29.09.2005 - Rede des Präsidenten des Deutschen
Bundestages, Wolfgang Thierse, zur Eröffnung der Ausstellung
"Nationalschätze aus Deutschland - Von Luther bis Bauhaus" in
der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland,
Bonn am 29. September 2005
Es gilt das
gesprochene Wort
"Laut einer Forsa-Umfrage reisen 15 Jahre nach dem Mauerfall fast
60 Prozent aller Westdeutschen "selten oder nie" in die neuen
Bundesländer. Die Neugier der ersten Jahre scheint verflogen.
Dabei ist es doch heute so einfach, in den östlichen Teil
Deutschlands zu gelangen - ohne Zwangsumtausch und Grenzschikanen.
Heute gewinnt man leicht den Eindruck, den Menschen in den alten
Bundesländern genügt die Gewissheit, sie könnten
dorthin fahren. Wenn sie es tatsächlich einmal tun, dann geht
es an die Ostsee oder nach Berlin. Von Städten wie Halle,
Altenburg, Görlitz und Chemnitz wissen viele nur, dass sie
"drüben" liegen, aber nicht, warum man sie besuchen
sollte.
Dabei gibt es Antworten genug. In den neuen Bundesländern
liegen zentrale Orte der gemeinsamen kulturellen Identität
Deutschlands. Aus den Schatzkammern an den Höfen von
Fürsten und Königen entwickelten sich museale Sammlungen,
die den Grundstein für heute weltberühmte
Kulturstätten legten. Im 19. Jahrhundert entstanden aus einem
wachsenden Interesse an außereuropäischen Kulturen und
an den Naturwissenschaften Fachmuseen zur Mineralogie,
Anthropologie und Ethnographie oder Spezialsammlungen wie das
Musikinstrumenten-Museum in Leipzig. Fast zeitgleich gründeten
Bürger in Leipzig, Chemnitz und auf der Moritzburg in Halle
Museen, die junge Künstler unterstützten.
Von den Kulturstätten in Dresden, Leipzig, Weimar, Potsdam und
Berlin hat man wohl im Rheinland schon gehört. In den
nächsten Wochen präsentieren hier in Bonn aber auch
weniger bekannte, doch nicht minder bedeutsame Einrichtungen ihre
Kulturschätze. Engagierten Kuratoren und Bürgern ist es
zu verdanken, dass in Stralsund, Schwerin, Eisenach und vielen
anderen Städten mehr als reine Ausstellungsorte zu finden
sind, sondern zugleich bedeutsame Lernorte und Stätten
lebendiger Kultur. Ein gutes Beispiel sind die Kunstsammlungen
Chemnitz. Das Haus beherbergt nicht nur die Werke der Dresdner
Romantik und des deutschen Impressionismus, sondern ist auch
Veranstaltungsort für Konzerte, Lesungen und Symposien.
Dafür wurde es von der Stiftung "Lebendige Stadt" mit dem
Stiftungspreis 2003 für das beste Museumskonzept
ausgezeichnet. In der Begründung hieß es, den
Kunstsammlungen Chemnitz sei es in den vergangenen Jahren
beispielhaft gelungen, eine Phase optimistischen Wiederaufbruchs
einzuleiten.
Die Ausstellung "Nationalschätze aus Deutschland" schlägt
einen weiten Bogen über fast 500 Jahre Kulturgeschichte.
Gemälde, Skulpturen, literarische und musikalische Werke,
Pretiosen und Kuriositäten machen die verschiedenen Epochen
sinnlich erfahrbar. Die Gemälde von Cranach bis Feiniger, die
musikalischen Einspielungen von Bach und Händel, die
Skulpturen von Lehmbruck, der filmische Ausblick auf Gartenbaukunst
in Potsdam, Bad Muskau oder Branitz - all das vermittelt dem
Besucher einen Eindruck des kulturellen Reichtums und der
intellektuellen Vielfalt unseres Kulturerbes. Ein noch sinnlicheres
Erlebnis hat man wohl nur vor Ort - in den
Fürst-Pückler-Parks und in Sanssouci oder beim Besuch
einer Aufführung der Matthäus-Passion oder der
Wassermusik.
