent Zustimmung - war
gefälscht und für diese Fälschung gab es
Augenzeugen, gab es Beweise.
Zivilcourage verjährt nicht. Wir haben allen Grund, jenen
mutigen Frauen und Männern aus Bürgerrechts- und
Kirchenkreisen unseren Respekt zu bekunden.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der
CDU/CSU und der FDP)
Sie haben dazu beigetragen, die von der DDR in Anspruch genommene
Legitimität zu untergraben. Sie haben die Verdorbenheit der
Diktatur anschaulich gemacht und nicht wenige Menschen zum
Nachdenken und Umdenken angeregt. Diese und weitere Aktionen der
Bürgerbewegung trugen im Vorfeld der friedlichen Revolution
dazu bei, dass der 18. März 1990 möglich wurde, jener
Tag, an dem die Forderungen der Demonstranten vom Herbst 1989 ihre
demokratische Legitimation erhielten.
Die Wahl vom 18. März markiert einen wichtigen Wendepunkt. Sie
beendete die revolutionäre Phase und eröffnete die
parlamentarische. Aus Basisgruppen und Bewegungen waren Parteien
geworden. Aus einfachen Bürgerinnen und Bürgern, die eben
noch Erstwähler waren - sie durften erstmals ein
demokratisches Parlament wählen -, wurden Abgeordnete,
Staatssekretäre, Minister. Nicht wenige sind noch heute in der
Politik, auch hier im Deutschen Bundestag. Ich begrüße
auf der Tribüne Sie und euch, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Volkskammer, besonders herzlich.
(Beifall im ganzen Hause)
Die 10. Volkskammer war im besten Sinne des Wortes eine Schule der
Demokratie und zugleich ein Arbeitsparlament. Es ging bis an die
Grenzen der individuellen Belastbarkeit. Wir Abgeordneten
praktizierten gewissermaßen aus dem Stand heraus, doch
außerordentlich motiviert die Spielregeln und
Verfahrensweisen der Demokratie und sahen uns zugleich einer
Fülle von Problemen gegenüber. Ein funktionsfähiges
parlamentarisches Regierungssystem musste in Gang gesetzt werden,
um den neuen Staat handlungsfähig zu machen. Die Politik
musste Legitimität und Kalkulierbarkeit in einem Land
gewinnen, dessen Wirtschaft zusammenbrach, dessen Versorgung kaum
noch gewährleistet werden konnte, dessen Bevölkerung mit
Abwanderung drohte.
Der Souverän hatte dem Parlament einen klaren Auftrag erteilt:
die Herstellung der deutschen Einheit. Auch wenn manche
Legendenerzähler heute anderes behaupten: An politischen
Experimenten war der Souverän nicht sonderlich interessiert.
Die Frage war nur, auf welchem Weg dieser Wählerauftrag zu
erfüllen war, nach Art. 23 oder nach Art. 146 des
Grundgesetzes. Die ausgehandelte Formel lautete dann: zügiger
Beitritt, aber zuvor Verhandlungen. Dies war dann auch in der Tat
der einzig realistische Weg einer schnellen Überwindung der
deutschen Teilung im Angesicht des immer weiter voranschreitenden
Zusammenbruchs der DDR und des damit einhergehenden Verlustes an
politischer Gestaltungsmöglichkeit. Unsere
Verhandlungsposition war nicht immer die beste. Doch es bleibt ein
Verdienst der 10. Volkskammer und der Regierung unter
Ministerpräsident de Maizière, darauf beharrt zu haben,
dass vor der Vereinigung außenpolitische und vertragliche
Regelungen erreicht werden müssen, dass die Bodenreform und
der redliche Erwerb von Eigentum Bestand haben müssen.
