29.09.2005 - Rede des Bundestagspräsidenten Wolfgang
Thierse zur Eröffnung des Uferwegs entlang der Spree und des
Mauermahnmals im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus am 29. September
2005
Es gilt das
gesprochene Wort
Wir als Anlieger freuen uns, dass der Uferweg am
Marie-Elisabeth-Lüders-Haus endlich fertig gestellt ist. Damit
sind die Arbeiten an den Außenanlagen des Parlamentsviertels
abgeschlossen, alle Gebäude sind fußläufig
erreichbar, und auch der Spreeplatz, den der Architekt Stephan
Braunfels zwischen Paul-Löbe- und
Marie-Elisabeth-Lüders-Haus konzipiert hat, ist
vollendet.
Mit dem fertig gestellten Uferweg übergeben wir aber nicht nur
die Außenanlagen des Parlamentsviertels der
Öffentlichkeit, sondern ermöglichen auch den Zugang zu
einem Teil des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses, das den
Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages beherbergt, die nach
Washington und Tokio drittgrößte Parlamentsbibliothek
der Welt, das Archiv sowie einen Kunst- und Ausstellungsbereich,
der ebenfalls für die Öffentlichkeit zugänglich ist,
beherbergt.
Im Untergeschoss des Lüders-Hauses steht das Mauermahnmal, das
ab heute zu besichtigen ist. Der Künstler Ben Wargin hatte die
Idee dazu. Er sicherte Teile der so genannten Hinterlandmauer vor
den Baumaßnahmen, und der Architekt Stephan Braunfels nahm
sofort den Vorschlag auf, ein dauerhaftes Mahnmal in das
Gebäude zu integrieren: Die einzelnen Mauersegmente, in ihrem
ursprünglichen Verlauf stehend, sind mit Jahreszahlen und der
Anzahl der bisher bekannten und gesicherten Todesfälle
versehen.
Allein an der Berliner Mauer kamen über 230 Menschen ums
Leben, an der innerdeutschen Grenze waren es über 1.000: Sie
wurden von DDR-Grenzsoldaten erschossen, sie ertranken, sie starben
an Fahrzeugsperren, sie stürzten aus selbst gebauten
Fluggeräten oder von Dächern in den Tod. An das Schicksal
dieser Opfer wollen wir hier an einem authentischen Ort
erinnern.
Fast drei Jahrzehnte war die Berliner Mauer das weithin sichtbare
Monument der Teilung Deutschlands und der Teilung der Welt. Von
Anfang an war sie steinerne Metapher und unübersehbares Symbol
für einen politischen Zynismus, der vor menschlichem Leid
keinen Halt macht. Inzwischen ist ihr Verlauf im Stadtbild nur noch
schwer rekonstruierbar. Deshalb ist es umso wichtiger, gerade
inmitten des Parlamentsviertels an dieses Unrecht zu erinnern. Und
ich finde, dies gelingt auf eine sehr eindringliche Weise: wie ein
schmerzhafter Fremdkörper schneiden die Mauersegmente in die
Architektur ein - und hinterlassen eine Wunde.
Das Mauermahnmal erinnert nicht nur an die Leiden und den
Schrecken, der mit der Mauer verbunden war. Es erinnert uns auch an
die Selbstbefreiung der Ostdeutschen, an ihren grandiosen Beitrag
zur Geschichte der Demokratie in unserem Land. Deshalb
schließe ich mit der Hoffnung, dass das Parlamentsviertel in
seiner spezifischen Gestaltung von allen Besuchern so wahrgenommen
wird wie es gemeint ist: als ein Ort, der Transparenz und
Offenheit, Gemeinsinn und Freiheit als Grundlagen der Demokratie
verkörpert und der verdeutlicht, dass diese Werte ein
wichtiges Gut sind, die wir immer wieder auf's Neue mit Leben
füllen und verteidigen müssen.