Zwischen dem 16. und dem beginnenden 20. Jahrhundert lag - trotz
mancher Rückschläge - eine künstlerisch und
wissenschaftlich äußerst fruchtbare Zeit. Es war die
Zeit, in der die entscheidenden Entdeckungen und Entwicklungen
stattfanden, die unsere Kultur - die europäische Kultur - bis
heute prägen. Ich spreche bewusst von der europäischen,
nicht von der deutschen Kultur, denn diese Ausstellung zeigt, dass
Kunst und Kultur in Europa eben nicht in nationaler Isolation
entstanden, sondern sich über Grenzen hinweg beeinflussten und
befruchteten. Es gibt keinen Anlass zu nationaler
Überheblichkeit.
Bei der Präsentation der Kulturschätze aus Deutschland
hier in der Bundeskunsthalle wird vielmehr deutlich, dass unsere
Kultur in ihren großen und glücklichen Phasen stets
Einflüsse aus West und Ost, Süd und Nord aufgenommen und
sie in immer neuen Anstrengungen und geglückten Symbiosen zu
eigener Kultur geformt hat. In den großen und
glücklichen Phasen der deutschen Geschichte hat unsere Kultur
eine außerordentliche Integrationskraft bewiesen. Die
Hoch-Zeiten der deutschen Kultur waren immer ihre Hochzeiten mit
anderen Kulturen.
Die Parks und Gärten in Dessau-Wörlitz - mittlerweile von
der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt - in Branitz und Bad
Muskau orientierten sich am englischen Vorbild und an der
chinesischen Gartenbaukunst. Händel und Bach haben durch ihr
Werk nicht nur die europäische Musikgeschichte entscheidend
beeinflusst, sondern wurden auch von ihr geprägt. Und fragen
wir uns: Was ist die eigentliche Bedeutung von Goethe, warum ist er
eine Gestalt von Weltgeltung, dann liegt die Antwort doch auf der
Hand: Weil er unterschiedliche Einflüsse aus aller Welt
aufgesogen hat, um daraus deutsche Sprache und Kunst zu formen.
Diese Symbioseleistung zeichnet sein Werk aus. Es gab
unglückliche Zeiten, die in fatale Irrwege führten, keine
Frage. Aber auf die Integrationsleistungen unserer Kultur
können wir kulturelles Selbstbewusstsein gründen.
Deutsch denken, das war bis ins 19. Jahrhundert hinein das
Gegenteil von Borniertheit: Es bedeutete Offenheit über die
engen Landesgrenzen hinweg und die Freiheit, Eindrücke von
überallher aufzunehmen. Deutschland hat damals seine Lage in
der Mitte des Kontinents zu einem Vorteil gemacht. Die Blüte
der deutschen Kultur entfaltete sich in einer Zeit, als Deutschland
in Klein- und Kleinststaaten zersplittert war. Im Deutschen war
"Nation" einfach kein politischer Begriff; man dachte dabei nicht
an Schlachten, Eroberungen, Kolonien - ein durchaus sympathischer
Zug, auch im Nachhinein betrachtet. In der Staatsferne, auch in der
Grenzenlosigkeit der deutschen Kultur lag gerade ihr Reiz. Kein
Fürstenhof konnte der deutschen Geisteswelt vorschreiben, wie
sie sich zu entwickeln hatte - und selbst in den schlimmsten Tagen
des Absolutismus fand sich irgendwo in Thüringen ein
Duodezfürst, der den größten deutschen Dichtern
Unterschlupf bot.
Auch die Sammler orientierten sich nicht an der aktuellen
politischen Geographie, sondern an geschichtlichen und
kulturgeschichtlichen Zusammenhängen. Und die reichten nicht
nur über die Grenzen von Fürstentümern, sondern auch
über die Grenzen Deutschlands, teilweise sogar Europas hinaus.