Nur sechs Monate hatte die Volkskammer Zeit, die staatliche Einheit
in Selbstbestimmung und in Anerkennung unserer historischen
Verantwortung zu vollenden. Der Regelungsbedarf war gewaltig. Ich
erinnere nur an einige der wichtigsten Arbeitsfelder: Wirtschafts-,
Währungs- und Sozialunion, Rechtsangleichung,
Stasi-Unterlagen-Gesetz. Der Beitrittsbeschluss erging erst nach
Abschluss des Einigungsvertrages und der
Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Wir wollten einvernehmlich mit den
Siegermächten und Nachbarn in die Einheit gehen. Ich bin bis
heute außerordentlich dankbar dafür, dass uns dies
gemeinsam gelungen ist.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der
CDU/CSU und der FDP)
Natürlich, es hat Fehler, Versäumnisse,
Überforderung gegeben. Wie sollte es auch anders sein? Es gab
kein Lehrbuch, in dem beschrieben wird, wie ein demokratisches
Parlament sich selbst überflüssig macht, sich selbst und
zugleich seinen Staat abschafft, und das auch noch zu akzeptablen
Bedingungen.
Was in der 10. Volkskammer erreicht wurde, war ohne Vorbild. Es
konnte nur gelingen, weil wir Unterstützung erhielten: aus den
alten Bundesländern, von der Bundesregierung, von den
Schwesterparteien und -fraktionen des 11. Deutschen Bundestages.
Auch daran sei heute erinnert. Auch dafür sage ich als einer,
der damals mit dabei war, herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der
CDU/CSU und der FDP)
Trotz der Kürze ihres Mandats hat die frei gewählte
Volkskammer des Jahres 1990 ein bedeutendes Kapitel in der
Geschichte des deutschen Parlamentarismus geschrieben. Sie war eben
mehr als nur ein Übergangsparlament, mehr als ein
Lückenfüller zwischen Diktatur und Demokratie. Ihr ist es
gelungen, in das vereinte Deutschland eine auf die friedliche
Revolution der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger
begründete Demokratie mit eingebracht zu haben. Das ist eine
große, eine historische Leistung und ich wünschte mir,
dass sie in der Öffentlichkeit mehr als bisher wahrgenommen
und gewürdigt wird.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der
CDU/CSU und der FDP)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so viel Erinnerung, so viel
Würdigung musste heute sein.
Nun zum Heute: Vor einigen Tagen las ich eine kurze Agenturmeldung,
die es in sich hatte. Nach einer Untersuchung der TU Dresden - es
wurden 1 835 Menschen in Deutschland befragt - vertrauen nur rund 4
Prozent der Deutschen den Parteien und 11 Prozent dem Bundestag.
Dagegen glauben 44 Prozent der Befragten dem
Bundesverfassungsgericht, 40 Prozent der Polizei und 31 Prozent der
Justiz. Auch Medien wie Zeitungen mit 14 Prozent und Fernsehen mit
15 Prozent lagen noch vor Parlament, Regierung und Parteien.
Professor Patzelt resümiert: "Wer Parteien wenig vertraut, hat
auch wenig Zutrauen zum Parlament."
Das ist ein dramatischer Vertrauensverlust gegenüber der
Demokratie und ihren Institutionen und Akteuren, und das 15 Jahre
nach dem wunderbaren demokratischen Aufbruch im Osten Deutschlands,
15 Jahre nach dem Glück der Wiedervereinigung. Dafür gibt
es gewiss sehr verschiedene Gründe: ohne Zweifel Fehler und
Fehlverhalten von Politikern, die Härte des wirtschaftlichen,
des sozialen, des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland seit
1989 - eines Wandels, bei dem es nicht nur Sieger gibt -, die
Größe der Probleme und die Langsamkeit, mit der wir sie
zu lösen imstande sind, die Wahrnehmung einer zunehmenden
Diskrepanz zwischen dem Tempo und der Reichweite ökonomischer
Prozesse und Entscheidungen einerseits und der Langsamkeit und
Begrenztheit demokratischer politischer Prozesse und Entscheidungen
andererseits.
