18.10.2005 - Rede von Bundestagspräsident Dr. Norbert
Lammert bei der konstituierenden Sitzung des 16. Deutschen
Bundestags
Es gilt das
gesprochene Wort
"Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne - für mich
persönlich allerdings, das werden Sie gewiss verstehen, diesem
Anfang schon. Seit meiner ersten Wahl im Oktober 1980 gehöre
ich dem Deutschen Bundestag nun seit genau 25 Jahren an. Ich
weiß um die Bedeutung wie um die Grenzen des Amtes, in das
Sie mich heute gewählt haben, und ich bedanke mich für
das Vertrauen, das ich hoffentlich rechtfertigen kann. Ich bin ganz
überwältigt, geradezu erschüttert von dem
Vertrauensvorschuss, den Sie mir in dieses Amt mitgegeben
haben.
Mein besonderer Gruß gilt allen meinen Vorgängern in
diesem Amte - denen, die heute freundlicherweise gekommen sind, wie
denen, die leider nicht dabei sein können -, ganz besonders
aber Wolfgang Thierse, der dem Bundestag sieben Jahre als
Präsident gedient hat und dem ich für seine Arbeit,
sicher im Namen des ganzen Hauses, herzlich danken
möchte.
Mit Antje Vollmer, die dem Präsidium elf Jahre angehört
hat, danke ich zugleich allen Kolleginnen und Kollegen, die dem 16.
Deutschen Bundestag nicht mehr angehören und zum Teil
über viele Jahre, manchmal auffällig, in der Regel
gänzlich unspektakulär, ihre Arbeit für unser Land
geleistet haben. Schließlich will ich dem
Alterspräsidenten Otto Schily danken, der nun schon zum
zweiten Mal ein neu gewähltes Parlament routiniert und
souverän mit "ungewohnter Herzlichkeit", aber dem gewohnten
Hauch an Grandezza aus dem Wahlkampf, der hinter uns liegt, an die
Schwelle der gemeinsamen Arbeit geführt hat.
Mein herzlicher Gruß geht auch an alle Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Bundestages. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit
und ganz besonders freut mich, dass viele mir bereits signalisiert
haben, dass es ihnen ganz genauso geht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute konstituiert sich der 16.
Deutsche Bundestag. Er setzt sich anders zusammen als gemeinhin
erwartet, hat andere, knappere Mehrheitsverhältnisse zwischen
den Parteien, als manche erhofft und andere gefürchtet haben.
Selbst die meisten Wähler sind - sofern man Umfragen
überhaupt noch trauen darf - von dem überrascht, was sie
selbst entschieden haben.
Aber sie haben entschieden und sie erwarten, dass alle von ihnen in
diesen Bundestag gewählten Abgeordneten auf dieser Basis am
Wohl des Landes mitarbeiten - Regierung wie Opposition.
Etwa ein Viertel der Mitglieder des heute konstituierten
Bundestages ist erstmals ins Parlament gewählt. Gegenüber
dem Beginn der letzten, verkürzten Legislaturperiode hat sich
die Zusammensetzung des 16. Bundestages mit insgesamt rund 300
neuen Abgeordneten fast zur Hälfte verändert.
Kontinuität und Wandel - ein schöner Beleg für die
längst etablierten Mechanismen einer parlamentarischen
Demokratie. Dies gilt auch für den Wechsel im Amt des
Präsidenten und in der Zusammensetzung des
Präsidiums.
Heute beginnt eine neue Legislaturperiode, aber keine neue Ära
des Parlamentarismus. Auch ein Regierungswechsel gehört zur
Normalität der Demokratie, in der die Wähler und nicht
die Parteien darüber entscheiden, von wem sie
repräsentiert und regiert werden wollen. Er ist sicher kein
alltägliches Ereignis, aber gewiss nicht zu verwechseln mit
der Neuerschaffung der Welt. Es wird gewiss nicht alles anders
werden, aber hoffentlich manches besser.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Arbeit wie für
das Ansehen des Parlaments ist die Opposition im Übrigen nicht
weniger wichtig als die Regierung. Regiert wird überall auf
der Welt, von wem und unter welchen Bedingungen auch immer. Was ein
politisches System als Demokratie qualifiziert, ist nicht die
Existenz einer Regierung, sondern die Existenz eines Parlamentes
und seine gefestigte Rolle im Verfassungsgefüge wie in der
politischen Realität.
Hier schlägt das Herz der Demokratie oder es schlägt
nicht.
Das Parlament ist im Übrigen nicht Vollzugsorgan der
Bundesregierung, sondern umgekehrt ist Auftraggeber.
Gerade in Zeiten Großer-Koalitions-Mehrheiten ist das
Selbstbewusstsein des Parlaments gegenüber der Regierung
besonders gefordert.
Alle in diesen Bundestag gewählten Mitglieder haben das
gleiche Mandat, die gleiche Legitimation und unabhängig von
ihren späteren Rollenzuweisungen auf der Seite der Regierung
oder der Opposition prinzipiell die gleichen Rechte und Pflichten.