Die vielfältigen und intensiven Beziehungen des
deutschsprachigen Raumes zu den Kulturen anderer Völker werden
in zahlreichen Sammlungen sofort sichtbar - in den Ethnographischen
Sammlungen Sachsen mit seinen Standorten in Dresden, Leipzig und
Herrnhut, im Staatlichen Museum Schwerin mit seiner berühmten
Sammlung niederländischer Malerei des 17. Jahrhunderts und in
der auf Bernhard von Lindenau zurückgehenden umfassenden
Kollektion frühitalienischer Malerei in Altenburg, um nur
einige Beispiele zu nennen. Auf diese Geschichte, auf die Tradition
der kulturellen Integration können wir heute aufbauen.
Leider wurde im Kaiserreich das, was deutsche Kultur einmal
ausmachte, in sein Gegenteil verkehrt: Als die Deutschen ihren
Staat bekamen, wurde der so schön offene, kulturelle Begriff
von der Nation plötzlich zu einem Mittel der Ausgrenzung. Wer
Deutscher sein wollte, musste bestimmte Merkmale aufweisen,
kulturelle zunächst, später so genannte "rassische".
Opfer dieser unglücklichen Kreuzung wurden schon im
Kaiserreich die Juden. Sie waren bereit, sich in die deutsche
Staatsnation einzufügen, wurden aber
zurückgestoßen, ausgegrenzt und später
schließlich ausgerottet. Der Holocaust war kein Verbrechen im
Namen der Kulturnation, sondern eines im Namen der "nordischen
Rasse". Aber der nationale Kulturbegriff hatte die Ausgrenzung
vorbereitet.
Die Ausstellung "Nationalschätze aus Deutschland" endet beim
Bauhaus. Erst in Weimar und später in Dessau steht das Bauhaus
für die Demokratisierung der Architektur. Form und Funktion
werden als neue Einheit propagiert und die Kunst bereitet das "Ende
der Kunst" vor, in dem alles möglich wird. Ein wirkliches Ende
der Kunst aber wird eingeleitet, als die Nationalsozialisten das
Bauhaus 1932 aus Dessau vertreiben und ein Jahr später in
Berlin dessen Auflösung erzwingen. In Dessau entsteht nach
1933 ein Theater, dessen Architektur den Gegenentwurf zum Bauhaus
bedeutet: Ein hierarchisch gegliederter Monumentalbau anstelle des
lichtdurchfluteten Gropiusbaus.
Das Ende des Baushauses war nicht der Schlusspunkt deutscher
Kulturgeschichte, aber mit dem Ende des Bauhauses setzte eine
Zerstörung von Kultur ein, deren Folgen wir bis heute nie ganz
überwunden haben. Die Hitlerbarberei hat eine jahrhundertealte
jüdische Kultur in Deutschland vernichtet und einen
furchtbaren Krieg vom Zaun gebrochenen, in dem große Teile
unseres kulturellen Erbes unwiederbringlich verloren gingen.
Darüber legt leider auch die Geschichte der Sammlungen, die
sich hier präsentieren, Zeugnis ab. Keine ist im Zweiten
Weltkrieg unverschont geblieben. Allein das Völkerkundemuseum
Leipzig hat ein Fünftel seiner Sammlung für immer
verloren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Zeiten der nationalen Teilung,
verlor im Westen Deutschlands die Rolle der ostdeutschen
Kultureinrichtungen immer mehr ihre Verankerung im kollektiven
Bewusstsein. 15 Jahre nach Wiedererlangung der staatlichen Einheit
erinnert die Ausstellung "Nationalschätze aus Deutschland",
dass viele unserer identitätsstiftenden Orte in den neuen
Ländern liegen. Sie leistet so einen Beitrag zur geistigen
Wiedervereinigung Deutschlands.
Zu Zeiten der deutschen Spaltung war das gemeinsame kulturelle Erbe
ein einigendes Band. Sie erinnern sich: Wir führten gerne den
Begriff der Kulturnation im Mund. Er war notwendig und wichtig, um
eben genau diese Spaltung zu kontrastieren, zu kompensieren, sie -
zunächst einmal ideell und moralisch - zu
überwinden.