Zahlreiche Studien belegen zudem, dass das Vertrauen in die
Demokratie und die Zufriedenheit mit ihr in Ostdeutschland noch
geringer und labiler sind als im Westen Deutschlands. Für eine
nicht geringe Zahl von Menschen bedeuteten die Vereinigung, der
Gewinn der Demokratie und die Einführung der sozialen
Marktwirtschaft, den Arbeitsplatz zu verlieren, lange Jahre
arbeitslos zu bleiben und schließlich die Zukunft zu
fürchten. Die Demokratie, das Ende der DDR, bedeutet für
diese Menschen rückblickend nicht Chance, sondern Risiko und
letztendlich Verlust einer sicher geglaubten Existenz.
Diese existenzielle Erfahrung prägt auch junge Leute - vor
allem in ländlichen Regionen Ostdeutschlands -, die unsicher
sind und nicht wissen, wie ihre Zukunft aussehen wird. Es ist eben
besorgniserregend, dass offenbar immer mehr Menschen Politikern und
demokratischen Institutionen nicht mehr zutrauen, die Probleme zu
lösen, egal ob im Bund, im Land oder in der Kommune.
Mitarbeiter von Initiativen, die sich gegen Rechtsextremismus
engagieren, berichten, dass sich mancherorts regelrecht eine
parlaments- und politikfeindliche Stimmung ausbreitet. Dort werde
es für Kommunalpolitiker zunehmend schwerer, die Werte der
Demokratie zu verteidigen und offen für sie zu streiten. Das
ist ein brisantes Stimmungsbild, das selbstverständlich nicht
auf den gesamten Osten Deutschlands zutrifft. Aber es sind
Entwicklungen in einzelnen Regionen, die wir ernst nehmen und auf
die wir gesellschaftliche Antworten finden müssen. Ich
plädiere sehr dafür, neben allen notwendigen
wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Anstrengungen, die
getan werden müssen, auch die politische Bildung, das Werben
und Überzeugen für die freiheitliche und pluralistische
Demokratie deutlich zu verstärken.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der
FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Neben allen Anstrengungen, die wir unternehmen, um Perspektiven
für den Osten zu entwickeln, und allem notwendigen Streit
unter den Demokraten darüber gehört der elementare Streit
für unsere Demokratie dazu.
Lassen Sie mich zum Schluss Klaus von Dohnanyi zitieren. Er sagte
gestern in einem Interview, die Verdrossenheit in Deutschland sei
wohl auch deshalb so groß, weil vergessen werde, welche
Leistungen Deutschland seit der Wiedervereinigung vollbracht habe.
Er formuliert das mit drastischen Zahlen: So sei die Zahl der
Erwerbstätigen seit 1989 in Großbritannien um knapp 2
Millionen gestiegen, in Frankreich um rund 3 Millionen, in
Deutschland dagegen habe der Zuwachs an Erwerbstätigen rund 10
Millionen betragen. Klaus von Dohnanyi wörtlich:
Da ist natürlich die frühere DDR dazugekommen. Dort gab
es ja für eine Marktwirtschaft kaum konkurrenzfähige
Arbeitsplätze.
Er sagt weiter, auch die öffentliche Verschuldung könne
sich im Vergleich mit anderen Ländern sehen lassen.
Deutschland halte sich auf dem Niveau der USA, Frankreichs und
Österreichs, weit unterhalb des Verschuldungsniveaus
Italiens.
Und dabei haben wir zugleich mit mehr als 1 Billion Euro
Ostdeutschland aufgebaut.
Er hat Recht. Neben vielen Problemen im Osten Deutschlands gibt es
auch genügend Erfolgsgeschichten Ost: von der erneuerten
Infrastruktur über die Autoindustrie bis zu den
Universitäten und Hochschulen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie
bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir treten nicht dem Paradies bei, aber auch nicht der
Hölle.
Das habe ich vor 15 Jahren in einer Volkskammerdebatte gesagt. Ich
glaube, ich habe Recht behalten.
(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN - Beifall bei Abgeordneten der FDP)