Die ungeschriebenen Rechte der Opposition, die große
Fraktionen ganz unangefochten für sich reklamiert haben,
müssen bei einer großen Koalition
selbstverständlich auch für die kleinen Fraktionen
gelten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, "Wir sind Deutschland" - nicht nur
als flüchtige Botschaft einer ehrgeizigen Kampagne. Wir sind
Deutschland, jeder Bürger dieses Landes, jeder auf seine
Weise. Aber dieses Haus, der Deutsche Bundestag, muss es auf ganz
besondere Weise sein. Er muss diesen Anspruch im Alltag
einlösen.
Der Bundestagspräsident ist der erste Repräsentant dieses
Hauses, nicht der Dienstvorgesetzte seiner Mitglieder. Deshalb
sollte man ihn auch nicht in eine solche Rolle drängen, wie
das zum Teil durch vom Parlament selbst beschlossene Regeln
geschieht. Erst kürzlich hat der 15. Bundestag zum
wiederholten Mal seine Verhaltensregeln fortgeschrieben, schon
unter dem Vorzeichen bevorstehender vorgezogener Neuwahlen. Manches
spricht nach meiner Überzeugung für einen zweiten,
ruhigen Blick und die Nachjustierung sowohl bei Lücken wie
auch bei Übertreibungen.
Ich teile persönlich ausdrücklich die Zweifel meines
Amtsvorgängers an der Weisheit der Regelung, den
Bundestagspräsidenten nicht nur zum obersten Hüter der
Parteienfinanzierung zu machen, sondern ihm zugleich die
Verpflichtung zur Verhängung von Sanktionen bei
Verstößen gegen die gesetzlichen Regeln aufzuerlegen. So
gut diese Regelung auch gemeint ist, in jedem konkreten Fall setzt
sie den Präsidenten dem Verdacht der Befangenheit
gegenüber den eigenen Parteifreunden oder der jeweiligen
politischen Konkurrenz aus.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, nach der
Geschäftsordnung des Bundestages hat der Präsident die
Würde und Rechte des Bundestages zu wahren, seine Arbeiten zu
fördern, die Verhandlungen gerecht und unparteiisch zu leiten
und die Ordnung im Hause zu wahren. Darum werde ich mich nach
Kräften bemühen. Aber ich werde es nicht immer jedem
recht machen können. Dafür bitte ich schon jetzt um
Einsicht oder um Nachsicht.
Die Wahrung von Ordnung und Würde des Parlamentes muss nicht
bedeuten, dass es steif, trocken und humorlos, also langweilig,
zugehen müsste. Aber neben der Leidenschaft für die
eigene Sache sollte immer auch der Respekt vor der anderen
Überzeugung und Persönlichkeit erkennbar sein.
Temperament ist erwünscht. Auch mit
Temperamentsausbrüchen sollten wir großzügig
umgehen. Aber es gibt Grenzen, die wir im Interesse des Ansehens
des Parlamentes und seiner Mitglieder wahren müssen. Wenn sich
jemand zum Beispiel veranlasst fühlte, auf den Spuren der
frühen wilden Jahre einer damals neuen parlamentarischen
Gruppierung die legendären Auftritte eines späteren
Außenministers zu kopieren - womöglich er selber - und
den amtierenden Präsidenten mit jener legendären
Formulierung zu beschimpfen, die mir im Augenblick scheinbar
entfallen ist, mit Verlaub, Herr Kollege, es müsste erneut
gerügt und mit einer Ordnungsstrafe belegt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, weder Parteien noch Parlamente,
weder Regierung noch Opposition befinden sich gegenwärtig auf
der Höhe ihres öffentlichen Ansehens. Es gibt viele
unzutreffende, aber auch manche berechtigte Kritik am Zustand
unseres politischen Systems. Darüber kann heute nicht
verhandelt werden. Aber es muss deutlich sein, dass wir diese
Kritik ernst nehmen und dass wir sie aufarbeiten; denn die
Bewältigung der großen Herausforderungen, vor denen
unser Land steht - andere Länder übrigens auch -, setzt
gerade angesichts weitreichender, vielfach unerwünschter
Veränderungen der gewohnten Lebensbedingungen vor allem eines
voraus: Vertrauen in die dafür verantwortlichen Institutionen,
Vertrauen in die Legitimation, in die Kompetenz und in die
Integrität der politischen Akteure.
"Was erhofft sich das deutsche Volk von der Arbeit des
Bundestags?", hat der damalige Alterspräsident des ersten
Deutschen Bundestages, der langjährige
Reichstagspräsident Paul Löbe, 1949 bei der
Konstituierung gefragt. Seine damalige Antwort könnte am
Beginn jeder neuen Legislaturperiode stehen: Daß wir eine
stabile Regierung, eine gesunde Wirtschaft, eine neue soziale
Ordnung in einem gesicherten Privatleben aufrichten, unser
Vaterland einer neuen Blüte und neuem Wohlstand
entgegenführen.
Knapper kann man es kaum sagen. In diesem Sinne sollten wir mit
Gottes Hilfe gemeinsam an die Arbeit gehen."