Und heute? Es gibt viele Menschen, die sagen: Da wir eine
Staatsnation geworden sind, bräuchten wir doch nicht mehr den
Überbau der Kulturnation. Ich halte aus Überzeugung
dagegen. Ich denke, unser Verständnis von Nation wird im
zusammenwachsenden Europa immer weniger von dem der Staatsnation
und immer stärker von dem der Kulturnation geprägt
werden. Eine Vielfalt gewachsener Kulturnationen auf dem
gemeinsamen Fundament der westlichen, demokratischen Werte - das
wäre ein europäisches Verständnis von Nation, das
nicht mit der Überheblichkeit des Nationalismus
liebäugelt. Dies wäre ein Begriff von deutscher Kultur,
der nicht der Aus- und Abgrenzung bedarf, der nicht ein Begriff der
kulturellen Feindschaft und Abwehr ist. Dies wäre eine
Tradition eines selbstbewusst-gelassenen, also europäisch
normalen Umgangs mit der eigenen kulturellen Identität, die
sich nicht zurück drängen und fixieren lässt auf die
Ängste des Identitätsverlusts. Denn sie setzt auf
Aufnahmebereitschaft, auf kulturelle Neugier, auf intellektuelle
Bereicherung.
Meine Damen und Herren,
ich habe eben über Kleinstaaterei gesprochen und meinte damit
längst vergangene Epochen deutscher Geschichte. Aber den
Vorwurf der Kleinstaaterei müssen wir uns in Deutschland heute
noch manchmal gefallen lassen - auch in der Kultur. Vor sieben
Jahren hat die Bundesregierung deshalb das Amt des
Kulturstaatsministers geschaffen und zumindest innerhalb der
Bundesregierung die Zersplitterung der Kulturkompetenzen
überwunden. Sie hat die Kultur vom Katzen- an den
Kabinettstisch geholt und auch die finanzielle Förderung
erheblich verbessert. Ergänzend hat das Bundeskabinett 2002
der Gründung einer "Kulturstiftung des Bundes" zugestimmt. Die
Kulturpolitik der Bundesregierung will ihre Wirkung nicht auf
Kosten des historisch verankerten Föderalismus entfalten. Aber
das Gedenken an einen Weltbürger wie Goethe lässt sich
nun einmal nicht einem einzigen Bundesland zuordnen. Die
Bundeskulturpolitik ergänzt deshalb bei Kulturprojekten von
überregionaler Bedeutung die Kulturförderung der
Länder.
Die Ausstellung "Nationalschätze aus Deutschland" ist auch ein
Ergebnis dieser Politik. Gleichzeitig wird deutlich, was die
Bündelung kultureller Kompetenzen bewirken kann. Die
Kulturstiftung des Bundes hat diese Ausstellung gefördert. Der
Initiative des damaligen Kulturstaatsministers Nida-Rümelin
ist das "Blaubuch" der so genannten kulturellen Leuchttürme in
den neuen Ländern zu verdanken. Es wurde in Abstimmung mit den
Kulturministern der ostdeutschen Länder von Professor Raabe
(ehemaliger Direktor der Herzog-August-Bibliothek in
Wolfenbüttel und der Franckeschen Stiftungen in Halle)
erarbeitet. Aus dem Blaubuch entstand die Konferenz nationaler
Kultureinrichtungen (in den neuen Ländern), deren Mitglieder
nun hier in der Bundeskunsthalle erstmals ihre einzigartigen
Schätze ausstellen.
Die 23 Sammlungen, die in der KNK zusammengeschlossen sind, sowie
die Staatlichen Museen zu Berlin/Stiftung preußischer
Kulturbesitz und die Stiftung Schloss Friedenstein Gotha sind an
dieser Ausstellung nicht nur als Leihgeber, sondern auch als
Mitveranstalter beteiligt. Stellvertretend für die KNK danke
ich ihren beiden Sprechern, Prof. Dr. Martin Roth und Hellmut
Seemann, für die Initiative zu diesem eindrucksvollen Projekt.
Ich möchte den Kuratorinnen und Kuratoren zu ihrer gelungenen
Arbeit gratulieren.
Ich wünsche der Ausstellung, dass sie viele Besucherinnen und
Besucher neugierig auf die einzigartigen Museen zwischen Stralsund
und Chemnitz, Eisenach und Bad Muskau macht - besonders auf
diejenigen, die noch nicht so bekannt sind."